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Ai


Im Jänner 2022 stand für die tägliche Bibellese das Buch Josua auf dem Programm. Jos 7-8 erzählt davon, wie die Israeliten nach der Eroberung Jerichos den Weg ins Bergland erkunden und dabei auf die (vermutlich strategisch bedeutsame) Stadt Ai stoßen. Sie versuchen mit einem kleinen Sturmtrupp die Stadt durch einen Frontalangriff einzunehmen und scheitern kläglich. Die Verblüffung weicht der Bestürzung, diese der Verzweiflung: warum hat Gott die Israeliten den Feinden preisgegeben? Die Antwort: einer der Israeliten hat sich bei der Erstürmung Jerichos am gebannten Gut vergriffen (trotz Josuas eindringlicher Warnung Jos 6,18f), daher verwehrt Gott den Israeliten seine Hilfe und den militärischen Erfolg. Nachdem der Täter identifiziert und gesteinigt worden ist, unternehmen die Israeliten einen zweiten Anlauf zur Eroberung Ais. Doch diesmal trägt ihnen Gott auf, eine Kriegslist anzuwenden. Ein Teil des Heeres liegt in einem Hinterhalt. Der andere Teil greift an, zieht sich zum Schein zurück und lockt so die Feinde aus der Stadt. Die bisher versteckten Israeliten dringen in die offene Stadt ein, zünden sie an und greifen die feindlichen Truppen dann von hinten an. Das sich zurückziehende Heer der Israeliten wendet sich um. Die Aiiten werden in die Zange genommen und aufgerieben.

Ich wusste aus diversen Quellen (z.B. Bibelatlas) schon von der Diskussion um die Lokalisierung des Ortes Ai. Ich habe die neuerliche Lektüre zum Anlass genommen, dem Lokalisierungsproblem nachzugehen. Dabei habe ich mich weitgehend auf die einschlägigen Artikel in Wikipedia und WiBiLex beschränkt. Die Hauptarbeit steckt in der Karte. Koenens WiBiLex-Artikel enthalten dankenswerterweise Koordinaten mit Link auf Google Maps. Die Satellitenansicht bei Google Maps ist leider nach wie vor beklagenswert schlecht („Unschärfe mit Ansage“, s. das Youtube-Video Wer hot Israel zensiert?). Bessere Satellitenbilder bietet die Kartenseite der israelischen Regierung.

Der Name

Das hebr. Verbum עוה ʿwh bedeutet „verkehrt handeln, sich vergehen“, im Ni. „verkehrt sein, gekrümmt sein“, im Pi. (עִוָּה ʿiwwâ) kausativ „verkehren“, das Hi. hat teils die Bedeutung des Qal, teils die des Pi. Davon sind einige Nomina und Ortsnamen abgeleitet.

Die etymologische Zugehörigkeit einiger der Wörter (grauer Hintergrund) ist umstritten. Aber der Name der Stadt, die die Israeliten erst im zweiten Anlauf einnehmen konnten (Jos 7-8), wird heute allgemein als „Trümmerstätte, Ruinenhügel“ gedeutet. Zumindest zeigt die Verwendung mit Artikel, dass es ursprünglich wahrscheinlich ein Appellativum ist. Ai wird heute von der Mehrheit der biblischen Archäologen mit einem التل et-Tell genannten Hügel identifiziert. Dass der arab. Name die Identifikation stützen soll, wie Koenen behauptet, erscheint mit zweifelhaft. Denn arab. تل tall heißt nach Ausweis aller mir verfügbaren Wörterbücher (Giggei, Lane, Freytag, Steingass, Wehr, online Pons, Langenscheidt) nicht „Trümmerhügel“ (Koenen), sondern schlicht nur „Hügel, Erdhaufen“. Erst in der Fachsprache der Archäologen wird der Begriff Tell eingeengt auf „Siedlungsschutthügel“. Der arab. Name müsste denn von Jos 8,28 תֵּל־עֹולָם שְׁמָמָה tel-ʿôlām šemāmâ „Hügel/Schutthaufen der Verwüstung für immer“ herstammen, was Grintz mit guten Gründen bestreitet.
Ob die Namensvarianten ʿajjâ und ʿajjat dieselbe Ortschaft wie das Ai Josuas bezeichnen, ist nicht ganz klar. Sehr wahrscheinlich schon, aber dann befand sich die Siedlung nicht mehr auf et-Tell, das seit ca. 1050 v.Chr. verlassen war.

