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Entrückung
In einem alten Jugendkreisklassiker
( I
Wish We'd All Been Ready, 1972) sangen wir:
A man and wife asleep in bed,
she hears a noise and turns her head: he's gone.
I wish we'd all been ready.
Two men walking up a hill,
one disappears and one's left standing still.
I wish we'd all been ready.
There's no time to change your mind,
the son has come and you've been left behind.
Die dahinterstehende Vorstellung von der endzeitlichen Entrückung der Jesusgläubigen war unreflektiert Teil meines jugendlichen Glaubens. Doch spielte Endzeiterwartung keine besonders wichtige Rolle in meinem Glaubensleben. Schon als Teenager konnte ich sehen, dass die Endzeitbücher alle zehn Jahre neu geschrieben werden mussten, weil das, was darin prophezeit wurde, so nie eintraf. Die Naherwartung des Kommens Jesu war offenbar nicht realistisch.
Wieder auf dieses Thema gestoßen bin ich durch einen Clip von Religion for
Breakfast: The
Origins of the Rapture (rapture „Verzückung, Begeisterung“, hier:
„Entrückung“). Dieser wiederum wurde anscheinend angestoßen durch den großen
Erfolg der Buchserie Left Behind
(dt.
Finale
– Die letzten Tage der Erde) von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins (insgesamt
16 Bände, 1995-2007). Der Anfang der Reihe wurde 2014 mit Nicolas Cage neu
verfilmt (hat
auf IMDb
mit 3,1 eine denkbar schlechte Bewertung).
Die Darstellung von LaHaye/Jenkins wird theologisch dem
Dispensationalismus
zugerechnet. Dies ist eine Auslegung der Bibel, der zufolge die Heilsgeschichte
in Dispensationen (lat. dispēnsātiō f. „Einteilung, Verwaltung“),
d.h. in unterschiedlichen Phasen verläuft. Das ist im Kern sicher richtig: es
gab eine Zeit vor Mose und eine nach Mose, es gab eine Zeit vor Jesus und eine
nach Jesus. Doch ist der heilsgeschichtliche „Fahrplan“, den Ausleger wie
Nelson Darby, Dwight L. Moody oder Cyrus I. Scofield aufstellten, insbesondere
was die Ereignisse der Endzeit betreffen, mehr als hinterfragbar. Vor allem hat
die Lehre des Prätribulationismus (lat. trībulātiō f. „Not, Drangsal“)
von einer zweistufigen Wiederkunft Christi keinen echten Anhalt an der Bibel.
Nach dieser Anschauung kommt Jesus zunächst unsichtbar, und die Christen werden
zu Jesus entrückt. Es folgt die 7jährige Leidenszeit mit der Herrschaft des
Antichrists. Erst dann kommt Jesus für alle sichtbar, um sein 1000jähriges
Reich aufzurichten.
Der locus classicus zum Thema der endzeitlichen Entrückung ist 1Thess 4,16f:
16 | ὅτι αὐτὸς ὁ κύριος ἐν κελεύσματι, ἐν φωνῇ ἀρχαγγέλου καὶ ἐν σάλπιγγι θεοῦ, καταβήσεται ἀπ’ οὐρανοῦ, καὶ οἱ νεκροὶ ἐν Χριστῷ ἀναστήσονται πρῶτον, | Denn der Herr selbst wird mit einem Befehl, mit einer Stimme des/eines Erzengels und mit einer Posaune Gottes herabsteigen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; |
---|---|---|
17 | ἔπειτα ἡμεῖς οἱ ζῶντες οἱ περιλειπόμενοι ἅμα σὺν αὐτοῖς ἁρπαγησόμεθα ἐν νεφέλαις εἰς ἀπάντησιν τοῦ κυρίου εἰς ἀέρα· καὶ οὕτως πάντοτε σὺν κυρίῳ ἐσόμεθα. | dann werden wir, die leben, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrissen (entrückt) werden in/auf Wolken dem Herrn entgegen (wörtl.: zur Begegnung des [=mit dem] Herrn) in die Luft. Und so werden wir allezeit (zusammen) mit dem Herrn sein. |
Luther 1545
(Ausgabe letzter Hand) hat noch übersetzt:
„Darnach wir/ die wir leben und uberbleiben / werden zu gleich mit denselbigen
hin gerückt werden in den wolcken/ dem HErrn entgegen in der
lufft / und werden also bey dem HErrn sein allezeit.“ Neuere, z.B.
