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Eine Jungfrau ist schwanger
Was steht denn jetzt in Jes 7,14? „Jungfrau“ oder „junge Frau“? Jungfräuliche Empfängnis oder nicht? Nachdem ich mich schon mehrfach en passant darüber ausgelassen habe, folgt hier eine ausführlichere Darstellung. Ich beschränke mich dabei auf die philologischen Aspekte wie Wortbedeutung und Kontext. Die ganze Fülle der theologischen Implikationen auszubreiten, mögen Berufenere unternehmen.
Quellen:
Als nach der Thronbesteigung Tiglat-Pilesers III. 745 v. Chr. die assyrische Expansionspolitik immer aggressiver nach Westen ausgreift, bilden einige syrisch-palästinische Staaten, allen voran Syrien (Aram) und das Nordreich Israel (Ephraim), eine anti-assyrische Koalition. Das kleine Südreich Juda will sich ihr nicht anschließen. Daher beginnen Syrien und Ephraim 733 v.Chr. mit einem Feldzug gegen Juda (Syrisch-Ephraimitischer Bruderkrieg), um Ahas, den König von Juda abzusetzen, und Juda in das Bündnis zu zwingen (Jes 7,1f). Ahas seinerseits ist offenbar entschlossen, Assyrien zu Hilfe zu rufen (s. 2Kön 16,7f). Das bedeutet, dass er auch bereit ist, die assyrische Oberherrschaft anzuerkennen und die assyrischen Götter zu verehren (s. 2Kön 16,10f).
Ahas wird denn auch in einer Inschrift Tiglat-Pilesers III. aus Nimrud (das antike Kalḫu) aus dem Jahr 729 genannt: sein Name steht dort in einer langen Liste von Herrschern, die dem assyrischen König Tribut gezahlt haben: 𒁹𒅀𒌑𒄩𒍣 𒆳𒅀𒌑𒁕𒀀𒀀 mia-ú-ḫa-zi KURia-ú-da-a-a, d.i. Jauhazi (hebr. Jehô-ʾāḥāz) von Jaudaju (hebr. Jehûdâ) (Tiglath-Pileser III. 47 /K 03751, r 11'). Bemerkenswert ist, dass im Assyr. Ahas' Name mit theophorem Element erscheint, während es im AT immer weggelassen ist.
In dieser Situation schickt Gott den Jesaja zu Ahas. Dieser ist gerade dabei, die Wasserversorgung der Stadt zu inspizieren, bereitet sich also auf eine Belagerung vor (Jes 7,3). Jesaja bringt ihm die Botschaft, er solle sich nicht vor Aram und Ephraim fürchten, sondern auf Gott vertrauen und sich ruhig verhalten (V. 4-9). Er darf sich von Gott ein Zeichen erbitten (V. 10f). Ahas will sich kein Zeichen erbitten (V. 12), was vermutlich bedeutet, dass sein Entschluss bereits feststeht.
Der im Text genannte Obere Teich wird nördlich der damaligen Stadtmauer vermutet, die etwa auf Höhe der jetzigen Davidstraße verlief. Vielleicht ist er identisch mit dem sog. Hiskiateich (arab. Birkat Hammam el-Batrak) südwestlich der Grabeskirche.
Daraufhin kündigt Gott das bekannte Zeichen von der Jungfrau, die schwanger ist/wird, einen Sohn bekommen und seinen Namen Immanuel nennen wird, an (V. 13-16). In welcher Form diese Ankündigung, die ja ein Zeichen für Ahas und seine Zeitgenossen sein sollte, Wirklichkeit wurde, wissen wir nicht.
In Jes 8,8 wird Immanuel noch einmal genannt. Aber ob es dieselbe Person wie in 7,14 ist, ist unklar. In Jes 8,10 ist wohl nicht der Name gemeint, sondern die Aussage „Gott ist mit uns“. Das Matthäusevangelium bezieht die Prophezeiung im Wortlaut der griech. Übersetzung des AT, der Septuaginta (LXX), auf Jesus (Mt 1,22f).
לָכֵן יִתֵּן אֲדֹנָי הוּא לָכֶם אוֺת הִנֵּה הָעַלְמָה הָרָה וְיֹלֶדֶת בֵּן וְקָרָאת שְׁמוֺ עִמָּנוּ אֵל׃ Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, das Mädchen ist schwanger und gebiert einen Sohn; und sie wird seinen Namen Mit uns (ist) Gott (hebr. ʿimmanu ʾel) nennen.
