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Ps 22,17: Wie ein Löwe


Ps 22 ist jener Psalm, den Jesus am Kreuz gebetet hat. Insbes. der V.17 ist zwischen jüdischen und christlichen Übersetzern umstritten.

Masoretischer Text

Der masoretische Text von Ps 22,17 lautet:

כִּי סְבָבוּנִי כְּלָבִים Denn umgeben haben mich Hunde,
עֲדַת מְרֵעִים הִקִּיפוּנִי eine Bande von Übeltätern haben (Pl.!) mich eingekreist,
כָּאֲרִי יָדַי וְרַגְלָי׃ wie ein Löwe meine Hände und meine Füße.

Es liegt auf der Hand, dass im dritten Kolon ein Verbum fehlt. Denn auch wenn man annimmt, dass Subjekt und Prädikat des zweiten Kolons weiterwirken, ergibt das nicht wirklich einen plausiblen Text: „wie ein Löwe [haben sie] meine Hände und Füße [eingekreist, umzingelt]“. Ein einzelner Löwe kann niemand umzingeln. Das Hifʿil von nkp kann zwar auch „umkreisen“ bedeuten (wie in Jos 6,3), die Meute der Übeltäter wird den Psalmbeter sinnvollerweise aber nicht „umkreisen“ (wie ein Satellit), sondern ihn „einkreisen, umzingeln“, sodass es für ihn kein Entkommen gibt.

Die Elberfelder übersetzt in der Fußnote zu diesem Vers den masoretischen Text mit: „eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt, meine Hände und Füße wie die eines Löwen“. Beispiele für eine solche Verwendung von כְּ „wie, gleich, entsprechend“ lassen sich namentlich aus Jes beibringen, z.B. Jes 5,29 שְׁאָגָה לֹו כַּלָּבִיא „Gebrüll hat er gleich einer Löwin“ = „wie (das Gebrüll) einer Löwin“, Jes 29,4 וְהָיָה כְּאֹוב מֵאֶרֶץ קֹולֵךְ „und deine Stimme wird sein gleich einem Totengeist aus der Erde“ = „wie (die Stimme) eines Totengeistes“, Jes 63,2 מַדּוּעַ אָדֹם לִלְבוּשֶׁךָ וּבְגָדֶיךָ כְּדֹרֵךְ בְּגַת „warum hat dein Gewand Rotes und (sind) deine Kleider gleich einem Keltertreter“ = „wie (die Kleider) eines Keltertreters“, Ps 18,34 מְשַׁוֶּה רַגְלַי כָּאַיָּלֹות „machend meine Füße gleich Hirschkühen“ = „wie (die Füße) von Hirschkühen“ u.ä. Doch macht ein solches Verständnis unseren Text nicht plausibler: „sie haben meine Hände und Füße wie (die Hände und Füße) eines Löwen umzingelt“. Hat ein Löwe Hände? Kann man Hände und Füße „umzingeln“? Man darf in der Dichtung nicht alles auf die Goldwaage legen, aber die poetische Lizenz hat auch Grenzen.

Die von Leopold Zunz redigierte Übersetzung (die Psalmen wurden von Michael Sachs übersetzt) ist eine bedeutende jüdische Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Trotz der oben genannten Bedenken haben Zunz/Sachs (1848) den Text folgendermaßen wiedergeben:

Denn mich umringen Hunde, der Bösewichter Rotte umkreiset mich, gleich Löwen, an Händen und Füßen.

Um die Unstimmigkeit des Bildes abzumildern, wurde der Löwe in den Plural gesetzt, die Suffixkonjugation mit deutschem Präsens übersetzt. Das Possessivsuffix bei den Händen und Füßen wurde weggelassen (warum eigentlich?), sodass unklar ist, von wessen Gliedmaßen die Rede ist.

Gregory Vall verweist in seinem Aufsatz (s.u.) auf die „phantasievolle und erbauliche Erklärung“ im Psalmenkommentar des Rabbi David Qimchi (1160–1235), a.k.a. Radak (dt. Wiedergabe der engl. Übersetung von Rowland Finch):

