Michael Neuhold Homepage
Startseite > Biblica > Nazoräer

Nazoräer


Der Herkunftsort Jesu heißt im NT zweimal (Mt 4,13; Lk 4,16) Ναζαρά Nazará, sonst (*Mt 2,23; 21,11; *Mk 1,9; Lk 1,26; 2,4.39.51; *Joh 1,45f; Apg 10,38) Ναζαρέθ Nazaréth (so noch durchgängig in NA25) bzw. Ναζαρέτ -rét (so seit NA26 an den mit Asterisk bezeichneten Stellen). Inschriftlich belegt ist der Ortsname in der Form נצרת Nṣrt (3. oder 4. Jh. n.Chr.?). In der syr. Peschitta erscheint er in der Form ܢܳܨܪܱܬ݂ Nāṣraṯ. Heute heißt der Ort hebr. נָצְרַת Nāṣerat (wobei im Ivrit Ṣade als [ts] ausgesprochen wird und Schwa häufig quiesziert: [natsˈrat]), arab. النَاصِرَة an-Nāṣira.

Nazareth wird weder im AT, noch im Talmud, noch bei Flavius Josephus erwähnt. Das weist darauf hin, dass der Ort in der Antike eher klein und unbedeutend gewesen sein muss.
Bei der genannten Inschrift handelt es sich um zwei 1962 in Cäsarea gefundene Bruchstücke einer vermutlich an der Synagoge angebrachten Tafel. Auf ihr waren anscheinend die 24 Priesterordnungen und die Ortschaften, in denen sie sich (nach der Zerstörung des Tempels, nach anderen nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes) angesiedelt hatten, vermerkt. Die Zeile für Nazareth wird (nach 1Chr 24,15b) so rekonstruiert:
משמרת שמונה עשרה הפצץ נצרת „die 18. Ordnung (hap-)Piṣṣeṣ: Nazareth“.
Der älteste literarische Beleg im Judentum (von dem ich weiß) findet sich bei dem liturgischen Dichter Elʿazar haq-Qalîr (ca. 6./7. Jh.) in einem der Klagelieder auf den 9. Av (Gedenktag der Zerstörung des Tempels). Am Ende jeder der 24 Strophen wird eine der 24 Priesterordnungen und die Ortschaft, in der sie sich niedergelassen hatte, genannt. Das Ende der 18. Strophe lautet:
וּבְקַצְוֵי אֶרֶץ נִזְרָת מִשְׁמֶרֶת נָצְרַת „und an die Enden der Erde wurde zerstreut die Ordnung von Nazareth“. (Man beachte das Wortspiel נזרת - נצרת!) (Text: Wikisource, Lizenz: CC BY-SA 3.0, Urheber: unklar).

Die älteste Erwähnung in frühchristlicher Literatur dürfte die von Eusebios in seiner Kirchengeschichte mitgeteilte des Iulius Africanus aus dem ersten Viertel des 3. Jh. sein. Africanus sagt in seiner Erklärung des Stammbaumes Jesu: Herodes habe zwar die genealogischen Aufzeichnungen verbrennen lassen. Manchen sei es aber (teils durch private Abschriften, teils aus dem Gedächtnis) gelungen, die Erinnerung an ihre Abstammung zu bewahren: ὧν ἐτύγχανον οἱ προειρημένοι, δεσπόσυνοι καλούμενοι διὰ τὴν πρὸς τὸ σωτήριον γένος συνάφειαν ἀπό τε Ναζάρων καὶ Κωχαβα κωμῶν Ἰουδαϊκῶν τῇ λοιπῇ γῇ ἐπιφοιτήσαντες καὶ τὴν προκειμένην γενεαλογίαν [partim memoriter, partim] ἔκ τε τῆς Βίβλου τῶν ἡμερῶν, ἐς ὅσον ἐξικνοῦντο, ἐξηγησάμενοι. „Zu diesen gehörten auch die vorher Erwähnten, herrschaftlich (despósynoi) genannten wegen der Verbindung zum rettenden Geschlecht (d.h. zum Geschlecht des Retters), die von Nazara und Kochaba, judäischen Dörfern, aus das übrige Land besuchten und die vorliegende Genealogie, [teils aus dem Gedächtnis, teils] aus dem Buch der Tage (d.i. tägliche Aufzeichnungen?), soweit sie konnten, darlegten (od. erklärten).“ (Eus. hist.eccl. 1,7,14, der griech. Text ist offenbar lückenhaft, daher ergänzt um die lat. Übers. des Rufinus, die aber vielleicht auch nur auf Konjektur beruht; Die Griech. Christl. Schriftsteller, Bd. 9/1, S. 60f, ed. Eduard Schwartz u. Theodor Mommsen, Leipzig 1903; eine dt. Übers. bei Bibl. d. Kirchenväter, 2. Reihe Bd. 1, S. 41f, übers. v. Philipp Häuser, München 1932.) Die Namensform bei Africanus ist also Nazara. Kochaba kann nicht mehr eindeutig lokalisiert werden.