Ob das Mädchen bereits schwanger ist oder es erst werden wird, ist aus dem Hebr. nicht klar zu erkennen, denn es steht ein zeitlich unbestimmter Nominalsatz (was bei Adjektiva als Prädikat der Normalfall ist). Überraschend ist, dass auch das Gebären mit einem Partizip ausgedrückt ist (יֹלֶדֶת Part. fem. Sg.): „das Mädchen schwanger und gebärend einen Sohn“. Ges. Gramm. § 134 Anm. 1 listet unseren Vers als Beispiel für die Verwendung des Partizips als futurisches Prädikat auf. Daher hat die Einheitsübersetzung: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären“, die Gute Nachricht: „Die junge Frau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen“. Die aktuelle Lutherübersetzung jedoch: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären“. Auch dieses Verständnis ist grammatikalisch möglich.
קָרְאָה = קָרָאת Pf. 3. fem. Sg. „sie nennt“ (s. Ges. Gramm. § 74 Anm. 1), eine Nebenform, die man z.B. auch in Lev 25,21 (עָשָׂת „sie macht“), Dtn 31,29 (קָרָאת „sie begegnet, trifft“), Gen 33,11 (הֻבָאת Hofʿal „sie wird gebracht“) findet.
Umstritten ist, ob der Artikel „das Mädchen“ der Hervorhebung des Artbegriffs dienen soll (wie im Dt. in das Feuer werfen u.ä.). Dann wäre im Dt. die auch von Luther 2017 gewählte Übersetzung mit dem unbestimmten Artikel angemessener. Oder ob er wie im Dt. individualisierend gemeint ist, also ein bestimmtes Mädchen bezeichnen soll. Dann erhebt sich die Fragen, wen der Prophet meint.
Die griech. LXX gibt den Vers folgendermaßen wieder:
διὰ τοῦτο δώσει κύριος αὐτὸς ὑμῖν σημεῖον· ἰδοὺ ἡ παρθένος ἐν γαστρὶ ἕξει καὶ τέξεται υἱόν, καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ Εμμανουηλ· Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und du wirst seinen Namen Emmanuel nennen.
Die Übersetzer der LXX haben das gesamte Geschehen als zukünftig aufgefasst. (Und sie haben offenbar קָרָאת als Pf. 2. fem. Sg. verstanden.) Wichtiger für unsere Diskussion ist aber die Wiedergabe des hebr. עַלְמָה ʿalmâ „Mädchen“ als παρθένος parthénos „Jungfrau“ (eigentlich „unverheiratetes Mädchen“, bei dem die sexuelle Unberührtheit vorausgesetzt wird).
Das eine (Mädchen) muss das andere (Jungfrau) nicht ausschließen. Aber was wollte Jesaja genau sagen? Was bedeutet hebr. ʿalmâ?
Das Wörterbuch von Feyerabend sagt: „mannbares Mädchen, jung verheiratetes Weib“. Wobei ich vermute, dass letzteres aus unserer Stelle erschlossen ist. Denn Schwangerschaft und Mutterschaft setzen in der Kultur des AT normalerweise eine Ehe voraus.
Das Wörterbuch von Gesenius sagt: „mannbares Mädchen, puella nubilis [heiratsfähiges Mädchen], virgo matura [erwachsene/geschlechtsreife Jungfrau] (d. W. bezeichnet lediglich das Mädchen als mannbares, nicht als Jungfrau (בְּתוּלָה), auch nicht als verehelicht od. nicht verehelicht; n. Socin: das Weib, bis es ein Kind hat, wie ar. bint, Doughty 1 231)“. (Hebr. בְּתוּלָה betûlâ bezeichnet, wie griech. parthénos, in der Regel das unverheiratete Mädchen, von dem man nach antiker Moralvorstellung annehmen durfte, dass es unberührt ist.)
Mit der bei Gesenius öfter wiederkehrenden Angabe „n. Socin“ sind wohl Berichtigungen und Verbesserungsvorschläge des Schweizer Orientalisten Albert Socin bezeichnet. In der angegebenen Stelle im Reisebericht von Charles Doughty heißt es: „Hirfa sighed for motherhood : she had been these two years with an husband and was yet bint, as the nomads say, ‘ in her girlhood ; ’“. Arab. bint heißt eigentlich „Tochter“, bei den Nomaden aber anscheinend auch „Frau, die noch kein Kind hat“.