עֲדַת מְרֵעִים הִקִּיפוּנִי כָּאֲרִי יָדַי וְרַגְלָי׃ Die Versammlung der Übeltäter hat mich eingekreist wie ein Löwe – meine Hände und meine Füße:
כי הקיפוני כמו הארי שמקיף בזנבו ביער denn sie haben mich eingekreist wie der Löwe, der mit seinem Schwanz einen Kreis im Wald macht,
וכל חיה שתראה אותה העגלה לא תצא משם ממורא האריה ומפחדו, und kein Geschöpf, das diesen Kreis sieht, bewegt sich von dort hinaus aus Angst vor dem Löwen und dem Schrecken, den er einflößt,
ותאספנה ידיהן ורגליהן וימצא האריה טרפו בתוך עגלתו. sondern sie falten ihre Hände und ihre Füße, und der Löwe findet seine Beute in der Mitte seines Kreises.
כן אנחנו בגלות בתוך העגלה לא נוכל לצאת ממנה שלא נהיה ביד הטורפים, So sind wir im Exil in der Mitte eines Kreises, aus dem wir nicht herauskommen können, damit wir nicht in die Hände der Verderber fallen;
כי אם נצא מרשות הישמעאלים נבא ברשות הערלים, denn wenn wir der Macht der Mohammedaner entrinnen sollten, würden wir in die Macht der Unbeschnittenen fallen,
והנה אנחנו אוספים ידינו ורגלינו ועומדים יראים ופוחדים בפניהם, und daher falten wir unsere Hände und Füße und stehen ängstlich und schreckerfüllt vor ihnen;
כי אין לנו רשות לברוח ברגלינו ולהלחם בידינו; denn wir haben keine Macht, entweder zu Fuß zu entkommen oder mit unseren Händen zu kämpfen.
והנה כאילו ידינו ורגלינו בנחשתים. Siehe, es ist gerade so, als seien unsere Hände und Füße in Fesseln!

Finch übersetzt הקיפו mit „they have encircled“, מקיף mit „makes a circuit“, es handelt sich im Hebr. aber um dasselbe Wort. War Radak bewusst, dass er das Wort in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht hat?

Eine engl. Übersetzung jüdischer Provenienz ist die der Jewish Publication Society Version (1917). Sie übersetzt:

For dogs have encompassed me,
A company of evil-doers have inclosed me;
Like a lion, they are at my hands and my feet

Dass יָדַי וְרַגְלָי „sie sind an meinen Händen und Füßen“ heißen kann, halte ich für sehr zweifelhaft.

Auch der protestantische Theologe Franz Delitzsch übersetzt in seinem Psalmenkommentar (1894) so, allerdings etwas genauer als Zunz/Sachs:

Denn umringt haben mich Hunde,
Eine Bösewichter-Rotte mich umkreiset,
Dem Löwen gleich, meine Händ' und Füße.

In seinem Kommentar sagt Delitzsch dann allerdings (S. 215): „Aber auch abgesehen davon [näml. dass die Handschriften schwanken] hat die recepta כָּֽאֲרִי alle alten Zeugen gegen sich.“ Und bricht eine Lanze für die Wiedergabe der LXX (s.u.).

Die handschriftliche Überlieferung


Ps 22,17 in der Complutensischen Polyglotte (Kennicotts Cod. 270), einer nach philologischen Prinzipien erstellten Ausgabe des Bibeltextes, die eine der ältesten gedruckten Ausgaben des hebr. AT enthält. Sie wurde ca. 1511-17 gedruckt und 1520 vom Papst zur Veröffentlichung freigegeben. Sie liest כָּארוּ kârû und erklärt in den Randnoten, wie sie das verstanden wissen will: כָּרַה (sic!) kârâ „graben“.– Quelle: Archive.org.– Lizenz: gemeinfrei.– Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt, das fragliche Wort eingefärbt, den Dagesch im Kaph verstärkt.

Zum jetzigen Zeitpunkt (Okt. 2022) ist der Faszikel mit den Psalmen in der BHQ (Biblia Hebraica Quinta) noch nicht erschienen. Maßgeblich ist also immer noch die BHS (Biblia Hebraica Stuttgartensia). Die BHS verzeichnet zwar in ihrem textkritischen Apparat das Vorhandensein von abweichenden Lesarten, nennt aber keine Textzeugen. Sie verweist dafür auf die entsprechenden Angaben in den Werken von Kennicott, De Rossi (beide online verfügbar) und Ginsburg.

Die Varianten zu כארי bei Kennicott:
כאריה 245
כארו 39, 267, 270, 277 in fine, 288, 660 (4, 96); forte 207; nunc 242
כרו 283 A, 291 marg. 539 marg. 542 marg. 649.

