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Schrecklich wie die nidgālôt
Schrecklich wie die nidgālôt
In Hld 6,4-10 preist der Mann die Schönheit seiner Angebeteten. (In V.10
kommen vielleicht die in V.9 genannten Frauen zu Wort.) Die Verse Hld 6,4.10
lauten:
6,4 |
יָפָה
אַתְּ רַעְיָתִי כְּתִרְצָה |
Schön (bist) du, meine Freundin, wie Tirza, |
נָאוָה
כִּירוּשָׁלָםִ |
lieblich wie Jerusalem, |
אֲיֻמָּה
כַּנִּדְגָּלֹות׃ |
schrecklich wie die nidgālôt. |
6,10 |
מִי־זֹאת
הַנִּשְׁקָפָה
כְּמֹו־שָׁחַר
|
Wer (ist) diese, die sich erhebt wie das Morgenrot, |
יָפָה
כַלְּבָנָה |
schön wie der Mond, |
בָּרָה
כַּחַמָּה |
rein wie die Sonne, |
אֲיֻמָּה כַּנִּדְגָּלֹות׃ |
schrecklich wie die nidgālôt? |
Das letzte Wort der beiden Verse ist eine alte crux. Hier ein paar
Übersetzungen:
- Luther 1545: „schrecklich wie Heerspitzen“ (was immer das ist)
- King James 1611: „terrible as an armie with banners“
(Kleindruck im Original)
- Luther 1912: „schrecklich wie Heerscharen“
- Luther 1984: „gewaltig wie ein Heer“
- Elberfelder 2001: „furchterregend wie Kriegsscharen“
- Gute Nachricht 1992: „wie ein Trugbild in der Wüste/ raubt dein Anblick
mir den Atem“ (V.4) bzw. „verwirrend wie Bilder im Wüstensand“ (V.10)
- Einheitsübersetzung 2006: „prächtig wie Himmelsbilder“
- Luther 2017: „überwältigend wie die Bilder am Himmel“
Das Wort נדְגָּלוֺת nidgālôt ist formal ein
Niph. Part. Fem. Pl. zum Verbum דגל dgl.
Aber was heißt dgl? Frühere Lexikographen fassten es denominal vom
Subst. דֶּגֶל dægæl „Feldzeichen, Fahne, Banner,
Panier“. Das Verb würde dann bedeuten „die Fahne erheben“ o.ä. Dafür verweist
man auf Ps 20,6: וּבְשֵׁם־אֱלֹהֵינוּ נִדְגֹּל (nidgol,
Qal Impf. 1. Pl.) „und im Namen unseres Gottes erheben wir das Banner“.
Allerdings passt das auf den ersten Blick nicht zu Hld 5,10:
דֹּודִי צַח וְאָדֹום דָּגוּל מֵרְבָבָה „mein Geliebter ist weiß
und rot, dāgûl vor einer Myriade“. Was kann das Qal Part. Pass. von
„die Fahne erheben“ bedeuten? Die meisten Übersetzer verstehen es als
„ausgezeichnet, hervorragend“ (weil das aufgerichtete Banner herausragt und
weithin sichtbar ist).
Das Niphal von dgl könnte dann vielleicht „mit einem Feldzeichen
versehen werden“ bedeuten. Da das Part. Feminin Pl. ist, muss man sich wohl
ein passendes Subst. ergänzen (vielleicht מַחֲנֹות
maḥanôt „Heerlager, Heere“; צָבָא
ṣābâ „Heer“ und גְּדוּד gedûd
„Horde, Schar“ sind ja Mask.); aber konnte dieses so leicht entfallen wie im
Dt. „die Illustrierte (erg. Zeitschrift)“? „Die mit einem Feldzeichen
Versehenen“ sind dann wohl Truppen, Heerscharen o.ä.
Die LXX übersetzt in Hld 5,10 mit ἐκλελοχισμένος ἀπὸ μυριάδων
eklelokhisménos apó myriádōn „(aus einer Kohorte) ausgewählt von
Zehntausenden“, in Hld. 6,4 mit θάμβος ὡς τεταγμέναι thámbos hōs tetagménai
„ein Schrecken wie (in Schlachtordnung) Aufgestellte“ (Fem. Pl., Pope ergänzt
φάλαγγες phálanges „Schlachtreihen“). Sie hat das Verbum also der
militärischen Sphäre zugeordnet.