Das Verständnis von Albert Socin hat sich offenbar durchgesetzt. Auch das Wörterbuch von Koehler/Baumgartner hat: „mannbares Mädchen, junge Frau (bis zur Geburt des 1. Kindes)“. Und die Stuttgarter Erklärungsbibel 1992 sagt: „ein hebräisches Wort, das eine junge Frau bis zur Geburt ihres ersten Kindes bezeichnet, gleichgültig, ob sie verheiratet ist oder nicht“. Eine ʿalmâ ist also ein Mädchen im heiratsfähigen Alter, das noch nicht Mutter geworden ist. Es ist eine Jungfrau im buchstäblichen Wortsinn: eine junge Frau. Sie kann noch unverheiratet und sexuell unberührt sein, sie muss aber nicht. Wenn diese Deutung zutrifft, ist eine betûlâ in der Regel zugleich eine ʿalmâ, aber nicht umgekehrt.
Die Neuausgabe des Gesenius von 2013 hat die Bedeutungsangabe verkürzt zu: „junge Frau, Mädchen, Dienerin (versch. v. בְּתוּלָה)“.
An einigen Stellen im AT ist die ʿalmâ definitiv noch unverheiratet, etwa Gen 24,43 (Rebekka) oder Ex 2,8 (Miriam). An anderen Stellen ist wohl an junge Frauen zu denken, die schon sexuelle Erfahrung haben, wie etwa Spr 30,19 oder Hld 6,8. (An letzterer Stelle bedeutet es nach Delitzsch soviel wie arab. سرية surrîya „Konkubine, Geliebte“.) Völlig offen ist das bei Ps 68,26 oder Hld 1,3. Und damit sind alle Stellen aufgezählt. (In Ps 46,1 und 1Chr 15,20 bezeichnet es eine musikalische Vortragsart, die ungeklärt ist. Möglicherweise handelt es sich hier sogar um ein anderes Wort.)
Neben Jes 7,14 hat die LXX ʿalmâ nur noch in Gen 24,43 mit parthénos übersetzt. In Ex 2,8, Ps 68,26, Hld 1,3 und Hld 6,8 ist es mit νεᾶνις neánis „Mädchen“ wiedergegeben, in Spr 30,19 mit νεότης neótēs „Jugend(alter)“, hier haben die jüdischen Übersetzer im Hebr. wohl עֲלוּמִים ʿalûmîm gelesen.
Eine neánis kann noch Jungfrau sein (explizit z.B. Hom. Od. 7,20 παρθενικὴ νεᾶνις „jungfräuliches Mädchen“), sie muss aber nicht (z.B. Eur. Andr. 192 ὦ νεᾶνι „o Mädchen“ als Anrede an Hermione, die junge Ehefrau des Neoptolemos).
Diejenigen, die daran festhalten, dass ʿalmâ „Jungfrau“
bedeutet, verweisen gern auf Raschis Kommentar zu Hld 1,3, wo es heißt:
:עֲלָמוֹת. בְּתוּלוֹת, לְפִי שֶׁהַדִּבּוּר דִּמָּהוּ לְבָחוּר שֶׁאֲהוּבָתוֹ מְחַבַּבְתּוֹ. וּלְפִי הַדֻּגְמָא: הָעֲלָמוֹת הֵן הָאֻמּוֹת
„Mädchen (ʿalāmôt): Jungfrauen (betûlôt),
weil die Äußerung ihn mit einem ledigen Jüngling (bāḥûr) vergleicht,
dessen Geliebte ihn lieb hat. Und gemäß dem Muster (od. der Allegorie?): die
Mädchen sind die Völker.“
Raschis Begründung für seine Behauptung, hier seien unverheiratete Mädchen
gemeint, ist nicht nachvollziehbar, vor allem, weil בָּחוּר
bāḥûr „lediger, wehrfähiger junger Mann“ im Hld gar nicht vorkommt.
Die LXX übersetzt hier mit neánis.
Raschi liest das Hld als durchgehende Allegorie der Liebe zwischen Gott und
dem Volk Israel. Darauf bezieht sich der zweite Satz.
