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Bis Schilo kommt
Bis Schilo kommt
Sitzstatue Ramses' II. mit dem Szepter, das im Äg.
ḥḳꜣ.t heißt und
das als Hieroglyphe
(S38) den Lautwert
ḥḳꜣ „herrschen, Herrscher“ hat; Museo Egizio, Turin.–
Quelle:
Wikimedia
(ursprl.
Flickr).–
Urheber:
Roberto Venturini, 2007.–
Lizenz:
CC BY 2.0.–
Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt, Hintergrund geringfügig retuschiert,
leicht aufgehellt.
Relief des Perserkönigs Dareios I. mit Szepter und Lotusblüte (vermutl. im
Palast von Persepolis).–
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber: Frank-Haf, 2017.–
Lizenz:
CC BY-SA 4.0.–
Bearbeitung: geringfügig beschnitten, verkleinert, Kontrast erhöht.
In Gen 49 prophezeit
der greise Jakob seinen Söhnen ihr weiteres Geschick. Nach dem ähnlich
gestalteten Segen des Mose in Dtn 33
spricht man auch hier gerne vom Segen Jakobs. Im Spruch für Juda
heißt es (V. 10):
לֹא־יָסוּר
שֵׁבֶט מִיהוּדָה
|
Nicht wird weichen ein Szepter von Juda |
וּמְחֹקֵק
מִבֵּין רַגְלָיו
|
und ein Herrscherstab von zwischen seinen Füßen, |
עַד כִּי־יָבֹא שִׁילֹה |
bis kommen wird Schilo; |
וְלֹו
יִקְּהַת
עַמִּים׃ |
und Völker werden ihm gehorchen (wörtl.: ihm [ist] Gehorsam von Völkern). |
Der Knackpunkt des Verses ist die Bedeutung des hebr. שִׁילֹה
šîlô. In vielen Handschriften ist es defektiv שׁלה
geschrieben. Das Qere – die masoretische „Randlesart“ – lautet
שׁילו. Abhängig davon, wie V. 10c gedeutet wird, wird
10d entweder als Fortführung des עַד כִּי ʿad kî
„bis dass“ verstanden oder als Fortführung von 10b. Einig sind sich die
meisten Ausleger darin, dass ʿad kî schwerlich „solange (als)“
bedeuten kann (wie es einige wenige Interpreten wiedergeben).
Eine ausführliche Monographie zur Übersetzungs- und Auslegungsgeschichte hat
Posnanski vorgelegt. Eine kürzere Darlegung bietet der Artikel von S. R.
Driver. Eine zusammenfassende Diskussion findet man in den wissenschaftlichen
Genesiskommentaren von Keil, Delitzsch, Dillmann, Skinner, Procksch usw.
(Claus Westermanns Genesiskommentar ist leider nicht frei verfügbar.) Ich
gebe im folgenden eine Auswahl von Interpretationen aus der älteren Literatur,
soweit sie im Netz verfügbar ist. Aktuelle Publikationen sind ja dank
Urheberrecht so gut wie nie frei verfügbar.
- Ich habe šîlô oben als Eigennamen übersetzt.
So verstehen es z.B. Gute Nachricht 1991 („bis Schilo kommt, der große
Herrscher“), Elberfelder 2001 (mit Artikel „bis daß der Schilo kommt“) oder
King James Version („until Shiloh come“).
Aber wer soll das sein? Eine Person dieses Namens kommt in der gesamten
Bibel sonst nicht vor. Jüdische und christliche Ausleger haben in dem Namen
einen (möglicherweise nicht mehr erklärbaren) Hinweis auf den Messias gesehen.
(Die Auseinandersetzung darüber, ob man dem Verfasser des Textes die Idee
eines endzeitlichen Königs zutrauen möchte, sei hier außen vor gelassen.)