Mit Recht wendet etwa Grintz ein, dass es wenig plausibel ist, dass eine bewohnte Siedlung „Trümmer, Ruinen“ genannt wird. Sollte man also nicht annehmen, dass Ai etwas anderes bedeutet? Die Wiedergabe des Namens in der LXX mit Γαι, Αγγαι lässt die Frage aufkommen, ob man nicht ġajj als ursprünglich Form ansetzen muss. Vgl. עַזָּה ʿazzâ = Γάζα = غزة Ġazza. Arab. ġajjā heißt „hissen“, ġāja „äußerste Grenze, Äußerstes, Ziel“ (Wehr).

Die Lage


Bethel, Ai, Michmas.– Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA).– Quelle: OpenTopoMap.– Bearbeitung: einige arab. und hebr. Beschriftungen durch transkribierte ersetzt, neue hinzugefügt, verkleinert.

Ai liegt östlich von Bethel (Gen 12,8; Jos 7,2) und nördlich von Michmas (Jes 10,28). Die Angabe, dass es bei Bet-Awen liegt, hilft nicht weiter, weil es keine überzeugende Lokalisierung für Bet-Awen gibt (Koenen hält Chirbet el-Ḥudrīja für am wahrscheinlichsten), ja es nicht einmal klar ist, ob Bet-Awen ein eigener Ort ist (Koenen votiert für ja) oder nur ein anderer Name für Bethel (Jericke sagt eher non liquet). Bethel wird heute mit dem palästinischen بيتين Bêtîn gleichgesetzt (auf der OpenStreetMap-Karte بتين Bitîn geschrieben), das etwa 5 km nordnordöstlich von Ramallah, 16 km nördlich von Jerusalem liegt. (Das 2,5 km nordwestlich von Betin gelegene בֵּית אֵל bêt ʾel ist eine erst 1977 gegründete jüdische Siedlung.) Michmas wird meist mit dem Chirbet el-Ḥāra el-Fauqā (ח. אל־חרה אל־פוקא) am Nordwestrand des heutigen مُخماس Muḫmâs identifiziert. (Das 3 km ostnordöstlich von Muchmas gelegene מַעֲלֵה מִכְמָשׂ‎ maʿalê miḵmāś ist eine 1981 gegründete jüdische Siedlung.)

Eusebius von Caesarea (ca. 260/65-340) beschreibt in seinem Onomastikon die Lage von Ai so:

Ἀγγαί. κατὰ δυσμὰς Βαιθήλ. διεστήκασιν ἀλλήλλων οὐ πλεῖστον. Ha-Ai (Aggai): Im Westen von Bethel. Sie sind nicht sehr weit voneinander entfernt.
κεῖται δὲ ἡ Βαιθὴλ ἀπιόντων εἰς Αἰλίαν ἀπὸ Νέας πόλεως ἐν λαιοῖς τῆς ὁδοῦ ἀμφὶ τὸ δωδέκατον Αἰλίας σημεῖον. Bethel liegt, wenn man von Neapolis (= Nablus/Sichem) nach Älia (= Jerusalem) geht, auf der linken Seite des Weges, um den zwölften Meilenstein von Älia.
καὶ ἡ μὲν Βαιθὴλ εἰς ἔτι νῦν μένει, ἡ δὲ Ἀγγαὶ τόπος ἔρημος αὐτὸ μόνον δείκνυται. Und Bethel existiert bis jetzt noch, Ha-Ai aber wird nur als unbewohnter (wörtl.: einsamer, wüster) Ort gezeigt
καλεῖ δὲ αὐτὴν καὶ Γαὶ ἡ γραφή. Die Schrift nennt es auch Ai (Gai). [D.h. in der LXX kommt der Ortsname auch ohne Artikel Ha- vor, z.B. Jos 7,2.]

Hieronymus hat um das Jahr 390 das Onomastikon ins Lat. übersetzt und da und dort mit Erklärungen angereichert. Die Passage über Ai lautet:

Aggai ad occidentalem plagam vergit Bethelis, non multum ab ea distans. Ha-Ai liegt in westlicher Richtung von Bethel, nicht weit davon entfernt.
sita est autem Bethel euntibus Aeliam de Neapoli in laeva parte viae duodecimo circiter miliario ab Aelia; Bethel ist aber, wenn man von Neapolis nach Älia geht, auf der linken Seite des Weges gelegen, ungefähr am zwölften Meilenstein von Älia aus.
et usque hodie, parvus licet vicus, ostenditur. und bis heute wird es, wenn auch als kleines Dorf, gezeigt.
sed et ecclesia aedificata est ubi dormivit Iacob pergens Mesopotamiam, unde et ipsi loco Bethel, id est domus dei, nomen imposuit. Aber es ist auch eine Kirche gebaut worden, wo Jakob schlief, als er nach Mesopotamien aufbrach, weshalb er auch dem Ort selbst den Namen Bethel, das heißt Haus Gottes, beilegte.
Aggai vero vix parvae ruinae resident, et locus tantummodo demonstratur. Von Ha-Ai sind aber kaum geringe Ruinen übrig, und nur der Ort wird gezeigt.
et sciendum quod in Hebraeo G litteram non habet, sed vocatur Ai, scribiturque per elementum quod apud eos dicitur Ain. Und man muss wissen, dass es im Hebräischen den Buchstaben G nicht hat, sondern Ai genannt wird, und es mit dem Zeichen geschrieben wird, das bei ihnen Ajin heißt.

Zwölf röm. Meilen sind etwa 18 km. Betin liegt von der Jerusalemer Altstadt 16½ km Luftlinie entfernt. Heute liegt Betin rechts des Ramallah Bypass der Autobahn 60. Die antike „Hauptstraße“ aber verlief wohl an Bethel (= Betin) vorbei durch das heutige Ramallah hindurch und an Mizpa (= Tell en-Naṣbe im Süden von Ramallah?) vorbei.

Nach der Eroberungserzählung Jos 7-8 ist Ai (verglichen mit Jericho?) ein kleiner Ort (7,3 מְעַט הֵמָּה „sie [sind] ein Geringes = wenige“), kleiner jedenfalls als Gibeon (10,2). Es gibt in der Nähe der Stadt eine Stätte, die „die Brüche“ (7,5 הַשְּׁבָרִים) genannt wird, und daselbst einen Abhang. Nördlich der Stadt ist ein Tal (8,11). Ein Teil der israelitischen Krieger legt sich westlich der Stadt in einen Hinterhalt (8,9.12), dieser befindet sich „hinter der Stadt“ (8,2.4). Bedeutet das, dass das Tor (7,5) auf der Ostseite war?

Wenn es Jos 7,3 heißt, zwei- bis dreitausend Männer genügten zur Eroberung der Stadt, und 8,25, die Gesamtbevölkerung habe zwölftausend Menschen betragen, dann wäre Ai nach bronzezeitlichen Maßstäben schon eine veritable Metropole gewesen. Solche Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Auch der Größenvergleich mit Gibeon ist nicht ohne Probleme. Gibeon wird traditionell in el-Ǧīb lokalisiert. Doch nach Jer 41,10-12 muss Gibeon irgendwo östlich von Mizpa liegen. Dieses wiederum wird mit Tell en-Naṣbe identifiziert. El-Ǧib liegt aber südwestlich von Tell en-Naṣbe. Irgendeine der Angaben muss falsch sein.

Zwischen Betin und Muchmas liegt heute der Ort دير دبوان Dêr Dibwân. Im Nordwesten des Ortes ist ein (Chirbet) et-Tell (auf der Karte des Survey of Israel 2000 ח׳. א־תל) genannter Bühel. Unmittelbar nördlich davon zieht sich in Ost-West-Richtung ein Einschnitt durchs Gelände, das Wādī el-Ǧāja. (Daran schließen sich im Osten das Wādī el-ʿAsas und das Wādī el-Makkūk an. Diese Namen findet man in keiner Onlinekarte, ich habe sie aus Koenens WiBiLex-Artikel zu Ai.) Diese Erhebung wurde archäologisch erforscht und gilt den meisten Archäologen als das biblische Ai. „Die Brüche“ identifiziert Koenen mit der Qurnet Šaḥtūra (קרנת שחתורה) genannten Felsenkante jener Erhebung, die sich zwischen Der Dibwan und Rammun erstreckt.


Die Eroberung der Stadt Ai, Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld. Dargestellt ist der Moment Jos 8,18f. (Aus: Schnorr von Carolsfeld, Julius: Die Bibel in Bildern. 240 Darstellungen, erfunden und auf Holz gezeichnet. Leipzig, Wigand: 1860. Abb. 70).– Quelle: Archive.org.– Lizenz: gemeinfrei.