Etymologisch betrachtet ist ʿalmâ das Femininum zu עֶ֫לֶם ʿǽlæm „Junge, junger Mann“ (1Sam 17,56 von dem jungen David, der gerade Goliath besiegt hat, parallel zu נַ֫עַר náʿar ds. in V. 55) und „Bursche, Diener“ (1Sam 20,22, von dem Knecht, der Jonathans Pfeile aufsammeln muss, wieder parallel zu náʿar in V. 21). Das Wort ist vermutlich ein primäres Nomen, d.h. es ist nicht von einer Verbalwurzel abgeleitet. Die Verba, die es zu dieser Wurzel gibt, sind denominal (vom Nomen abgeleitet).
Die Wurzel ʿlm bedeutet offenbar in so gut wie allen semitischen Sprachen „jung, jugendlich; junger Mensch“. Im Ugarit. ist es auch zu einem Göttertitel geworden, in der Mehrzahl der Sprachen hat es die Nebenbedeutung „Diener“ angenommen. (Wie auch im Dt. Magd ursprl. „Mädchen, Jungfrau“ bedeutete (vgl. Nebenform Maid und Deminutiv Mädchen), Bursch(e) ursprl. „Student, Geselle“, dann „lediger junger Mann“, aber auch „(Offiziers, Hotel-)Diener“.)
Hebr. betûlâ gehört zur Wurzel btl, die im Arab. auch als Verbum existiert: بتل, Wehr: I. und II. Stamm „abtrennen“, V. „sich von der Welt zurückziehen, keusch leben“. Man möchte vermuten, dass die Mädchen nach Erreichen der Geschlechtsreife separiert wurden. Doch zumindest für die Erzväterzeit erzählen die Texte etwas anderes (Gen 24,11.15f; Ex 2,16f).
Im Assyr. hat das Wort, wenn die Deutung des CAD richtig ist, also z.T. die Stelle des hebr. ʿalmâ eingenommen, das es im Assyr. ja nicht gibt. Alttestamentliche Bestimmungen wie Ex 22,15f, Dtn 22,23f, Lev 21,13f (im Ggs. u.a. zu חֲלָלָה „Entweihte, Entehrte“, d.i. ihrer Jungfräulichkeit Beraubte) oder Stellen wie die bereits oben angeführte Ri 21,12, oder 2Sam 13,2 lassen schwerlich eine andere Bedeutung als „Jungfrau“ zu. Wenn manche Seiten im Netz den Spieß umzudrehen versuchen und behaupten, ʿalmâ heiße „Jungfrau“ und betûlâ „junge Frau“, muss das wohl unter Realitätsverweigerung subsumiert werden.
Die Wiedergabe der LXX mit griech. parthénos „junge Frau, insbes. unverheiratete Frau, sexuell unberührte Frau“ ist also nicht per se falsch. Doch spätestens wenn eine Frau schwanger ist, ist klar, dass sie nicht mehr unberührt ist. An jungfräuliche Empfängnis glaubten und glauben die Juden nicht. Und dass der Unterschied einmal theologisch bedeutsam werden würde, konnten die Übersetzer der LXX nicht ahnen.
Die Bibel in gerechter Sprache behauptet: „Erst im 3. bis
4. Jahrhundert n. Chr., als das Dogma von der unbefleckten Empfängnis sich
durchsetzte, wurde parthenos die Bedeutung »Jungfrau« im Sinne einer
Frau, die keinen sexuellen Verkehr gehabt hat, zugeschrieben.“ Das ist
feministische Ideologie. Dass ein unverheiratetes Mädchen nicht mehr jungfräulich
war, ja vielleicht sogar schon ein Kind geboren hatte, kam gelegentlich vor,
wurde aber schamhaft unter den Teppich gekehrt (z.B. Hom. Il. 2,514f λάθρῃ
„heimlich“, oder Aristoph. Nub. 530 κοὐκ ἐξῆν πώ μοι τεκεῖν „und ich durfte
noch nicht gebären“). Denn die gesellschaftliche Erwartung war sexuelle
Unberührtheit, und das traf wohl angesichts der starken sozialen Kontrolle,
die auf die Mädchen ausgeübt wurde, in aller Regel auch zu. Auch der in Bauers
Wörterbuch zum Neuen Testament genannte Beleg für parthénos
= „Mädchen“, Paus. 8,20,4, stellt sich im Kontext differenziert dar: Leukippos
gibt sich als parthénos aus, um sich Daphne und ihrer Schar jagender
parthénoi anschließen zu können. Als Daphne und die übrigen
parthénoi Lust bekommen, im Fluss zu schwimmen, und Leukippos gegen
seinen Willen entkleiden, sehen sie, dass er keine parthénos (keine
Frau, sondern ein Mann – diesen Satz meint Bauer) ist, und sie töten ihn.