אַרְיֵה ʾarjê ist nur ein anderes Wort für den Löwen, wie im Dt. „Leu“ und „Löwe“.
כארו ist eine Verbform Suffixkonjug. 3. Pl., כָּארוּ kârû oder כָּאֲרוּ kāʾa zu vokalisieren.
כָּרוּ kārû (die reguläre Form für „sie haben gegraben“) düfte kaum die ursprüngliche Lesart sein. Denn es wäre schwer zu erklären, wieso daraus in der Überlieferung כארו bzw. כארי geworden sein soll. Und wieso Aquila, Symmachus und Hieronymus es nicht auch so übersetzt haben (s.u.).
Über den Wert von Handschriften kann man natürlich immer streiten. Paulus etwa tut Cod. 270, die Complutensische Polyglotte, mit den Worten ab: „Wenig können die von Christen besorgten Ausgaben beweisen.“ (S. 135) Warum? Weil Christen voreingenommener sind als Juden? Bruns behauptet, dass im von Kennicott sehr gelobten Cod. 39 das Jod erst nachträglich in Waw geändert worden ist. Aber was beweist das? Cod. 660 ist keine Handschrift, sondern eine sekundäre Nachricht im 4. Bd. von Wolfs Bibliotheca Hebraea. Die Lesart mit dem Waw () ist im masoret. Text nur schwach bezeugt, aber bezeugt ist sie immerhin. Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Lesarten s. De Rossi und Paulus.

Ginsburg hat in seiner engl. Übersetzung der Masora zwei Einträge zur Form כארי. Diesen zu Folge kommt diese Form viermal im AT vor, zweimal mit Qametz unter dem Kaph (כָ), zweimal mit Patach (כַ). Im heutigen Text sind das Ps 22,17 und Jes 38,13 bzw. Num 24,9 und Hes 22,25. Genauer zur Masora, soweit sie unseren Vers betrifft, erklärt Ginsburg sich in seiner Introduction, wo er auch den hebr.-aram. Text der Masora zitiert:

Num 24,9 Mas. parva כַּאֲרִי ד׳ ב׳ קמצין וב׳ פתחין. kaʾa: viermal, zweimal mit Qametz und zweimal mit Patach.
Mas. magna כארי ב׳ וסי׳ „כרע שכב כארי”. „כארי ידי ורגלי” כארו כתיב. kʾrj: zweimal [wie im Num-Text mit Patach?] und das Buch (?), „er hat sich hingekauert, er hat sich hingelegt wie ein Löwe“ (= Num 24,9), „wie ein Löwe meine Hände und meine Füße“ (= Ps 22,17), geschrieben (Ketiv) kʾrw.
Ps 22,17 Mas. parva כָּאֲרִי ב׳ קמצין בתרי׳ ליש׳ „שויתי עד בקר”. kāʾarî: zweimal mit Qametz, in zwei Bedeutungen, „ich habe beschwichtigt bis zum Morgen“ (= Jes 38,13).

Die Masora (hebr. מָסוֹרָה māsôrâ „Überlieferung, Tradition“) ist für den nicht Eingeweihten (zu denen ich auch gehöre) wegen der vielen Abkürzungen schwer zu lesen. Bibelstellen werden nicht nach Buch, Kapitel (erst Anfang des 13. Jh. eingeführt) und Vers (Mitte des 16. Jh. eingeführt) zitiert, sondern durch Zitierung von ein paar Wörtern aus der Stelle.

Die Masora magna zu Num 24,9 enthält eine abweichende Tradition zur Frage, an welchen zwei Stellen kʾrj mit Qametz und an welchen mit Patach geschrieben wird (der jetzige Text hat Ps 22,17 mit Qametz). Aber sie bezeugt das Vorhandensein einer Textvariante kʾrw mit Waw am Schluss, die von den Masoreten jedoch als fehlerhaft erachtet wurde. Außerdem bezeugt sie, dass der Masoret der Meinung war, das Wort müsse an unserer Stelle etwas anderes bedeuten als in Jes 38,13.

Im Naḥal Ḥever in der jüdäischen Wüste wurden im vorigen Jh. in Höhle 5/6 u.a. Fragmente hebr. Bibeltexte gefunden. Darunter ist auch ein Fragment, das Ps 22,15-21 enthält (5/6ḤevPsalms, auch als 5/6Ḥev1b bezeichnet, Col. XI, Frg. 9). Es wird auf Grund der Schrift auf ca. 50-68 n.Chr. datiert. Der Text hat laut Herausgeber Peter Flint in V.17 eindeutig כארו (und interessanterweise ידיה̇).


Eines der Qumran-Fragmente 4QPsf: oben Ausschnitt aus dem Scan des Negativs von 1959, unten Scan des Fragments von 2013, rot eingerahmt das verlorene Stück Pergament. In der oberen (= vorletzten) Zeile ist noch zu lesen: כלבים עדת מר „Hunde, eine Bande von Übel-“. Von der letzten Zeile sind die oberen Ränder einiger Buchstaben erhalten. Mit einigem guten Willen vermag der Laie noch auszumachen: הקי (der Anfang von הִקִּיפוּנִי „(sie) haben mich umzingelt“), danach noch vielleicht drei weitere Buchstaben.– Quelle: Die Leon Levy Digitale Bibliothek Schriftrollen vom Toten Meer.– Bearbeitung: Kontrast der Scans verstärkt.