Eusebios sagt in seinem Onomastikon der biblischen Ortsnamen (wohl im ersten Viertel des 4. Jh. entstanden) zu Nazareth: Ναζαρέθ· ὅθεν ὁ Χριστὸς Ναζωραῖος ἐκλήθη, καὶ Ναζαρηνοὶ τὸ παλαιὸν ἡμεῖς οἱ νῦν Χριστιανοί. καὶ εἰς ἔτι νῦν ἐστιν ἐν τῇ Γαλιλαίᾳ ἀντικρὺ τῆς Λεγεῶνος ὡς ἀπὸ σημείων ιεʹ πρὸς ἀνατολάς, πλησίον τοῦ ὄρους Θαβώρ. „Nazareth: woher der Christus Nazoräer genannt worden ist, und vormals Nazarener wir, die jetzt Christen (genannt werden). Und bis jetzt noch ist es in Galiläa gegenüber Legeon, etwa 15 Meilen(steine) entfernt nach Osten, nahe dem Berg Tabor.“ (Eus. Onom., Die Griech. Christl. Schriftsteller, Bd. 9/3?, S. 138/140, ed. Erich Klostermann, Leipzig 1904.) Legeon, lat. Legio, war ein anscheinend nicht unbedeutender Ort am Südrand der Jesreelebene, beim heutigen Megiddo (s. Beer, Georg: Legio, Legeon, Paulys Realencycl. d. class. Altertumswiss., Bd. 12,1 (1924), Sp. 1186). Auf Google Maps ist ein freies Feld nördlich des Gefängnisses von Megiddo als Legio Archaeological Site ausgewiesen.

Dem Ortsnamen zugrunde liegt vielleicht das fem. Partizip von hebr. נצר nṣr „beobachten, bewachen, hüten“: נֹצְרָה nōẓe bzw. als Segolatform נֹצֶרֶת nōṣǽræt „Wächterin, Hüterin“ (vgl. 2Kön 17,9 מִגְדַּל נֹוצְרִים migdal noṣerîm „Turm der Wächter“). Die aram. Formen dazu sind nach Dalman (S. 152) נָצְרָה nāṣe bzw. נָצְרַת nāṣerat. Zahn hält griech. Nazará allerdings für den aram. Status emphaticus נָצְרָא nāṣe einer maskulinen Form des Ortsnamens, „נצר, hebr. vielleicht נוֺצֶר [Nōṣær] gesprochen“ (S. 115).
Ungewöhnlich ist auch die Wiedergabe des hebr.-aram. /ṣ/ mit griech. /z/. Denn normalerweise entspricht hebr. צ im Griech. σ: צִיּוֹן Ṣijjôn ~ Σιών Siṓn (z.B. Mt 21,5) = dt. Zion, צְבָאוֹת ebāʾôt „Heere“ ~ σαβαώθ sabaṓth (z.B. Röm 9,29) = dt. Zebaot(h) usw. Dalman erklärt das so: „Das ζ für צ ist in griechischem Munde entstanden, wohl wegen der Nähe von ν und ρ.“ Soll heißen: durch seine Stellung zwischen zwei stimmhaften Konsonanten wurde das stimmlose (emphatische) s stimmhaft.
Den Akzent auf der Ultima bei Nazaréth (statt der zu erwartenden Paenultimabetonung Nazáreth) erklärt Albright (S. 399) mit „mediaeval custom in accenting barbarous names“. Dass die aram. Form nicht נטרת Nṭrt lautet – denn „bewachen, behüten“ heißt auf Aram. נטר nṭr –, liegt daran, dass der Ortsname nicht übersetzt, sondern nur lautlich aramaisiert wurde.