Für die neutestamentliche Sexualethik ist klar, dass ein Unverheirateter
legitimerweise keinen Sex haben kann
(1Kor 7,8f).
Daher ist parthénos nicht nur ein unverheiratetes, sondern auch ein
unberührtes Mädchen
(vgl. Lk 1,27.34;
1.Kor 7,36f;
männliche parthénoi:
Offb 14,4;
Mt 25,1-12
von den Brautjungfern). Inwiefern sich diese Erwartung mit der Realität gedeckt
hat, ist ein anderes Thema.
Genauer ist allerdings die Wiedergabe von Aquila, Symmachos und Theodotion, die alle drei νεᾶνις neánis „Mädchen“ haben (s. Fields Hexapla zu Jes 7,14). Dies dürfte eine Reaktion der jüdischen Übersetzer auf die christliche Verwendung der LXX-Version sein. Doch überschneiden sich im Griech. wie im Hebr. die Bedeutungsbereiche der Begriffe. Rebekka wird Gen 24,14. 16. 28. 55. 57 als נַעֲרָה naʿarâ „Mädchen“ bezeichnet, in 24,16 auch als בְּתוּלָה betûlâ „Jungfrau“ (mit dem expliziten Hinweis, dass sie noch unberührt ist), und in 24,43 (der Vers ist ansonsten fast identisch mit V. 14) als ʿalmâ.
Naʿarâ bezeichnet das Mädchen vom Kind (2Kön 5,2 נַעֲרָה קְטַנָּה „kleines Mädchen“, das in syrische Kriegsgefangenschaft geraten ist) über die Jungfrau (Ri 21,12; 1 Kön 1,2 נַעֲרָה בְתוּלָה „jungfräuliches Mädchen“), die verheiratete junge Frau (Dtn 22,19 [auch 15f.20f Qere, Ketib נַעַר] von einer verheirateten Frau, deren Jungfräulichkeit zum Zeitpunkt der Eheschließung vom Ehemann nachträglich bestritten wird; Ri 19,3-6.8f von einer Nebenfrau) bis zur Witwe (Rut 2,6; 4,12 von der Witwe Ruth). Es bezeichnet auch Dienstmädchen (Gen 24,61 רִבְקָה וְנַעֲרֹתֶיהָ „Rebekka und ihre Mädchen“), ja sogar Prostituierte (Am 2,7).
Die LXX übersetzt auch naʿarâ hin und wieder mit parthénos, z.B. Gen 24,16a oder Gen 34,3 (zweimal). In letzterer Stelle sogar mit Bezug auf Dina, die soeben vergewaltigt worden ist. Ein deutlicher Beleg dafür, dass die LXX mit dem Begriff parthénos großzügig umgegangen ist.
Der Targum Jonathan übersetzt ʿalmâ in Jes 7,14 mit עוּלֵימְתָּא ʿûlêmtâ. Zur Bedeutung dieses Wortes s.o.
Nebenbei bemerkt: Auch der dt. Begriff Jungfrau bezeichnet laut dem Dt. Wörterbuch der Gebrüder Grimm, s.v. Jungfrau zweierlei: einerseits eine junge Frau, sowohl für eine junge Herrin, als auch für eine Dienerin; und andererseits eine sexuell unberührte Frau; in letzterem Sinne kann der Begriff auch auf einen Mann bezogen werden. In ersterem Sinn findet man die die Übersetzung „Jungfrau“ in manchen Wörterbüchern auch für Wörter, die nicht unbedingt nur die Jungfrau in letzterem Sinn meinen (z.B. Lewy zu ʿûlêmtâ, Menge zu neánis).
Die Verheißung von V. 14 soll wohl besagen: in den wenigen Monaten bis zur Geburt des Kindes (oder binnen eines Jahres, falls das Kind noch nicht gezeugt ist) wird Gott die Situation in Juda so grundlegend ändern, dass man dann das Kind dankbar Gott-mit-uns nennen wird (so die Auslegung der Stuttgarter Erklärungsbibel). Und noch bevor der Knabe erwachsen sein wird (also binnen eines Jahrzehnts), werden Syrien und das Nordreich verödet sein (V. 16).