- Der Targum Onqelos (2. Jh.) übersetzt
(Text
vom CAL):
עַד עָלְמָא עַד
דְיֵיתֵי
מְשִיחָא
דְדִילֵיה
הִיא מַלכוּתָא
„in Ewigkeit bis der Gesalbte kommt, dem die Königsherrschaft gehört“.
Schilo wird hier gleichsam als Name des Messias gesehen und daher
mit „der Gesalbte, der Messias“ übersetzt. Vgl. auch im Talmud
bSan 98b:
ורבי יוחנן אמר למשיח. מה שמו. דבי רבי שילא אמרי שילה שמו. שנאמר עד כי יבא שילה
„Und Rabbi Jochanan sagt: für den Messias [ist die Welt geschaffen worden].
Was ist sein Name? Die von der Schule des Rabbi Schila sagen: Schilo ist sein
Name. Denn es wird gesagt: bis Schilo kommt.“
- In Qumran wurden Fragmente eines Kommentars zum Buch
Genesis gefunden. Eines dieser Fragmente (Lohse, von dem der folgende hebr.
Text stammt, nennt es 4 Q patr, Vermes 4Q252,V, die New
English Translation 4QPBless) lautet:
1 |
[לֹא]
יָסוּר
שַׁלִּיט
מִשֵּׁבֶט יְהוּדָה בִּהְיֹות לְיִשְׂרָאֵל
מִמְשָׁל |
[Nicht] wird fern sein ein Machthaber vom Stamm Juda. Solange
Israel Herrschaft hat, |
2 |
[לֹא יִ]כָּרֵת
יֹושֵׁב
בֹּו⟨א⟩ לְדָוִיד כִּי
הַמְּחֹקֵק
הִיא בְרִית הַמַּלְכוּת |
wird [nicht] verschwinden (einer), der thront in ihm (d.h. in Israel)
dem David (zugehörig?). Denn der Herrscherstab ist der Bund der
Königsherrschaft. |
3 |
[אַלְ]פֵי יִשְׂרָאֵל הֵמָּה
הַדְּגָלִים
(הָרַגְלַיִם)
עַד בֹּוא מְשִׁיחַ הַצֶּדֶק
צֶמַח |
Die [Tausend]schaften Israels sind die Heeresabteilungen (and. Lesart:
die Füße), bis kommt der Gesalbte der Gerechtigkeit (oder: der [ge]rechte
Messias), der Spross |
4 |
דָּוִיד כִּי לֹו וּלְזַרְעֹו
נִתְּנׇה
בְרִית מַלְכוּת עַמֹּו עַד
דֹּורֹות עֹולָם |
Davids. Denn ihm und seinem Samen ist gegeben worden der Bund der
Königsherrschaft seines Volks (d.h. über sein Volk) auf ewige Generationen, |
5 |
אֲשֶׁר שְׁמָרָהּ […] |
den er bewahrt hat […] |
Auch hier wird offenbar Schilo mit Messias gleichgesetzt.
- Der Targum (Pseudo-)Jonathan (wohl erst in arab.
Zeit entstanden) übersetzt
(Text
vom CAL):
עד זמן
די ייתי
מלכא משיחא זעיר
בנוי
„bis zu der Zeit, da der König kommen wird, der Gesalbte, der jüngste seiner
Söhne“.
S. R. Driver hält den Gesalbten für einen Einschub, den jüngsten
Sohn für die Wiedergabe von šîlô. Das Wort wurde offenbar in
Verbindung gebracht mit שִׁלְיָה šiljâ
„Nachgeburt“ (Dtn 28,57) (und im Sinn von „Sohn“ verstanden?). Auf diese
Deutung ist Sellin zurückgekommen. Das Wort bedeute „neugeborener Sohn“, im
Zusammenhang der messianisch verstandenen Weissagung „Wunderkind“ (so
referiert von Schröder; Sellins Buch habe ich nicht gefunden).
