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Schrecklich wie die nidgālôt

In Hld 6,4-10 preist der Mann die Schönheit seiner Angebeteten. (In V.10 kommen vielleicht die in V.9 genannten Frauen zu Wort.) Die Verse Hld 6,4.10 lauten:

6,4 יָפָה אַתְּ רַעְיָתִי כְּתִרְצָה Schön (bist) du, meine Freundin, wie Tirza,
נָאוָה כִּירוּשָׁלָםִ lieblich wie Jerusalem,
אֲיֻמָּה כַּנִּדְגָּלֹות׃ schrecklich wie die nidgālôt.
6,10 מִי־זֹאת הַנִּשְׁקָפָה כְּמֹו־שָׁחַר Wer (ist) diese, die sich erhebt wie das Morgenrot,
יָפָה כַלְּבָנָה schön wie der Mond,
בָּרָה כַּחַמָּה rein wie die Sonne,
אֲיֻמָּה כַּנִּדְגָּלֹות׃ schrecklich wie die nidgālôt?

Das letzte Wort der beiden Verse ist eine alte crux. Hier ein paar Übersetzungen:

Das Wort נדְגָּלוֺת nidgālôt ist formal ein Niph. Part. Fem. Pl. zum Verbum דגל dgl. Aber was heißt dgl? Frühere Lexikographen fassten es denominal vom Subst. דֶּגֶל dægæl „Feldzeichen, Fahne, Banner, Panier“. Das Verb würde dann bedeuten „die Fahne erheben“ o.ä. Dafür verweist man auf Ps 20,6: וּבְשֵׁם־אֱלֹהֵינוּ נִדְגֹּל (nidgol, Qal Impf. 1. Pl.) „und im Namen unseres Gottes erheben wir das Banner“. Allerdings passt das auf den ersten Blick nicht zu Hld 5,10: דֹּודִי צַח וְאָדֹום דָּגוּל מֵרְבָבָה „mein Geliebter ist weiß und rot, dāgûl vor einer Myriade“. Was kann das Qal Part. Pass. von „die Fahne erheben“ bedeuten? Die meisten Übersetzer verstehen es als „ausgezeichnet, hervorragend“ (weil das aufgerichtete Banner herausragt und weithin sichtbar ist).

Das Niphal von dgl könnte dann vielleicht „mit einem Feldzeichen versehen werden“ bedeuten. Da das Part. Feminin Pl. ist, muss man sich wohl ein passendes Subst. ergänzen (vielleicht מַחֲנֹות maḥanôt „Heerlager, Heere“; צָבָא ṣābâ „Heer“ und גְּדוּד gedûd „Horde, Schar“ sind ja Mask.); aber konnte dieses so leicht entfallen wie im Dt. „die Illustrierte (erg. Zeitschrift)“? „Die mit einem Feldzeichen Versehenen“ sind dann wohl Truppen, Heerscharen o.ä.

Die LXX übersetzt in Hld 5,10 mit ἐκλελοχισμένος ἀπὸ μυριάδων eklelokhisménos apó myriádōn „(aus einer Kohorte) ausgewählt von Zehntausenden“, in Hld. 6,4 mit θάμβος ὡς τεταγμέναι thámbos hōs tetagménai „ein Schrecken wie (in Schlachtordnung) Aufgestellte“ (Fem. Pl., Pope ergänzt φάλαγγες phálanges „Schlachtreihen“). Sie hat das Verbum also der militärischen Sphäre zugeordnet.

Doch all das ist fraglich. Denn in Ps 20,6 hat die LXX μεγαλυνθησόμεθα megalynthēsómetha „wir werden groß gemacht werden“, hat also eine Form von גדל gdl „groß werden“ gelesen (BHS schlägt נַגדִּל nagdil Hiph. Impf. oder נְגַדֵּל negaddel Pi. Impf. vor, beides etwa „groß werden“). Wenn man diese Lesung akzeptiert, entfällt der einzige plausible Beleg für die denominale Herleitung von dgl. Die 18. Aufl. des Gesenius zieht dgl daher zu akkad. dagālu „schauen“. Damit wäre Hld 5,10 gut erklärt: „gesehen, sichtbar, hervorragend unter Zehntausend“. Die nidgālôt von 6,4.10 wären dann „Dinge die man sieht, anschaut“, im weiteren Sinn „Anblicke“, „Erscheinungen“, „Visionen“ oder „Fata Morganas, Luftspiegelungen“. Da es in V.10 neben Morgenrot, Sonne und Mond steht, denken manche Ausleger an ein weiteres Himmelsphänomen wie „Sternbilder, Planeten“ o.ä.

Manche Ausleger halten an der überlieferten Lesung für Ps 20,6 fest, akzeptieren aber gleichzeitig, dass die nidgālôt nichts mit dægæl zu tun haben. Sie unterscheiden dann zwei Verben dgl: I „das Banner erheben“, II „schauen, sehen“. So scheint es z.B. Exum zu halten. Wo dann dāgûl hingehört, ist die (eher akademische) Frage.

Auch Textänderungen wurden gelegentlich vorgeschlagen, z.B. (von wem?) נֵרְגַּל Nergal , mesopotam. Gott des Krieges und der Unterwelt, als Planet der Mars. Winckler (wieder aufgegriffen von Jeremias) konjiziert נרגלות Nergalôt, das die „Zwillinge“ bezeichnen soll (gemeint wohl die Sterne Castor und Pollux, α und β Geminorum).

Die Gefühle, die der Anblick der Person, in die man verliebt ist, hervorruft, sind mitunter durchaus ambivalent: das atl. Hebr. hat noch nicht das sprachliche Inventarium entwickelt, um diese Gefühle differenziert beschreiben zu können (diese Erkenntnis ist nicht von mir, ich weiß leider nicht mehr, bei wem ich das gelesen habe). Aber „beängstigend, furchterregend“ ist in dieser Achterbahn der Gefühle durchaus mit enthalten. Mit welcher furchterregenden Sache die Geliebte verglichen wird, ist nicht mehr zu eruieren. Sternbilder oder Planeten halte ich trotz des Parallelismus von V.10 für nicht wahrscheinlich, sie sind nicht furchterregend. Ob Fata Morganas für einen Israeliten erschreckend waren, weiß ich nicht.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 16. Juni 2022