Doch all das ist fraglich. Denn in Ps 20,6 hat die LXX μεγαλυνθησόμεθα
megalynthēsómetha „wir werden groß gemacht werden“, hat also eine
Form von גדל gdl „groß werden“ gelesen
(BHS schlägt נַגדִּל nagdil Hiph. Impf. oder
נְגַדֵּל negaddel Pi. Impf. vor,
beides etwa „groß werden“). Wenn man diese Lesung akzeptiert, entfällt der
einzige plausible Beleg für die denominale Herleitung von dgl.
Die 18. Aufl. des Gesenius zieht dgl daher zu akkad. dagālu
„schauen“. Damit wäre Hld 5,10 gut erklärt: „gesehen, sichtbar, hervorragend
unter Zehntausend“. Die nidgālôt von 6,4.10 wären dann „Dinge die man
sieht, anschaut“, im weiteren Sinn „Anblicke“, „Erscheinungen“, „Visionen“
oder „Fata Morganas, Luftspiegelungen“. Da es in V.10 neben Morgenrot, Sonne
und Mond steht, denken manche Ausleger an ein weiteres Himmelsphänomen wie
„Sternbilder, Planeten“ o.ä.
Manche Ausleger halten an der überlieferten Lesung für Ps 20,6
fest, akzeptieren aber gleichzeitig, dass die nidgālôt nichts mit
dægæl zu tun haben. Sie unterscheiden dann zwei Verben dgl:
I „das Banner erheben“, II „schauen, sehen“. So scheint es z.B. Exum zu halten.
Wo dann dāgûl hingehört, ist die (eher akademische) Frage.
Auch Textänderungen wurden gelegentlich vorgeschlagen, z.B. (von wem?)
נֵרְגַּל Nergal , mesopotam. Gott des Krieges
und der Unterwelt, als Planet der Mars. Winckler (wieder aufgegriffen von
Jeremias) konjiziert נרגלות Nergalôt, das
die „Zwillinge“ bezeichnen soll (gemeint wohl die Sterne
Castor und
Pollux, α und β
Geminorum).
- Winckler hält die nidgālôt für „sterne (irgend welcher art)“ und
übersetzt V.10 „hehr wie die planeten“. Für V.4 postuliert er eine
Textverderbnis, Tirza und Jerusalem müssten in Wahrheit Mond und Sonne sein.
Winckler äußert viele Ideen, aber wenig Argumente.
- Byington votiert für das Polarlicht oder Kometen. In seiner Bibelübersetzung
(The Bible in Living English) entscheidet er sich für ersteres: „terrible as
the aurora“ („schrecklich wie das Polarlicht“).
- Rudolph ist der Meinung, dass dægæl nicht nur im militärischen
Sinn, sondern auch für andere Arten von Zeichen gebraucht werden konnte,
also auch für Sterne und Sternbilder. So übersetzt er „furchterregend wie
Himmelsbilder“ (wenngleich er die Übersetzung als Notbehelf bezeichnet).
- Goitein nimmt für V.10 die Bedeutung „stars of first class magnitude“
(„Sterne
der ersten Größenklasse“) an und postuliert für ʾajummâ
eine Bedeutungsentwicklung von „furchtbar, schrecklich, terrible“ zu
„erstaunlich, großartig, außergewöhnlich, terrific“. So kommt er zur
Übersetzung „splendid like the brilliant stars“ („prächtig wie die hellen
Sterne“). Die hellen Sterne sind eine Ad-hoc-Behauptung, die zu begründen
Goitein sich nicht die Mühe macht.
- Gerlemann übersetzt „furchterregend wie die Trugbilder“ und erklärt es
mit der Erscheinung, die „die (nur) Gesehene“ genannt werden kann, der Fata
Morgana. Sie kommt in der arab. Poesie häufig vor, und Diodorus Siculus
beschreibt ihre erschreckende Wirkung auf die Unerfahrenen.
- Gordis fasst den Artikel als zurückverweisendes Demonstrativum und
übersetzt „awe-inspiring as/like these great sights“ („furchteinflößend wie
diese großartigen Anblicke“), nämlich die „Großstädte“ Tirza und Jerusalem in
V.4 bzw. Morgenrot, Mond und Sonne in V.10. Das ist etymologisch zwar
einleuchtend, doch will mir ein Parallelismusglied der Bedeutung „wie die
eben Genannten“ nur mäßig plausibel erscheinen.