- Manche der neuzeitlichen Exegeten denken an den
gleichlautenden Ort שִׁילֹו / שִׁלֹו / שִׁלֹה šilô / šîlô
(s. das Qere und die alternativen Lesarten), an dem sich seit Josua die
Bundeslade befand. Das Wort wäre dann eine Umstandsangabe: „bis er (Juda)
nach Schilo kommt“ (vgl. 1Sam 4,12 וַיָּבֹא שִׁלֹה „und er
kam nach Schilo“). Dillmann erklärt das so: „Die Fortrückung des Mittelpunkts
der Gemeinde u. der Stiftshütte von Gilgal nach Šilo (Jos. 18, 9. 1) geschah
nach der ersten Niederwerfung der Kenaanäer u. der gleichzeitigen Ansiedlung
Josef's u. Juda's in ihrem Wohnland, war also wohl
geeignet, als Epoche des Abschlusses der Kämpfe zu gelten.“ (S. 457) Szepter
und Stab wären dann nicht Zeichen der Herrschaft, sondern der Kriegsführung,
die mit der Errichtung des Heiligtums in Schilo zum Ende gekommen ist. So
sieht es auch Delitzsch. Doch keine der Übersetzungen in meinem Bücherregal
hat sich diesem Verständnis angeschlossen.
Ball schlägt daher vor, stattdessen שָׁלֵם šālem
zu lesen (vgl. Gen 14,18):
„bis er nach Schalem (= Jerusalem) kommt“, eine Prophezeiung von Davids
Eroberung der späteren Hauptstadt und seiner Herrschaft über ganz Israel.
Die Autobahn 60 zwischen Ramallah und Nablus, das moderne Pendant zur Straße
von Bethel nach Sichem. In der Bildmitte Chirbet Selun, östlich davon das
moderne Schilo. Nordwestlich davon al-Luban, das mutmaßliche biblische Lebona.–
Kartendaten: ©
OpenStreetMap-Mitwirkende,
SRTM | Kartendarstellung: ©
OpenTopoMap
(
CC-BY-SA).–
Quelle:
OpenTopoMap.–
Bearbeitung: arab. und hebr. Beschriftungen durch transkribierte ersetzt,
verkleinert.
Wo lag der Ort Schilo?
Ri 21,19
sagt: nördlich von Bethel, östlich der Straße von Bethel nach Sichem, südlich
von Lebona. Während Sichem ziemlich sicher beim heutigen Nablus lag und Bethel
vermutlich bei Betin, kann für Lebona nur auf Grund der Namensähnlichkeit (und
passender archäologischer Funde) gemutmaßt werden, dass es bei der heutigen
Ortschaft اللبن الشرقية
al-Luban aš-Šarqija
an der Autobahn 60 lag. Für Schilo nimmt man – ebenfalls hauptsächlich wegen
des Namens und der Archäologie – an, dass es auf dem heutigen Chirbet Sēlūn,
gleichfalls an der Autobahn 60, lag. Der Siedlungshügel liegt aber eher
östlich von al-Luban. Das heutige Schilo (שילה), das
von Chirbet Selun nur wenige 100 m entfernt ist, ist eine 1978 gegründete
israelische Siedlung.
- Der samaritan. Pentateuch und der samaritan.
Targum haben in der
Pariser
Polyglotte beide ࠔࠋࠄ šlh (Pentateuch = „Hebraeo-Samaritanus“,
Targum = „Versio Samaritana“, vgl. auch den samaritan. Targum in der
Ausg.
von Petermann, 1872). Das ist die häufigste Schreibung für den Ortsnamen
Schilo (laut Seebass im masoret. Text 21mal šlh, 8mal šlw,
2mal šjlw).
Der samaritan. Pentateuch in der
Ausg.
von Gall, 1914 liest allerdings שילה šjlh.
- Die Wiedergabe der LXX lautet:
ἕως ἂν ἔλθῃ τὰ ἀποκείμενα αὐτῷ „bis das ihm Beiseitegelegte / Aufbewahrte /
Bestimmte kommt“.