In den Fragmenten von Qumran ist auch Ps 22,14-17 bruchstückhaft überliefert. Die mit 4Q88 bzw. 4QPsf bezeichneten Fragmente stammen von ca. 50 v.Chr. Leider ist das Ende von V.17 so schlecht erhalten, dass nicht sicher gesagt werden kann, was hier gestanden hat. Wenn man die Scans der Fragmente der Leon Levy Digitalen Bibliothek Schriftrollen vom Toten Meer betrachtet und den Scan der Tafel 1149 Frg. 1 von 2013 mit den Scans des Negativs M43.026 von 1959 vergleicht, stellt man fest, dass genau an der Stelle, wo der obere Rand unseres Wortes gewesen sein muss, inzwischen ein Stück des Pergaments ausgebrochen ist, auf dem 1959 noch der Rand von zwei (?) Buchstaben sichtbar war. (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.) Daher ist auch nicht klar, wie der Herausgeber Eugene Ulrich zur Lesung כ̊ר̊[ו] kr[w] (d.i. kārû) gelangt ist. Wenn er korrekt gelesen hat, würde es jedenfalls erklären, wie die LXX zu ihrer Übersetzung kommt.

Die Septuaginta

Christliche Übersetzer orientieren sich in schwierigen Fällen gerne an der LXX. Dort lautet Ps 21,17 (so die Zählung der griech. Bibel):

ὅτι ἐκύκλωσάν με κύνες πολλοί, Denn umkreist haben mich viele Hunde,
συναγωγὴ πονηρευομένων περιέσχον με, eine Versammlung von Übeltätern hat mich umgeben,
ὤρυξαν χεῖράς μου καὶ πόδας. gegraben haben sie (in) meine Hände und Füße (od. sie haben meine Hände und Füße durch[ge]graben).

Griech. ὀρύσσω (att. -ττω) orýssō „graben, um-, ein-, aus-, durchgraben“ hat hier vielleicht den Sinn von „durchgraben, durchstechen, durchbohren“ (z.B. einen Isthmos, eine Stadtmauer), „ein Loch/ einen Tunnel bohren“. Das ergibt zumindest aus christlicher Sicht einen guten Sinn, wenn man bedenkt, dass Jesus diesen Psalm gebetet hat, als er ans Kreuz genagelt war. Wie die jüdischen Übersetzer das verstanden wissen wollten, bleibt unklar.

Wenn man das christliche Vorverständnis außer Acht lässt, stellt sich die Frage, was „(in) die Hände und Füße graben“ heißen soll. Als metaphorischen Gebrauch von orýssō verzeichnet Liddell/Scott „bohren, ausquetschen, ausstechen“, z.B. ὀρύττειν τὠφθαλμώ „in die Augen bohren, die Augen ausquetschen“ (Aristoph. Av. 443f), παίειν ὀρύττειν πὺξ ὁμοῦ καὶ τῷ πέει „zu schlagen, zu bohren, mit der Faust und zugleich mit dem Penis“ (Aristoph. Pax 899), ἐπέκειτο τοὺς ὀφθαλμοὺς ὀρύττων „er setzte (ihm) zu, (seine) Augen ausstechend“ (Philostr. Vita Apollonii 8,25), ὀφθαλμὸν ὤρυττέν τις ὥσπερ ἰχθύος „einer stach ein Auge aus wie das eines Fisches“ (Antiphanes frg. 119 Comic. Attic. Frg. ed. Kock).

Für das Hebr. zeigt Ps 40,7 אָזְנַיִם כָּרִיתָ לִּי „Ohren hast Du mir gegraben“ metaphorischen Gebrauch von krh. Das Bild ist wohl so gemeint, dass die Ohren „ausgegraben“, freigelegt wurden und somit Hören ermöglicht wurde. Das Gegenteil wären dann verstopfte, verschlossene, „zugeschüttete“ Ohren. Ein Gebrauch im Sinn von „durchbohren, durchlöchern“ ist im AT nicht bezeugt. Er kann aber auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden.