Gelegentlich wurde auch erwogen, den Ortsnamen vom fem. Part. Pass. נְצוּרָה neṣûrâ „behütet, bewacht“ (s. Jes 1,8) herzuleiten. Franz Delitzsch hält Nazareth für Wiedergabe von נְצֶרֶת neṣæræt „Wacht“ (im AT aber nicht belegt); Nazoräer setze נְצֹרֶת neṣoræt oder נְצוּרָה neṣûrâ ds. voraus (nicht belegt, letzteres nur als Part. Pass., s.o.). Ewald leitet den Namen von נְצֹ֫רֶת neṣóræt „Warte, Warthaus“ ab (nicht belegt).

Eine andere Etymologie wird in Worthaus-Vortrag 8.6.3 (Galiläa, der Lebensraum Jesu, Teil 2) referiert: da wird der Ortsname zu hebr. נֵצֶר nḗṣær „Spross“ gestellt. Spross wiederum soll eine Bezeichnung für Davididen (Nachfahren des Königs David) gewesen sein (nach Jes 11,1). Das „Sprossdorf“ Nazareth sei mithin eine Siedlung von solchen Davididen gewesen. Inwieweit diese Etymologie in der Fachwelt anerkannt ist, kann ich nicht sagen. Die Herleitung vom „Spross“ ist an sich alt, sie findet sich z.B. schon bei Hengstenberg 1832, da allerdings als Metapher für die Kleinheit des Ortes verstanden. Hieronymus versteht den Namen als „Blume Galiläas“ (florem […] Galilaeae) was sowohl sprachlich (nḗṣær heißt nicht „Blume“) als auch sachlich unzutreffend ist.

Das Nisbe-Adjektiv (hier Gentilizium) zur vermuteten hebr. Namensform wäre *נֹצְרִי Nōṣe, aram. *Nāṣrājâ, syr. ܢܳܨܪܳܝܳܐ Nāṣrājâ. Albright lässt daraus ein hyperkorrektes (d.h. fälschlich an die hebr. Form angeglichenes) *Nōṣrājâ und daraus durch Metathese *Neṣōrājâ entstehen. Dessen lautliche Entsprechung im Griech. wäre Ναζωραῖος Nazōraíos. Das ist Bezeichnung Jesu bei Mt (2,23; 26,69 vl.71), Joh (18,5.7; 19,19) und in der Apg (2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9) (sowie einmal bei Lk, 18,37). Das Erfüllungszitat Mt 2,23 legt nahe, dass der Evangelist Nazōraíos als Gentilizium verstanden wissen wollte: „und er kam und ließ sich in einer Stadt namens Nazareth nieder; damit erfüllt wird, was durch die Propheten gesagt wurde: Nazoräer wird er heißen“. Auch die Nennung in der Kreuzesaufschrift in Joh 19,19 ist wohl so gemeint: „Jesus, der Nazoräer, der König der Juden“.

Allerdings sind die zwei Zwischenschritte Albrights nur Spekulation. Und es werden auch andere Erklärungsmöglichkeiten erwogen. Lidzbarski etwa fasst hebr. nṣr im Sinne von „beobachten, einhalten“, nämliche Gebote, Vorschriften. Ein נֹצֵר nōṣēr wäre ein „Beobachtender, Observant“, ein נוֺצְרִי nōṣe „einer aus dem Kreise der Observanten“. Später verweist er noch auf Bezeichnungen für verschiedene Arten von Talmudlehrern, wie aram. אָמוֺרָאָה ʾĀmôrāʾâ „Amoräer“ (Jastrow und Levy vokalisieren -אֲ ʾA-), eigentlich „Redner, Lehrer“, סָבוֺרָאָה Sābôrāʾâ „Saboräer“, eigentlich „Meinender, Denkender“.