Vermutlich haben die Übersetzer den hebr. Text als שֶׁלֹּו = שֶׁלֹּה
šællô (= אֲשֶׁר לֹו) „der/das/was ihm (gehört)“
gelesen. Diese Lesung empfehlen auch Gesenius17 und der
textkritische Apparat der Biblia Hebraica. Dillmann wendet aber ein, dass
שֶׁ ּ dem Pentateuch fremd ist.
Die Vetus Latina hat hier die LXX übersetzt: donec veniant, quae reposita
sunt ei „bis kommt, was ihm aufbewahrt (worden) ist“ (Ausg. Sabatier).
Und ebenso die Peschitta
(Text
in der Brian-Walton-Polyglotte, Text
in der Pariser Polyglotte, beide mit mit westsyr. Vokalisation und lat.
Übersetzung):
ܥܕܰܡܳܐ
ܕܢܻܐܬܶܐ
ܡܿܰܢ
ܕܕܻܝܠܶܗܻ
ܗܼܝ
„bis dass einer kommt, dessen es (das Königtum?) ist“.
Dass hier die LXX als Vorlage diente, zeigt m.E. deutlich V. 10d:
ܢܣܿܰܟܽܘܢ
nesakkûn „sie warten auf“ entspricht dem griech.
προσδοκία „Erwartung, Hoffnung“, das für das offenbar unverstandene
יִקְּהַת jiqqehat „Gehorsam“ steht.
(Die LXX-Übersetzer haben das Wort mit קוה qwh
„warten, hoffen“ in Verbindung gebracht oder im hebr. Text
תִּקְוַת tiqwat „Hoffnung“ gelesen.)
Diesem Verständnis hat sich auch Orelli angeschlossen, der es allerdings
als Umstandsangabe übersetzt: „bis dass er gelange in das,
was ihm zukommt, also in das Seinige, in
seinen Besitz“ (S. 137). Orelli vergleicht hierzu Moses Segen für Juda in
Dtn 33,7 וְאֶל־עַמֹּו תְּבִיאֶנּוּ „und bringe ihn (Orelli
versteht wohl: den endzeitlichen König) zu seinem Volk“. Vielleicht ist Joh
1,11 εἰς τὰ ἴδια ἦλθεν „er kam in das Seinige“ eine Anspielung auf unseren
Vers.
- Symmachos hat nach dem Zeugnis des Eusebios
ἕως ἂν ἔλθῃ ᾧ ἀπόκειται „bis (der) kommt, dem es aufbewahrt ist“ (so auch
einige LXX-Hss., s. den ausführlichen Apparat in
Holmes'
LXX-Ausg.). So hat es auch Hilarius ins Lat. übersetzt: donec veniat,
cui repositum est „bis (der) kommt, dem es aufbewahrt (worden) ist“.
Dies ist offenbar ein anderes Verständnis von šællô.
So machen es Menge 1949 („bis der kommt, dem er (d.h. der Herrscherstab)
gebührt“), die Einheitsübers. 2006 („bis der kommt, dem er gehört“) und
Luther 2017 („bis dass der komme, dem es [das Szepter?] gehört“).
Gesenius, Menge, Dillmann verweisen für dieses Verständnis auf
Hes 21,32:
עַד־בֹּא אֲשֶׁר־לֹו הַמִּשְׁפָּט „bis (der) kommt, der das Anrecht
(oder: Gericht) hat“. Nach Bergsträßer ist diese Übersetzung für šællô
in Gen 49,10 grammatikalisch nicht möglich (es fehlt im Gegensatz zu Hes 21,32
das Subjekt), es kann nur „sein, der/das Seinige“ bedeuten, also „bis der/das
Seinige kommt“ (wie es die LXX hat) oder „bis er zu dem Seinigen kommt“ (wie
es Orelli versteht).
- Wellhausen schlägt ebenfalls vor,
שֶׁלֹּה šællô zu lesen, und zusätzlich,
וְלֹו welô am Anfang von V. 10d
zu streichen (Geschichte Israels, etwas ausführlicher in
Composition des Hexateuchs).