Offenbar haben die LXX-Übersetzer statt כָּאֲרִי kāʾa „wie ein Löwe“ eine Form von כרה krh „graben“ gelesen oder den Text zumindest in diesem Sinn verstanden. Der textkritische Apparat bei Kennicott weist für fünf Textzeugen die Lesart כָּרוּ kārû „sie haben gegraben“ aus (davon drei am Rand, eine im Anhang, d.h. wohl als Qerê). Andere Handschriften haben כארו, das könnte כָּארוּ kârû, die plene Schreibung des vorigen, sein oder כָּאֲרוּ kāʾa von einem Verbum כאר kʾr oder כור kwr. Dieses wiederum wäre wohl nur eine sonst nicht bezeugten Nebenform von krh. Gesenius17 schlägt die Lesung כֹּאֲרֵי koʾa vor, Part. constr. Pl. von kʾr, wörtl. „Durchgrabende meiner Hände und meiner Füße“ = „wobei sie meine Hände und Füße durchgraben (haben)“.

Die lat. Vulgata (Psalterium Gallicanum) und die syr. Peschitta haben das (vielleicht beeinflusst von der LXX) übernommen. Das Lat. fodio bedeutet „graben“, aber im Gegensatz zu griech. orýssō häufig auch „durchbohren, durchstechen“ mit Bezug auf den menschlichen Körper.

Quoniam circumdederunt me canes multi, Denn viele Hunde haben mich umgeben,
concilium malignantium obsedit me, eine Versammlung von Bösewichtern hat mich belagert (eingeschlossen),
foderunt manus meas et pedes meos. sie haben meine Hände und Füße durchbohrt.
ܡܛܠ ܕܚܕܪܘܢܝ ܟܠܒ̈ܐ܂ Denn umringt haben mich Hunde,
ܘܟܢܘܫܬܐ ܕܒܝܫ̈ܐ ܟܪܟܘܢܝ܂ und eine Versammlung von Bösen hat mich umgeben,
ܒܙܥܘ ܐ̈ܝܕܝ ܘܪ̈ܓܠܝ sie haben meine Hände und Füße durchbohrt.

Trotz aller Einwände hat sich die überwiegende Mehrheit der christlichen Übersetzungen für dieses Verständnis entschieden.

Luther (2017) Denn Hunde haben mich umgeben, /
und der Bösen Rotte hat mich umringt;
  sie haben meine Hände und Füße durchgraben.
Einheitsübers. (2006) Viele Hunde umlagern mich, / eine Rotte von Bösen umkreist mich. / Sie durchbohren mir Hände und Füße.
Elberfelder (2001) Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.
New International (1997) Dogs have surrounded me;
  a band of evil men has encircled me,
  they have pierced my hands and my feet.
Gute Nachricht (1992) Eine Verbrecherbande hat mich umstellt,
diese Hunde lassen mir keinen Ausweg.
Sie zerfetzen mir die Hände und Füße.
Menge (1949) Ach, Hunde umgeben mich rings,
  eine Rotte von Übeltätern umkreist mich;
  sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.

Aquila und Symmachus

Dass Juden mit dieser Version wenig glücklich waren, als Christen begannen, sie als Verweis auf die Kreuzigung Jesu zu reklamieren, ist kaum überraschend. Schon Aquila, ein zum Judentum konvertierter Übersetzer des 2. Jh., hat zwar wohl die Verbform כארו gelesen, sie aber mit ἐπέδησαν „sie haben [meine Hände und meine Füße] angebunden“ übersetzt. Diese Bedeutung von kʾr war laut Gesenius17 „wahrsch. geraten“, laut Delitzsch „nach arab. karra drehen, schnüren“. (Aber arab. كَرَّ heißt „kehrtmachen, zurückkehren“. Wahrscheinlicher ist eine Anlehnung an كَارَ/كور „zusammenrollen, -wickeln, herumwinden“. Damit scheint es G. R. Driver in Verbindung zu bringen, aber sein diesbezüglicher Aufsatz war mir nicht auffindbar.)

De Montfaucons Ausgabe der Hexapla verzeichnet für Aquila die Lesung ᾔσχυναν „sie haben beschämt, verunstaltet“. Das ist wohl angelehnt an syr. ܟܰܐܱܪ kaʾar (Pael) „tadeln, beschämen“ (= aram. כַּעַר kaʿar „hässlich, verächtlich machen“), was aber auch schlecht auf Hände und Füße passt. Field erklärt sich die divergierenden Angaben zu Aquila mit zwei Ausgaben seiner Übersetzung.

Dem Aquila gefolgt ist der Ebionit (messianische Jude) Symmachus im späten 2. Jh., er hat laut Fields Hexapla-Ausgabe übersetzt: ὡς ζητοῦντες δῆσαι „wie/als die danach trachten, [meine Hände und meine Füße] zu binden“. (Hat Symmachus hier eine Haplographie vermutet und daher ככארי gelesen, d.h. כ „wie“ + Part.constr.?)