Luther 2017,
Menge,
Elberfelder,
Einheitsübersetzung 2016,
übersetzen alle mit „entrückt“. Das dt. „rücken“ evoziert die Vorstellung
einer mit Kraft oder Schwung ausgeführten Bewegung, vgl. das Subst. „Ruck“.
Griech. ἁρπάζω harpázō bedeutet „packen,
rauben, entreißen“, z.B.
Joh 6,15
„packen, ergreifen“ (die Menschen Jesus);
Mt 12,29
„rauben“ (der Räuber den Hausrat);
Joh 10,12
„rauben“ (der Wolf die Schafe);
Mt 13,19
„wegreißen“ (der Böse das gesäte Wort);
Apg 23,10
„entreißen, wegreißen“ (die Soldaten den bedrängten Paulus aus der Mitte der
Juden). Aus letzterem entwickelt sich die Bedeutung „entrücken“,
z.B.
Offb 12,5
(das Kind zu Gott);
Apg 8,39
(Philippus weg vom Kämmerer);
2Kor 12,2.4
(Paulus in den dritten Himmel bzw. das Paradies, hier aber wohl kaum im
körperlichen Sinn).
Für griech. ἀπάντησις apántēsis gibt
Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, als Bedeutung: „Begegnung,
feierliche Einholung einer offiziellen Persönlichkeit“. Nach Menges Wörterbuch
heißt εἰς ἀπάντησιν mit Gen. einfach „entgegen“. Aber
Liddell/Scott/Jones hat zu εἰς ἀπάντησιν:
„escort“. Vgl.
LXX Ri 11,34
(als Jeftah vom Kriegszug heimkehrt) καὶ ἰδοὺ ἡ θυγάτηρ αὐτοῦ
ἐξεπορεύετο εἰς ἀπάντησιν αὐτοῦ ἐν τυμπάνοις καὶ χοροῖς. „Und siehe
seine Tochter ging heraus ihm entgegen (wörtl. zu seiner Begegnung) mit
Tamburinen und Reigentänzen.“ Im Hebr. steht לִקְרָאתוֹ
„ihm entgegen“ (wörtl. „ihm zu begegnen“, Inf.cs. von קרא
mit Personalsuffix). Der Zweck des Herausgehens war, den Vater freudig zu
begrüßen und ihn zum Haus zu geleiten.
Umstritten ist die Frage, was der Zweck des „Entreißens, Hinrückens“ ist. Die Prätribulationisten glauben (wie ihr Name besagt), dass es darum geht, die Gläubigen vor den Leiden (trībulātiōnēs) der Zeit des Antichrists zu bewahren. Daher werden die Gläubigen bei Jesus (d.h. wohl zunächst im Himmel) bleiben, bis er für alle sichtbar kommen und die Herrschaft des Antichrists beenden wird. Andere Ausleger nehmen an, dass die Gläubigen Jesus begegnen, um ihn anschließend bei seinem triumphalen Einzug auf der Erde zu begleiten. Die Behauptung von Religion for Breakfast „this passage is not describing a rapture“ kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen.