Dadurch, so müssen wir uns denken, hat der Relativsatz jetzt ein Subjekt und
es ergibt sich der Satz: „bis (der) kommt, dem Völker gehorchen“. Der
Haupteinwand dagegen scheint metrischer Natur sein.
In der Composition des Hexateuchs erwägt Wellhausen noch, stattdessen
das שִׁילֹה selbst als Glosse zu tilgen. Er beruft sich
dabei auf die Übersetzung Aquilas: ἕως ἂν ἔλθῃ καὶ αὐτῷ σύστημα λαῶν „bis er
kommt, und ihm (ist) die Vereinigung von Völkern“ (wer ist er?
Wellhausen: „Subjekt = der ungenannte Bekannte“). (Wie die LXX hat auch
Aquila יִקְּהַת nicht verstanden und es von
קוה qwh II „sammeln“ [AT nur Ni. „sich
sammeln“] hergeleitet. Wellhausen deutet den Vers so: „V. 10 bedeutet: die
Herrschaft Davids bleibt bestehn (לא
יכרת),
bis sie übergeht in die des Messias.“
- Die Vulgata hat donec veniat qui mittendus
est „bis (der) kommt, der gesandt werden muss“. Hieronymus hat also
ganz offensichtlich eine Form von שׁלח „schicken,
senden“ gelesen, vermutlich das Pt. Pass. שָׁלוּחַ
šālûaḥ, nach Dillmann שִׁלֹּחַ
šilloaḥ (Name der Wasserleitung, s. Jes 8,6
מֵי הַשִּׁלֹחַ „die Wasser des Schiloach“, Hieronymus
hätte dann Joh 9,7 im Sinn gehabt: τοῦ Σιλωάμ ὃ ἑρμηνεύεται ἀπεσταλμένος
„Siloams, das übersetzt wird mit Abgesandter“). Gemeint ist
offenkundig der Messias, den Gott schicken wird, nach christlicher Lesart
Jesus Christus.
Nach Posnanski (S. 5f)
hat Nicolaus de Lyra (13./14. Jh.) das aber auf Nebukadnezar bezogen:
Donec veniat qui mittendus est, id est Nabuchodonosor, qui propter
peccata populi Judaici missus est a Deo ad destruendam terram et ad
auferendum regem.
„Bis kommt, der gesandt werden muss, das heißt Nebukadnezar, der wegen der
Sünden des jüdischen Volkes von Gott gesandt worden ist, um das Land zu
zugrunde zu richten und den König zu beseitigen.“
- Giesebrecht schlägt vor, מֹשְׁלֹה
mošelô (= מֹשְׁלֹו) „sein Herrscher“
(Pt. v. משׁל „herrschen, Herr sein“) zu lesen. Er
verweist dafür auf (das messianisch verstandene) Jer 30,21
וּמֹשְׁלֹו מִקִּרְבֹּו יֵצֵא
„und sein Herrscher wird aus seiner Mitte hervorgehen“ und Mi 4,8
עָדֶיךָ […] בָאָה הַמֶּמְשָׁלָה רִאשֹׁנָה
„zu dir […] wird kommen die frühere Herrschaft“. Giesebrecht scheint die
Prophezeiung auf das Königtum Davids zu beziehen.
Greßmann schließt sich Giesebrechts Konjektur an und übersetzt „bis daß sein
König kommt“ und verweist dafür auf Sach 9,9:
הִנֵּה מַלְכֵּךְ יָבֹוא לָךְ „siehe, dein König kommt zu dir“.
Er erklärt: „Der Vers verheißt Juda eine ewige Herrschaft, die er nicht
verlieren soll, bis aus seinem Geschlechte der eschatologische König kommt.“
So sieht es im Prinzip auch Procksch.
Doch Dillmann wendet ein: „Gegen die Beziehung auf den Messias spricht […]
auch die Geschichte selbst; שֵׁבֶט [Szepter] u.