Welche Prophetenstellen der Evangelist bei Mt 2,23 im Auge hatte, darüber kann man nur rätseln. Wenn es denn kanonische Texte sind, kämen am ehesten in Frage:

Jes 11,1:
„Und ein Zweig wird herausgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Spross (hebr. נֵצֶר nḗṣær) aus seinen Wurzeln wird fruchtbar sein.“
(Vgl. a. Jer 23,5; Sach 3,8; 6,12, wo allerdings überall hebr. צֶמַח ṣæmaḥ „Spross, Sprössling“ verwendet wird.) Das Etymon von nēṣær ist nach Gesenius verwandt mit arab. نضر nḍr „glänzen, grünen“.
Ri 13,5:
„Denn siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Und ein Schermesser soll nicht auf seinen Kopf kommen. Denn ein Geweihter (hebr. נָזִיר nāzîr) Gottes wird der Knabe sein vom Mutterleib an. Und er wird anfangen, Israel aus der Hand der Philister zu erretten.“
Hebr. נזר nzr (mit stimmhaftem, nicht mit emphatischem s) bedeutet „aussondern, weihen“. Die LXX gibt nāzîr mit ἡγιασμένος ναζιραῖος hagiasménos naziraíos „geweihter Nasiräer“ wieder. Das ist doppelt gemoppelt. Ein Nasiräer ist jemand, der das in Num 6,1-21 beschriebene Gelübde tut.

Doch zu Recht argumentiert Zahn, dass „die Propheten“ wohl nicht einzelne Prophetenstellen meint, sondern den prophetischen Teil des AT insgesamt. Er fasst daher das ὅτι hóti nicht als recitativum (Einleitung der direkten Rede, einem dt. Doppelpunkt entsprechend), sondern kausal: „denn Nazaräer soll (sollte) er genannt werden“ (S. 118, Hervorhebung von mir). Zahn versteht Nazoräer gleichsam als Synonym für „Person von unbedeutender Herkunft“ (ähnlich wie im Wienerischen Mistelbacher einen Polizisten bezeichnet). In der Herkunft des Messias aus einem namenlosen Kaff Galiläas erfüllte sich, „daß derselbe unscheinbar auftreten und von seinem eigenen Volk werde verkannt werden“ (S. 120).

In Apg 24,5 verwenden die vor Festus klagenden Juden den Plural von Nazōraíos als Bezeichnung der Christen. Dieser Wortgebrauch hat sich im Judentum fortgesetzt, etwa im Talmud (z.B. bTaan 27b [Goldschmidt Bd. 3, S. 514 Z. 1]: הַנּוֺצְרִים han-Nôṣerîm „die Christen“) oder in einigen Versionen der Birkat ham-mînîm, der 12. Bitte des jüdischen Achtzehnbittengebets: וְהַנֹּצְרִים וְהַמִּינִים „die Christen und die Häretiker (reiße aus / vernichte in unseren Tagen im Nu)“. Auch im Ivrit heißt „Christ, christlich“ נוֹצְרִי [noːtsˈri]. Ähnlich im Koran, wo نصارى naṣārā „Christen“ bedeutet (Sg. نصراني naṣrānī), z.B. 2,62 [63/59]; 5,51 [52/56]; 9,30 (Surenzählung nach dem Corpus Coranicum, in eckigen Klammern nach der Ahmadiyya-Ausgabe / der Übersetzung von Max Henning). Ins westliche Bewusstsein gedrungen ist dieses arab. Wort im Jahre 2014, als die ISIS den Buchstaben ن (Nun) an die Häuser von Christen in Mossul gesprüht hat (s.a. Wikipedia Nun (letter): Social media campaign (2014)).

Das Formans -αῖος -aíos ist auch sonst für die Bildung von Gentilizia bzw. Adjektiva zu Toponymen nicht ungeläufig:

Gleich gebildet sind auch:

Mk und Lk gebrauchen als Herkunftsbezeichnung Jesu Ναζαρηνός Nazarēnós: Mk 1,24; 10,47; 14,67; 16,6; Lk 4,34; 24,19. (Mt 26,71 ~ Mk 14,67 weist ebenfalls daraufhin, dass Nazōraíos und Nazarēnós als Synonyme betrachtet wurden.) Dies ist gebildet wie:

Die syr. Peschitta gibt auch Nazarēnós mit Nāṣrājâ wieder, hat also ebenfalls die beiden Wörter als Synonyme betrachtet. Gleiches gilt für die lat. Vulgata, die immer Nazarenus hat, mit einer Ausnahme: Mt 2,23 steht Nazar(a)eus.