Das Problem mit et-Tell: die Siedlung auf dem Hügel war 2400-1200 v.Chr. unbewohnt. Es gab für die Israeliten hier nichts zu erobern. Aber auch zur Zeit des Propheten Jesaja (Jes 10,28) war der Hügel bereits seit 300 Jahren wieder verlassen. Daher wurden auch andere ehemalige Siedlungshügel als Lokalisierung für Ai vorgeschlagen: einerseits Chirbet Chajjān (ח׳. חַיִן) – man beachte den Namensanklang an Ai – am Südrand von Der Dibwan; und andererseits Chirbet el-Ḥudrīja (ח. אל־ח׳דריה), nicht ganz 3 km ostsüdöstlich von et-Tell, nördlich der Straße nach Rammun. Doch auch diese beiden Hügel dürften in der Spätbronzezeit unbewohnt gewesen sein. Bryant Wood schlägt Chirbet el-Maqatir vor, das 1¼ km westlich von et-Tell liegt. Das ist aber fast südlich von Betin. Daher müssen weitere Lokalisierungen geändert werden: Bethel = el-Bîra, Betin = Bet-Awen.

Der aktuellen Forschung gilt der Bericht in Jos 7-8 als aitiologische Erzählung ohne jeden historischen Wahrheitsgehalt. Koenen brandmarkt jeden Forscher, der versucht, noch einen historischen Kern des Berichts zu retten, als „biblizistisch“. Damit outet er sich als Kämpfer an der weltanschaulichen Front auf Seiten der Bibelkritiker. Die in diesem Bereich offenbar unvermeidliche Verquickung von Bibelverständnis und Archäologie macht es für den Laien schwer durchschaubar, wie wissenschaftlich die Argumentation eines Wissenschaftlers wirklich ist. Eigenartig finde ich, dass bibelkritische Wissenschaftler zwar der Erzählung jeden historischen Wert aberkennen, die geographischen Angaben aber für bare Münze nehmen und penibel analysieren, um die Orte zu lokalisieren. Wenn es sich um reine Erfindung handelt, wieso sollte man sich dann auf die geographischen Angaben verlassen können? Vielleicht ist die Stadt Ai auch eine freie Erfindung des Autors.

Quellen:

dt.-sprachige Wikipedia-Artikel:
Bet-El (der bibl. Ort), Bet El (die jüd. Siedlung)
engl.-sprachige Wikipedia-Artikel:
Et-Tell, Beitin, Michmas, Mukhmas, Ma'ale Mikhmas, Deir Dibwan
WiBiLex-Artikel von Klaus Koenen:
Ai (2007), Bet-Awen (2007), Bethel [Ort] (2007/2010) Michmas / Geba (2007), Gibeon / Gibeoniter (2016)
odb-Artikel von Detlef Jericke:
Ai (2016/2022), Bet-Awen (2018/2021), Bet-El (2015/2020)
Sonstige:
Karte „Tel Aviv-Yafo“ (Sheet 7-8) des Survey of Israel, 2000 (Maßstab 1:100.000, das rechte untere Achtel der Karte zeigt den Raum Ramallah mit Muchmas, Betin und Der Dibwan)
Eusebius: Werke. Bd. 3/1: Das Onomastikon der biblischen Ortsnamen. Hrsg. v. Erich Klostermann.– Leipzig: Hinrichs, 1904. (Die griech. christl. Schriftsteller d. ersten 3 Jh.) S. 6-9
Grintz, Jehoshua M.:„‘ʿAi which is beside Beth-Aven’. A re-examination of the identity of ʿAi“, Biblica 42/2 (1961), S. 201-216
Donner, Herbert: „Der Feind aus dem Norden. Topograph. u. archäolog. Erwägungen zu Jes. 10, 27b-34“, Zeitschr. d. Dt. Palästina-Vereins 84/1 (1968), S. 46-54 (zu Ajjat S. 48)
Zevit, Ziony: „The Problem of Ai“, Biblical Archaeology Review 11/2 (1985), S. 58-69 (Digitalisat auf Center for Online Judaic Studies)
The Khirbet el-Maqatir Excavations. ABR
Stripling, Scott: „Khirbet el-Maqatir. A biblical site on the Benjamin-Ephraim border“, Bible and Spade 30.2 (2017) S. 29-34 (PDF)
David Livingston: Locating Biblical Ai Correctly
Bilder:
Luftbild von Chirbet el-Maqatir, Blick Richtung Südosten, links die Autobahn 60, im Hintergrund Der Dibwan
Luftbild von et-Tell, Blick Richtung Westnordwest, mit Beschriftungen („Beth-aven“ = Betin)
Luftbild von et-Tell, Blick Richtung Norden ins Wadi Ǧaja

Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 15. Feb. 2022