מְחֹ׳ [Herrscherstab] sind lange von Juda gewichen,
bis der Messias kam.“ (S. 458)
Wieder aufgenommen hat diese Übersetzung die Basisbibel 2021: „Doch dann
wird der künftige Herrscher kommen.“ (Oder ist es eine sehr freie Wiedergabe
von „dem das Szepter gehört“?)
- Šanda schlägt vor, in šîlô das assyr.
šîlu/šêlu „König, Herrscher“ zu erkennen. In gleichem Sinne äußert
sich Halévy, er übersetzt „bis sein König gekommen ist und ihm der Gehorsam
der Völker ist“ („jusqu'à ce que soit venu son roi et qu'à lui soit
l'obéissance des peuples“) und sieht darin eine Anspielung auf David.
Nun kennen dieses Wort zwar die alten Assyrisch-Wörterbücher von
Delitzsch
(S. 646b) und
Muss-Arnolt
(Bd. 2, S. 1036b), nicht aber das nunmehr maßgebliche
CAD
Bd. 17/2, S. 451f. Da bedeutet das Wort šīlu/šēlu „Loch“. An der
Existenz eines Homonyms mit der Bedeutung „Herrscher“ bestehen seit Morans
Aufsatz schwere Zweifel.
- Karl Marti verteidigt Giesebrechts
Konjektur („bis dass sein Herrscher kommt“), indem er sie nicht messianisch,
sondern geschichtlich deutet: der Herrscher ist Nebukadnezar, er nimmt Juda
das Szepter aus der Hand. (Marti verweist dafür u.a. auf
Jer 27,6f.)
Das haben schon einige mittelalterliche jüdische Ausleger so gesehen und vor
ihnen schon Julia Apostata (s.
Posnanski, S. 4f).
- Rosenberg bezieht die Prophezeiung auf den
Perserkönig Kyros, der in
Jes 45,1 als
Gottes Gesalbter, d.h. als Messias bezeichnet wird. Rosenberg greift zurück
auf die Konjektur Wellhausens, fügt noch einen
Artikel hinzu und gelangt zu dem Satz:
עַד כִּי יָבֹא אֲשֶׁר לֹו יִקְּהַת הָעַמִּים „bis (der) kommt, dem
der Gehorsam der Völker gehört“. Er erklärt: „and the one who comes to receive
the obedience of the peoples is Cyrus and his successors“. (S. 261) Spätere
Abschreiber seien mit dem Konzept eines heidnischen Herrschers über Israel
nicht zufrieden gewesen und hätten den Text in eine messianische Prophezeiung
(in Anlehnung an Dtn 18,15)
geändert, indem sie šællô in šjlh (Schilo) verwandelten,
das gematrisch denselben Wert (š=300, j=10, l=30, h=5 -> 345) hat wie
mšh (Mose) (m=40, š=300, h=5 -> 345).
- Schröder vermutet hinter dem Wort ebenfalls einen
Eigennamen, allerdings den eines Sohnes Judas: שֵׁלָה
šelâ (Gen 38,5.11.14),
der nach dem Tode Ers und Onans der älteste lebende Sohn war. Der Vers sei
ein nachträglicher Einschub, der besagen will, dass das Szepter von Juda mit
dessen Tod und dem Nachfolgen seines Sohnes schon gewichen ist.
- Zimmern hält šîlô für ein anderes Wort
oder eine Textverderbnis für שְׁאֹול šeʾôl,
das Totenreich: „bis er eingeht in die Scheol (d.h. zeitlebens)“.
- Manche Ausleger sehen einen etymologischen
Zusammenhang mit dem Verb שׁלה šlh „ruhig,
sicher, sorgenfrei sein“ und den davon abgeleiteten Nomina
שָׁלֵו šālew „ruhig, zufrieden; Ruhe“ und
שַׁלְוָה šalwâ „Sicherheit, Ruhe, Sorglosigkeit“
und postulieren ein Nomen שֶׁלֶה* šælæ̂ o.ä.