- Pope übersetzt „trophies“ („Trophäen“) und denkt dabei an die Trophäen
der ugarit. Göttin Anat, die die Köpfe getöteter Männer auf dem Rücken und
ihre abgeschlagenen Hände als Gürtel an der Hüfte trägt. Das erscheint mir
dann, sprachlich und kulturell, etwas weit hergeholt.
- Falk übersetzt in ihrer zweisprachigen Lyrikedition „frightening as
visions“ („erschreckend wie Visionen“). Visionen mögen erschreckend sein,
aber wann hat man die jemals?
- Landy greift im Prinzip auf Rudolph zurück und wählt „terrible as
constellations“ („schrecklich wie Sternbilder“), welch letzteres er als
schlichten, ausgleichenden Ausdruck („unambitious middle term“) bezeichnet.
Aber wieso sind Sternbilder schrecklich?
- Exum schließt sich Gordis an: „as awesome in splendor as they“ („so
beängstigend an Pracht/Glanz wie sie“).
Die Gefühle, die der Anblick der Person, in die man verliebt ist, hervorruft,
sind mitunter durchaus ambivalent: das atl. Hebr. hat noch nicht das sprachliche
Inventarium entwickelt, um diese Gefühle differenziert beschreiben zu können
(diese Erkenntnis ist nicht von mir, ich weiß leider nicht mehr, bei wem ich
das gelesen habe). Aber „beängstigend, furchterregend“ ist in dieser Achterbahn
der Gefühle durchaus mit enthalten. Mit welcher furchterregenden Sache die
Geliebte verglichen wird, ist nicht mehr zu eruieren. Sternbilder oder Planeten
halte ich trotz des Parallelismus von V.10 für nicht wahrscheinlich, sie sind
nicht furchterregend. Ob Fata Morganas für einen Israeliten erschreckend waren,
weiß ich nicht.
- Hohelied 6,4;
Hohelied 6,10
(in verschiedenen Übers. auf sermon-online)
- Winckler, Hugo: Altorientalische Forschungen. 1. Reihe, Heft 3: Zum alten
Testament.– Leipzig: Pfeiffer, 1895.
S. 293
- Winckler, Hugo: Altorientalische Forschungen. 3. Reihe, Bd. 2/1: Tirṣa.–
Leipzig: Pfeiffer, 1902.
S. 240f
- Jeremias, Alfred: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients.– 3. (dt.)
völlig neu bearb. Aufl. Leipzig: Hinrichs, 1916.
S. 592
- Byington,
Steven T[racy]: „נדגלות“, Journal of Bibl. Lit. 39 (1920), S. 82.
- Rudolph, Wilhelm: Das Buch Ruth. Das Hohe Lied. Die Klagelieder.– Gütersloh:
Mohn, 1962. (Kommentar zum A. T., Bd. 17)
S. 162
- Goitein, S[helomo] D[ov]: „Ayummā Kannidgālōt (Song of Songs vi. 10)
‘Splendid like the brilliant stars’“, Journal of Semitic Studies 10 (1965),
S.220f
- Gerlemann, Gillis: Ruth. Das Hohelied.– Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
Verl. d. Erziehungsvereins, 1965. (Bibl. Kommentar A. T., Bd. 18)
S. 181-183
- Gordis, Robert: „The Root דגל
in the Song of Songs“, Journal of Bibl. Lit. 88/2 (1969), S. 203f
- Pope, Marvin H.: Song of Songs. A new Translation with Introd. and Commentary.–
Garden City: Doubleday, 1977. (The Anchor Bible, Bd. 7C)
S. 560-563
- Falk, Marcia: The Song of Songs. A New Translation.– San Francisco:
HarperCollins, 1993.
Kap. 20
(keine Paginierung, ca. S. 52)
- Landy, Francis: Beauty and the Enigma. And Other Essays on the Hebrew
Bible.– Sheffield: Academic Pr., 2001. (Journal for the Study of the O. T.
Suppl. Series 312)
S. 38f,
Anm. 13
- Exum, J. Cheryl: Song of Songs. A Commentary.– Louisville: Westminster
John Knox, 2005.
S. 218