In einigen Fällen wird die Herkunft Jesu bezeichnet durch die Wendung Ἰησοῦς (ὁ) ἀπὸ Ναζαρέθ Iēsoús (ho) apó Nazaréth „Jesus (der) von Nazareth“ (Mt 21,11; Mk 1,9; Joh 1,45; Apg 10,38).

Zusammenfassend kann man sagen, dass zwar das o in Nazoräer nicht 100%-ig befriedigend geklärt werden kann, dass es aber beim derzeitigen Kenntnisstand am plausibelsten erscheint, das Wort auf die Herkunft aus Nazareth zu beziehen.

Anhang: zur Geographie von Nazareth


Karte von Nazareth und Umgebung.–
Urheber: Shepherd, William R.: Historical Atlas.– New York, Henry Holt & Co., 1926. S. 6-7: Reference Map of Ancient Palestine.– Quelle: Perry-Castañeda Library Map Collection (University of Texas Libraries).– Lizenz: gemeinfrei.– Bearbeitung: Bildausschnitt, automatischer Weißabgleich, drei Labels eingefärbt.

Die (offenbar trocken gefallene) unterirdische Quelle in der St.-Gabriels-Kirche, in die Besucher Münzen geworfen haben.–
Quelle: Wikimedia (höhere Auflösungen).– Urheber: Wikipedia-User Ori~, 2009.– Lizenz: „The copyright holder of this file allows anyone to use it for any purpose, provided that the copyright holder is properly attributed.“

Nazareth liegt im Süden Untergaliläas, fast am Rande der Jesreelebene. (Durch diese fruchtbare Ebene verlief die heute Via Maris genannte Straße, die das Nildelta mit Damaskus verband.) Der antike Ort erstreckte sich am Hang eines Bergkessels. Der Berg Tabor, der sich markant aus der Jesreelebene erhebt, ist nicht ganz 9 km Luftlinie entfernt. (Hier hat der Kampf Siseras gegen Barak stattgefunden, Ri 4,6.12.14; hier hat spätere christliche Tradition die Verklärung Jesu verortet, s. Mk 9,2ff.)

Nach allem, was wir wissen, war Nazareth klein; es hatte nach aktuellem Kenntnisstand zur Zeit Jesu höchstens 400 Einwohner. Wenn es im NT als πόλις pólis „Stadt“ bezeichnet wird (Mt 2,23; Lk 1,26; 2,39), so bedeutet das (wie hebr. עִיר ʿîr) nicht mehr als „Ortschaft, Niederlassung, Wohnstätte“. Jesus wuchs also in bescheidenen, dörflichen Verhältnissen auf, die von der Landwirtschaft geprägt waren. Von daher erklärt sich auch Jesu Verhältnis zur Natur (z.B. Mt 6,26.28f). Nazareth war sicher zu klein, um mehreren Bauhandwerkern (Josef, Jesus, vielleicht auch der eine oder andere von Jesus' Brüdern) auf Dauer genug Arbeit zu verschaffen. Sie mussten vermutlich immer wieder Lohn und Brot in größeren Städten, wo mehr gebaut wurde, suchen. (Jesus war von Beruf τέκτων téktōn, das ist nicht nur ein „Zimmermann“, wie Luther Mk 6,3 und Mt 13,55 übersetzt hat, sondern auch Steinmetz, Maurer, Tischler, Schmied.)

Nazareth hat eine Quelle, deren Wasser offenbar an mehreren Stellen zu Tage trat. So z.B. in der griechisch-orthodoxen St.-Gabriels-Kirche. Aber auch beim sog. Marien- oder Jungfrauenbrunnen, dessen Brunnenhaus auf alten Ansichtskarten als Wahrzeichen vielfach abgelichtet ist. Es stammt vermutlich aus byzantinischer Zeit. Das heutige Brunnenhaus ist allerdings ein funktionsloses Denkmal. Die Tradition, dass der Engel, der die Geburt Jesu verkündigte, Maria beim Brunnen ansprach, ist erst im 2. Jh. bezeugt, z.B. im Protevangelium des Jakobus 11,1: καὶ ἔλαβεν τὴν κάλπην καὶ ἐξῆλθεν γεμίσαι ὕδωρ· καὶ ἰδοὺ φωνὴ λέγουσα· χαῖρε κεχαριτωμένη, ὁ κύριος μετὰ σοῦ… „Und sie nahm den Krug und ging hinaus, (ihn) mit Wasser zu füllen; und siehe, eine Stimme, die sagte: Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir…“.