„Ruhe“ und verstehen: „bis dass Ruhe kommt“ (oder auch „bis er zur Ruhe kommt“);
oder sie nehmen Verkürzung aus שִׁלְיֹון* šiljôn
o.ä. „Ruhebringer“ an (vgl. שְׁלֹמֹה šelomô
„Salomo“ zu שָׁלֵם šālem „unversehrt,
vollständig“) und verstehen „bis ein Friedebringer kommt“. Doch erheben sich
laut Dillmann gegen diese Wörter Einwände von der Wortbildung her, und auch
semantisch passt es nicht, denn šlh/šlw bedeutet nicht „Friede“,
sondern „Ruhe, Sorglosigkeit“ (nicht selten die der Feinde Gottes,
z.B. Jer 12,1;
Ps 73,12 u.a.).
Dessen ungeachtet steht ein solches Verständnis auch hinter Luthers Wiedergabe
„bis daß der Held komme“ (so noch in der Revision von 1984). Luther erklärt
dazu in seinen 1527 erschienen Predigten über das 1. Buch Mose:
„Christum aber nennet er auff Ebreisch ‘Silo’, wilchs die Jüden noch nicht
wissen, was es eygentlich heisset, wird auch sonst nirgend ynn der schrifft
gebrauchet denn hie, Wir habens gedeudscht ‘ein Helt’, Sonst heisset es ein
solchen man, dem es glücklich von stadt gehet, der es frey hynaus füret und
geredt alles wol was er anfehet, Denn es kömpt von dem wort ‘Salve’, wilchs
heisset ‘glück und wolfart’ […]“ (D. Martin Luthers Werke, Krit. Gesammtausg.,
Bd. 24., Weimar 1900,
S. 687,
Z. 14-20). Auch dieses Verständnis gibt die Wurzel šlh semantisch
jedoch nicht her.
- Caquot interpretiert (laut Rosenberg) Schilo als
eine Form von שְׁלֹמֹה šelomô
„Salomo“. Wie das in den Segen Jakobs passt, weiß ich nicht, Caquots Aufsatz
war mir nicht zugänglich.
- Lagarde konjiziert שְׁאִילֹה
šeʾîlô „sein Geforderter, sein Erbetener“ („is quem Iuda
ipse expetit votis“), von שׁאל „verlangen, sich
ausbitten, fordern“. (Aber müsste das nicht שְׁאוּלֹו
šeʾûlô heißen?) Er verweist dabei
inhaltlich auf Mal 3,1: הָאָדֹון אֲשֶׁר־אַתֶּם מְבַקְשִׁים „der
Herr, den ihr sucht“.
- Moran liest den V.10c so:
עַד כִּי־יוּבָא
שַׁי לֹה „bis ihm Tribut
gebracht wird“. Also šaj lô statt šîlô. Die English Standard
Version 2016 hat das im wesentlichen übernommen („until tribute comes to him“).
Ähnlich, aber mit anderem Verständnis von ʿad kî, schon die New
English Bible 1970 („so long as tribute is brought to him“).
Doch schon Jacob wendet ein, dass das Verbum zu שַׁי
šaj „Geschenk“ an den übrigen drei Stellen im AT sonst immer
יבל „tragen, darbringen“ ist.
(In einer Fußnote spekuliert Moran dann noch, dass hinter יִקְּהַת
jiqqehat „Gehorsam“ in Wahrheit eine Verbalform steckt
(„unterworfen werden“) – was aber semantisch keinen Unterschied macht.)