In einem Hexapla-Palimpsest der Kairoer Geniza wird ὡς λέων „wie ein Löwe“ als Übersetzung des Symmachus geboten.

Dem Aquila hat sich auch Hieronymus (Psalterium iuxta Hebraeos) angeschlossen:

Circumdederunt me venatores, Jäger [= Jagdhunde?] haben mich umgeben,
concilium pessimorum vallavit me, eine Versammlung von Bösewichten hat mich umzingelt,
vinxerunt manus meas et pedes meos. sie haben meine Hände und meine Füße gebunden.

Hieronymus' Übersetzung ist der beste Beweis gegen den von jüdischer Seite gerne vorgebrachten Vorwurf einer bewussten christlichen Verfälschung dieser Stelle.
Die Lesart fixerunt „sie haben angeheftet, befestigt, durchbohrt“ (in Drucken des 16. und 17. Jh., bezeugt z.B. bei De Rossi) ist nach Delitzsch ein Korrekturversuch von korruptem finxerunt (statt richtig vinxerunt), nach Vall eine inhaltliche Angleichung an das Psalterium Gallicanum.

Anfang des 19. Jh. hat der evangelische Theologe Heinrich Paulus einen sprachlichen Schlüssel zu den Psalmen verfasst (s.o.) und sich darin auch umfänglich mit Ps 22,17 auseinandergesetzt. Darin vertritt er die Lesart כָּארוּ kârû, das er von כּוּר* kûr ableitet, welches er zu arab. كور/كار kʾr/kwr „umwickeln, umwinden, zusammenrollen, circumcingere, complicare, conglomerare, in gyrum convolvere“ stellt (S. 125). Er gelangt schließlich zu der elaborierten Bedeutung: „‚Sie haben niederwerfend zusammengerollt meine Hände und Füße.‘ prosternendo conglomeraverunt et manus meas et pedes meos. d.h. sie haben mich so niedergeworfen, daß Hände und Füße zusammenkollern.“ (S. 127). „prosternendo conglomerarunt manus meas et pedes meos. ‚Sie werfen meine Hände und Füße unter einander, wie auf einen runden Klumpen.‘ Denn immer liegt die Bedeutung rund machen, wie rund umwickeln oder verwickeln, zum Grunde.“ (S. 149)

Wie Aquila hat unter den Neueren der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1962) übersetzt:

Hunde haben mich ja umringt, umkreist mich eine Rotte von Bösgesinnten, sie fesseln mir Hände und Füße.

Aber auch die reformierte Zürcher Bibel (2007) hat es so:

Um mich sind Hunde, eine Rotte von Übeltätern umzingelt mich, sie binden mir Hände und Füsse.

Der Targum

Wieder anders hat es der aramäische Targum zu den Psalmen wiedergegeben. (Es ist schwer, konkrete Aussagen über das Alter des Targums zu finden. Er ist jedenfalls noch vor dem Ende des Weströmischen Reichs (476) entstanden.)

מטול דאחזרו עלי רשיעי דמתילין לכלביא סגיעי Denn umgeben haben mich die Bösen, die vielen Hunden gleichen;
כינשת מבאישין אקפוני eine Versammlung von Übeltätern hat mich umzingelt,
נכתין היך כאריא אידי ורגלי sie beißen wie ein Löwe meine Hände und meine Füße.

Der Löwe des masoretischen Textes ist beibehalten, es wurde aber ein Verbum (aus dem Kontext?) ergänzt: „beißen“. Schon Paulus (S. 140) und nach ihm Ginsburg (Introd. S. 972) haben die plausible Vermutung geäußert, dass der Targum in Wahrheit den Text כארו כארי ידי ורגלי übersetzt hat, d.h. unser fragliches Wort einmal mit „sie (haben) […]“ und einmal mit „wie ein Löwe“ las, also Ketiv und Qerê zugleich.

Paulus nennt noch andere Lesarten der Targumhandschriften, so נָכְתִין „beißende = sie beißen“ ohne den Löwen, aber auch (sic) אֵיךְ ארויות „wie Löwen“ oder הֵיךְ אַרְיָוָא „wie ein Löwe“, also wie der masoretische Text.

Auch Rabbi Schlomo Jizchaki (ca. 1040-1105), a.k.a. Raschi, hält in seinem Psalmenkommentar am Löwen fest, und ergänzt gedanklich ein passendes Verbum, nämlich „zerbrechen, zerschmettern, zermalmen“:

כארי ידי ורגלי. כאילו הם מדוכאים בפי ארי. וכן אמר חזקיה כארי כן ישבר כל עצמותי Wie ein Löwe meine Hände und meine Füße: Als ob sie zermalmt werden im Maul eines Löwen; und so sagte Hiskia (Jes 38,13): „wie ein Löwe, so zerschmettert er alle meine Knochen“.