Vgl. auch die ähnlich geartete Zeichenhandlung Jes 8,1-4: der Prophet bekommt von Gott den Auftrag, seinem neugeborenen Sohn den seltsamen Namen מַהֵר שָׁלָל חָשׁ בַּז maher šālāl ḥāš baz „rasche Beute, eilender Raub“ zu geben. Denn bevor das Kind „Mama“ sagen kann, sollen Samaria und Damaskus beraubt und geplündert sein. Tatsächlich wurde Damaskus 732 v.Chr. von den Assyrern erobert.
Manche Ausleger sehen einen Zusammenhang von 7,14 mit 9,5f. Doch ist letztere Stelle die Verheißung einer eschatologischen Heilszeit und wohl der Wiederherstellung des Davidsreiches, die für die nahe Zukunft nicht zu erwarten war. Und 7,16 spricht doch ganz offenbar von einer nahen Zukunft.
Wer die zukünftige Mutter sein soll, ist umstritten. Manche Ausleger denken an die Frau des Propheten. Doch hätte Jesaja seine eigene Frau wohl kaum als hā-ʿalmâ bezeichnet, zumal sie ja bereits Mutter mindestens eines Kindes war (7,3). Delitzsch vermutet Avi bat-Secharja, die Mutter des Hiskia, des Sohnes des Ahas (2Kön 18,2). Aber man kann auch nicht ganz ausschließen, dass gar keine konkrete Person gemeint ist.
Wenn sich das Zeichen nun klar auf die damalige politische Situation bezieht, wie konnte es dann das MtEv auf einen über 700 Jahre später geborenen Mann beziehen? Zugrunde liegt wohl die Vorstellung des damaligen Judentums, dass Gott eine Verheißung nicht nur einmal erfüllen kann, sondern unter je eigenen Umständen auf je eigene Weise mehrmals. Und da nun der Wortlaut der LXX (s.o.) explizit von einer parthénos spricht, die einen Sohn gebären wird, so sah Mt hier die Vorhersage der jungfräulichen Empfängnis.
Hat sich Mt geirrt, da doch der hebräische Text etwas ganz anderes meint? Aus einer modernen exegetischen Sicht wohl ja. Aber die Erfüllungszitate bei Mt dürfen nicht an modernen Maßstäben gemessen werden. Mt will zeigen, dass die Bibel (und das war für die Leser seiner Zeit die griech. LXX!), wenn man sie so liest, wie es damals üblich war, viele Vorhersagen enthält, die sehr gut auf Jesus passen. Natürlich erschließt sich dies nur dem Glaubenden oder zum Glauben Bereiten. Ob ein Ereignis die Erfüllung einer bestimmten Prophezeiung ist, ist immer eine Frage des Glaubens, denn der Zusammenhang ist niemals evident. Es verhält sich hier wie mit dem Wunder.
Ein Wunder ist ein Ereignis, von dem ein Mensch sich so anrühren lässt, dass es ihn verändert. Dasselbe Ereignis kann daher für den einen ein Wunder sein, für den anderen nicht. Dies führt der Film Pulp Fiction vor: auf die Auftragskiller Jules (Samuel Jackson) und Vincent (John Travolta) wird aus nächster Nähe ein ganzes Revolvermagazin verschossen, doch die beiden bleiben unversehrt. Jules hält dies für ein Wunder und beschließt, seinen Mörderberuf aufzugeben. Vincent glaubt nicht an ein Wunder und bleibt, was er ist – und wird später (Berufsrisiko) doch erschossen.
Auch die Life application study Bible von 1997 geht von einer doppelten Erfüllung der Prophezeiung aus: 1. Eine junge Frau aus dem Hause Ahas wird heiraten und einen Sohn bekommen. 2. Die Jungfrau Maria wird empfangen und einen Sohn gebären.
Wenn man heute das AT übersetzt, muss man es aus dem Hebräischen übersetzen. Und man muss dem Text die Bedeutung geben, die er für die mutmaßlichen Rezipienten hatte. Von einer jungfräulichen Empfängnis ist Jes 7,14 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Rede. Daher sollte eine Übersetzung dieses Missverständnis vermeiden und ʿalmâ tunlichst nicht mit „Jungfrau“ übersetzen. Es ist Aufgabe der neutestamentlichen Exegese, die Spannung zwischen dem Jesaja-Text und seiner Auffassung bei Mt zu klären. Es ist jedenfalls philologisch unzulässig, Jes 7,14 von seiner Verwendung bei Mt 1,23 her zu übersetzen.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 17. Aug. 2024