Das Dorf hatte wohl keine öffentlichen Gebäude. Im NT ist aber die Existenz einer Synagoge bezeugt (Mt 13,54; Mk 6,1f; Lk 4,16). (Dass sich das ärmliche Kaff eine Jesajarolle leisten konnte (Lk 4,17ff), wird gerne in Zweifel gezogen.) Vermutlich gehörte zur Synagoge auch eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad. Ob das große Bad, das kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts nahe dem Marienbrunnen entdeckt wurde, osmanisch, aus der Kreuzfahrerzeit, byzantinisch oder gar römisch ist, ist offenbar noch nicht geklärt.

Der nächste Ort war das nur 3 km entfernte Japhia (יָפִיעַ Jap̱îaʿ, heute Kfar Yafia bzw. arab. Yafa an-Naseriyye) (s. Jos 19,12). Das ist ziemlich sicher der von Flavius Josephus Japha genannte Ort, von dem er sagt: ἀφίκοντο εἰς Ἰάφαν κώμην μεγίστην οὖσαν τῶν ἐν τῇ Γαλιλαίᾳ, τείχεσιν ὀχυρωτάτην καὶ πολλῶν οἰκητόρων μεστήν. „Sie gelangten nach Japha, das das größte Dorf in Galiläa ist, mit Mauern stark befestigt und voll vieler Bewohner“ (Ios. vita 45 [§ 230]). Josephus hatte den Ort im Jüdischen Krieg selber befestigt (bell.Iud. 2,20,6 [§ 573], vita 37 [§ 188]) und eine Zeitlang dort gewohnt (vita 52 [§ 270]), ehe es von Trajan blutig erobert wurde (bell.Iud. 3,7,31 [§ 289-306]).

Die nächste „Großbaustelle“ war das weniger als 6 km Luftlinie entfernte Sepphoris (hebr. Ṣippôrî). Der Ort war nach dem Tode Herodes' des Großen in einen zelotischen Aufstand verwickelt und vom syrischen Statthalter P. Quinctilius Varus zerstört worden. Der neue Landesherr Herodes Antipas (reg. 4 v.-39 n.Chr.) ließ ihn neu aufbauen und machte ihn zu seiner Hauptstadt. (Im 2. Jh. wurde die Stadt in Diocaesarea umbenannt. Auf manchen historischen Karten findet man sie daher stattdessen unter diesem Namen.)

Ab dem Jahr 17 ließ Herodes die Stadt Tiberias am See Genezareth erbauen und machte sie im Jahr 19 zu seiner neuen Hauptstadt. Tiberias liegt von Nazareth etwa 25 km Luftlinie entfernt. Möglicherweise hat Jesus durch seine Arbeit hier den See Genezareth kennen- und lieben gelernt. Bekanntlich ist Jesus zu Beginn seines öffentlichen Wirkens von Nazareth nach Kapernaum (ökumen. Kafarnaum) am See Genezareth übersiedelt (Mt 4,13). Von da waren es bis zur neuen Hauptstadt nur gut 15 km. Dennoch berichten die Evangelien nichts davon, dass Jesus während seines öffentlichen Wirkens jemals in Tiberias gewesen ist.

Nach Caesarea Maritima, wo der römische Statthalter residierte, sind es ca. 45 km Luftlinie. Nach Caesarea Philippi, der Residenz des (Herodes) Philippus (reg. 4 v.-34 n.Chr.), des Halbbruders des Herodes Antipas, sind es schon 71 km (s. Mt 16,13; Mk 8,27). Nach Siegfried Zimmer mag ein Grund für Jesu Übersiedlung nach Kapernaum gewesen sein, dass der Ort nur 4 km von der Landesgrenze entfernt lag. In einer Dreiviertelstunde war man schon in der Gaulanitis, die zum Herrschaftsgebiet des Philippus gehörte.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 29. Feb. 2020