Raschis Erklärung folgend ergänzt die New JPS (1985) in Klammern „sie richten übel zu, zerfleischen“ (der Löwe ist wieder im Plural):

Dogs surround me;
a pack of evil ones closes in on me,
like lions [they maul] my hands and feet.

Besonders phantasievoll beim Ergänzen ist die Basisbibel (2021):

Ja, Hunde rotteten sich um mich zusammen,
eine Meute von Bösen hat mich eingekreist –
  wie ein Löwe, der bereit ist zum Sprung,
  um mich an Händen und Füßen zu packen.

Das ist schon eher eine freie Nachdichtung als eine Übersetzung.

Verschiedene Konjekturen

Gesenius17 hat eine andere Erklärung für das graben: „Viell.: sie graben aus, nagen das Fleisch meiner Hände u. Füße ab, wie die wilden Hunde es bei den toten Körpern zu tun pflegen“.–
Aber welcher Hörer hätte die Assoziation ausgraben = das Fleisch fressen nachvollzogen?

Felix Perles nimmt eine Verwechslung der Buchstaben א und ת in der althebr. Schrift an und liest daher כִּתְּרוּ kitte. „‚[…] sie umschlossen meine Hände und Füße‘. […] Sonst hat כִּתֵּר die allgemeinere Bedeutung ‚umzingeln‘, hier scheint es fast schon gleichbedeutend mit ‚fesseln‘ zu sein, daher wählte ich in der Uebersetzung ‚umschliessen‘, das die beiden Bedeutungen vereinigt.“ Diese Lesung soll auch der Übersetzung Aquilas und Hieronymus' zugrunde liegen.–
Aber „umschließen, fesseln“ heißt kitter im AT sonst nirgends. Und dass „umzingeln“ wenig Sinn ergibt, wurde bereits festgestellt.

Hubert Grimme stellt das hebr. kʾr zu der semit. Wurzel krkr: „[…] vgl. Ps. 22,17 כַֽאֲרִי bezw. כַֽאֲרִוּ ‘sie zermalmen’, gemäss arab. karkara, tigre. kerkere ‘zerkleinern, zerschlagen’, äth. makarker ‘mahlend’.“–
Allerdings ist k(ʾ)r nicht dasselbe wie krkr.
Ar. كركر bedeutet nach Wehr „ein anhaltendes Geräusch verursachen; kollern, knurren (Bauch)“, كَرْكَرَ nach Freytag „zurückkehren; wiederholen; herumdrehen (Mühlstein); in größere Teile zerstoßen (Körner)“ („1) Regressus fuit, recurrit; Repetivit, iteravit; 2) Convertit molam; 3) Contudit in grossiores partes grana“), كَرْكَرَةٌ nach Lane „zurückkehren machen“ („he made him to return, or revert from such a thing“); Tigre ከርከረ kerkere (-ra?) bedeutet nach Littmann/Höfner „grob mahlen, schroten“; äth. መከረክረ makarkər ist nach Dillmann tatsächlich „mahlend, zum Mühlstein/Mahlen gehörig“ („part. molens, molaris“). Die Grundbedeutung dieser Wurzel ist mir also nicht klar.

Paul Haupt behauptet: „The verb כרה means also ‘to bite’, lit. ‘to sink or bury the teeth’ […]“ (AJSL 1904); „כארי ידי ורגלי (die Zähne) grabend in meine Hände und Füße“ (AJSL 1907). Und er schlägt eine Umstellung von Stichen der Verse 17 und 14 vor: „17a. 14a Denn Hunde umringen mich, ihr Gebiss wider mich sie fletschen, 17b. 14b In Hand und Fuss es mir grabend, wie ein reissender, brüllender Leu.“ (AJSL 1907)–
Den Text nach Bedarf umzustellen ist mir zu arbiträr.