Quelle: | Wikimedia |
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Urheber: | Phillip Medhurst und Harry Kossuth, 2009 |
Lizenz: | gemeinfrei |
Bearb.: | zur Moirévermeidung weichgezeichnet, verkleinert, geschärft |
Eine andere Stelle, die viele im Sinne einer Entrückung verstehen, ist
Mt 24,40f:
40 | τότε ἔσονται δύο ἐν τῷ ἀγρῷ, εἷς παραλαμβάνεται καὶ εἷς ἀφίεται· | Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird mitgenommen und einer wird (zurück)gelassen. |
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41 | δύο ἀλήθουσαι ἐν τῷ μύλῳ, μία παραλαμβάνεται καὶ μία ἀφίεται. | Zwei (Frauen) (werden sein) mahlend an der Mühle, eine wird mitgenommen und eine wird (zurück)gelassen. |
42 | γρηγορεῖτε οὖν, ὅτι οὐκ οἴδατε ποίᾳ ἡμέρᾳ ὁ κύριος ὑμῶν ἔρχεται. | Wacht also, denn ihr wisst nicht, an was für einem Tag euer Herr kommt. |
Parallelstelle dazu ist
Lk 17,34f:
34 | λέγω ὑμῖν, ταύτῃ τῇ νυκτὶ ἔσονται δύο ἐπὶ κλίνης μιᾶς, ὁ εἷς παραλημφθήσεται καὶ ὁ ἕτερος ἀφεθήσεται· | Ich sage euch: in dieser Nacht werden zwei auf einem Bett sein, der eine wird mitgenommen werden und der andere wird (zurück)gelassen werden. |
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35 | ἔσονται δύο ἀλήθουσαι ἐπὶ τὸ αὐτό, ἡ μία παραλημφθήσεται ἡ δὲ ἑτέρα ἀφεθήσεται. | Zwei (Frauen) werden an dem selben Ort mahlend sein, die eine wird mitgenommen werden, die andere aber wird (zurück)gelassen werden. |
Religion for Breakfast: „But in this verse it's a bit vague as who's been
taken and who's being left. […] In Matthew 24 the desaster is specifically a
flood. So the one being
snatched away
is the unlucky one,
swept away
by the flood.“
Das ist m.E. ein Missverständnis. Der Vergleichspunkt zu den Menschen in Noahs
Zeit liegt nicht in der Art der hereinbrechenden Katastrophe, sondern in der
Gedankenlosigkeit der Menschen, die den lieben Gott einen guten Mann sein
lassen und business as usual machen. (Übrigens waren es auch zu
Noahs Zeit die Zurückgelassenen, die von der Sintflut dahingerafft wurden.)
Die christliche Auslegung versteht die Stelle als Fortsetzung von
V. 31,
wo Jesus sagt, dass der Menschensohn seine Engel senden wird und dass diese
die Auserwählten aus allen vier Himmelsrichtungen sammeln werden. Also werden
die Gläubigen mitgenommen, die Gleichgültigen werden im hereinbrechenden
Gericht zurückgelassen. Das wurde auch schon vor dem Aufkommen des
Dispensationalismus so verstanden, s. nebenstehenden Stich von 1795.
(Anders in
Mt 13,30;
doch geht es im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen nicht um die Endzeit,
sondern darum, nicht schon im Hier und Jetzt das vorwegnehmen zu wollen, was
Gott im Endgericht tun wird: Unkraut und Weizen trennen.)
In 1Kor 15,23.
51.52
redet Paulus nicht von der Entrückung, sondern nur davon, dass beim Erschallen
der letzten Posaune (d.h. wohl wenn Jesus wiederkommt) die Toten auferstehen,
die noch Lebenden aber verwandelt werden (in einen unverweslichen Leib).
Ob Mt 24,40f/Lk 17,34f eine Entrückung beschreibt, ist fraglich. 1Thess 4,16f spricht jedenfalls definitiv von einer Entrückung, auch wenn man über ihren Zweck und den zeitlichen Zusammenhang mit anderen Ereignissen der Endzeit keinen klaren Aufschluss bekommt. Warum sich Religion for Breakfast mit eher fadenscheinigen Argumenten gegen eine solche Deutung stemmt, kann ich nicht nachvollziehen. Vielleicht geht es um das Problem, dass Anhänger der prätribulationistischen Entrückung vielfach der Meinung sind, dass es egal ist, wenn die Erde den Bach runtergeht, weil sie, die evangelikalen Gläubigen, entrückt werden, bevor es wirklich schlimm wird. Doch der Glaube an eine Entrückung und Prätribulationismus sind nicht deckungsgleich.
Eine detaillierte Darstellung der verschiedenen, vor allem prämillenialistischen
Ansichten zur Entrückung samt Literaturhinweisen bietet der englischsprachige
Wikipedia-Artikel
Rapture.
Ich verweise hier ein auf paar kritisch-ablehnende Artikel:
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 19. Feb. 2025