Gesenius18 teilt eine andere Vermutung mit: „viell. v.d. aram. Wz. KRY kurz sein [syr. krī, krā, neusyr. kiryā kurz; vgl. akkad. karû u. ba. כרא]“. So übersetzt denn auch Hartmut Gese: „Zu kurz sind meine Hände und Füße“ und erklärt: „V. 17b bringt also drastisch die Ohnmacht des Beters zum Ausdruck, was Verteidigung (Hände) oder Flucht (Beine) anbetrifft.“ Er erwägt dann aber noch ein kausatives Piel jekarû und übersetzt es mit: „»Sie schneiden ab meine Hände und Füße […]« […] eine im ganzen Altertum (und nicht nur dort) bekannte grausame Exekutionsart“.–

J. Roberts leitet kārû ebenfalls vom syr. und akkad. Wort für „kurz sein“ ab: er verweist insbes. auf den akkad. Gt-Stamm, der in medizinischen Texten „geschrumpft, eingefallen sein“ bedeute und postuliert für das Hebr. „a root kārā(h) V, ‘to be short, shrunken, shriveled’“. Indem er außerdem V.17c von 17a/b abtrennt (womit die Bösewichter nicht mehr als Subjekt zur Verfügung stehen) und stattdessen mit 18a zu einem neuen Vers zusammenzieht, gelangt er zur Übersetzung: „Meine Hände und meine Füße sind zusammengeschrumpft [are shriveled up], ich kann alle meine Knochen zählen.“–
Nicht unplausibel, muss aber letztendlich eine ingeniöse Vermutung bleiben. Gregory Valls Einwand: das א wird dabei allzu leichtfertig ignoriert. Und offenbar wurden hier zwei syr. Wörter vermischt: krj (III. infirmae) „kurz sein; betrübt, traurig sein“ und krh „krank sein“.

Roberts zitiert einen Erklärungsversuch, den er D. Winton Thomas zuschreibt, der zitierte Aufsatz stammt aber von William Barnes, ist leider kostenpflichtig und mir daher nicht zugänglich. „Thomas […] rejected the usual corrections of kʾry to a verb form and analyzed it instead as the inseparable preposition k + a noun ʾry, for which he suggested the meaning ‘hearth’. Thus the line would read, ‘My hands and my feet are as a hearth’, i.e., burnt up with fever.“–
Wie Roberts selbst sagt, sind fiebrige Hände und Füße ein seltsames Bild, und ohne Verb ist der Vergleich gezwungen.

Edward Kissane zieht Hi 33,21 zur Erklärung heran: יִכֶל בְּשָׂרֹו מֵרֹאִי וְשֻׁפּוּ עַצְמֹותָיו לֹא רֻאּוּ „es schwindet sein Fleisch weg vom Anblick, / und abgemagert sind seine Knochen, nicht wurden sie gesehen (?)“. Der zweite Halbvers ist eine inhaltliche Parallele zu Ps 22,18a, könnte also nicht V.17c eine ähnliche Bedeutung haben wie der erste Halbvers? Kissane liest daher kālû statt kārû (v. כלה klh „vollendet, vorüber sein, hinschwinden“) und übersetzt: „Meine Hände und meine Füße sind dahingeschwunden [are wasted away], ich kann alle meine Knochen zählen“.–
Das läuft inhaltlich im Prinzip auf dasselbe hinaus wie Roberts' Konjektur. Bei Roberts muss man an ein sonst im Hebr. nicht belegtes Verb glauben, bei Kissane an eine geringfügige Textverderbnis.

Gregory Vall liefert eine sehr detaillierte, gut lesbare Darstellung der verschiedenen Lesarten und Textverständnisse. Und macht sich dann stark für Heinrich Graetz' Emendation אָסְרוּ ʾāsrû „sie haben gebunden“. Dies soll die wahre Vorlage für die Übersetzungen von Aquila und Symmachus gewesen sein. (Wobei letzterer vielleicht כאסרי, d.h. Präposition כ + Part. Pl. constr., in seiner hebr. Vorlage gehabt haben mag.)–
Inhaltlich plausibel, aber: ein Abschreiber hat zwei Buchstaben vertauscht; der nächste hat geraten, was das heißen könnte, und hat einen Buchstaben verändert, wodurch eine Lesart entstanden ist, die auch nicht viel Sinn ergibt – möglich, aber es kommt mir nicht sonderlich wahrscheinlich vor.

Fazit

Das Festhalten am masoretischen Text „wie ein Löwe“ führt zwangsläufig zu sinnwidrigen Verrenkungen. Wie man es auch wendet, er ergibt keinen guten Sinn. Aber auch textkritisch ist er schwer haltbar: die antiken Versionen haben alle ein Verbum gelesen, und der älteste Textzeuge aus der judäischen Wüste hat ein solches – keine Spur vom Löwen. Die Frage ist, was dieses Verbum bedeutet. Die Wiedergabe der Septuaginta „sie haben (durch)gegraben“ ist wohl sprachlich möglich, entfaltet ihren Sinn aber erst mit einem christlichen Vorverständnis. Die Übersetzung Aquilas „sie haben gebunden“ ist zwar inhaltlich die unproblematischste, erfordert aber eine Emendation des Textes oder die Annahme eines sonst im Hebr. nicht belegten Wortes.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 31. Okt. 2022