Diese Erklärung ist übrigens alt, schon Raschi (11. Jh.) kennt sie:
עַד כִּי יָבֹא שִׁילֹה: מֶלֶךְ הַמָּשִׁחַ,
שֶׁהַמְּלוּכָה
שֶׁלֹּו, וְכֵן תַּרְגֻמֹו אוּנְקְלוּס, וּמִדְרַשׁ אֲגָּדָה שִׁילֹה שַׁי לֹו, שֶׁנֶּאֱמַר:
יֹובִילוּ שַׁי
לַמֹּורָא
(תְהִלִּים ע״ו)
„bis dass Schilo kommt: der gesalbte König, dessen das Königtum ist,
so auch die Übersetzung (Targum) des Onqelos; und die Erklärung (Midrasch)
der Aggada (erbauliche rabbinische Literatur) (ist) šîlô (=) šaj lô
(Geschenke ihm), denn es ist gesagt worden: ‚sie sollen Geschenke darbringen
dem Furchterregenden‘ (Ps. 76 [,12]).“ (Text nach J. Dessauers Pentateuch mit
Raschi-Kommentar,
Bereschit, S. 400f).
- Völlig unklar ist, was Winckler eigentlich
vorschlägt. Durchdrungen von panbabylonistischem Enthusiasmus assoziiert er
frei fließend und faselt etwas von einer Wachtel (hebr. שְׂלָו
śelāw), die in einem mesopotamischen Mythos die Stelle
des Lebenskrautes im Gilgameš-Epos (?) vertrete.
Erwartet Winckler wirklich, dass jemand dieses Geschwurbel ernst nimmt?
- Seebass verweist auf ägypt.
śr „Fürst, Herrscher, Ratgeber, hoher Beamter“, für das die akkad.
Lautung šiāra aufgetaucht ist (s. die beiden Artikel von Edel),
was auf den ägypt. Lautstand śjr(w) führt, der seinerseits im Hebr.
als šejalô (שְׁיַלֹה?) aufscheinen
müsste. Seebass erklärt:
„Die Punktationsänderung in v. 10 b hätte zur Folge, daß mit dem (Titel)
Schejaloh die bis zur Mitte des 12. Jh.s v. Chr. in Kanaan vertretene
Ordnungsmacht zum Vorbild einer Neuordnung im Lebensraum Judas wurde […]“
Ich gebe zu, dass ich nicht verstanden habe, was das bedeutet. Juda wird
solange herrschen, bis jemand kommt, der sich die Herrschaft der ägypt.
Gouverneure zum Vorbild nimmt? Das soll offenbar König David sein.
Keine der zahlreichen Erklärungsversuche ist wirklich von durchschlagender
Überzeugungskraft. Das ersieht man auch aus den unterschiedlichen Wiedergaben
in den Übersetzungen. Schilo bleibt, wie Moran sagt, eine crux interpretum.
Die Mehrheit der Ausleger sieht aber in der Stelle entweder eine (ex eventu)
Prophezeiung der davidischen Herrschaft oder eine messianische Verheißung.
Werke, die ich nicht selbst einsehen konnte, sind mit Asterisk gekennzeichnet.
- Ball, C[harles] J[ames]: The Book of Genesis. Critical edition of the
Hebrew text.– Leipzig: Hinrichs, 1896. (The Sacred Books of The Old Testament,
Bd. 1)
S. 109
- Barr, James: Comparative Philology and the Text of the Old Testament.–
Oxford: Clarendon, 1968. Neuaufl. Winona Lake: Eisenbrauns, 1987.
S. 120f
- Bergsträßer, Gotthelf: „Das hebräische Präfix ש“, Zeitschr. f. d. atl.
Wissenschaft 29 (1909), S. 48f
- * Caquot, A[ndré]: „La parole sur Juda dans le Testament lyrique de Jacob
(Genèse 49, 8-12)“, Semitica 26 (1976), S. 27f
- Delitzsch, Franz: Commentar über die Genesis.
4. gänzl. umgearb. Ausg.– Leipzig: Dörffling u. Franke, 1872.
S. 506-512
(besser lesbar ist der Scan der 3. Aufl. 1860,
S. 586-593)
- Dillmann, August: Die Genesis. Von d. 3. Aufl. an erkl. v. ~.– 5. Aufl.
Leipzig: Hirzel, 1886. (Kurzgef. exeget. Handbuch zum A. T. 11. Liefg.)
S. 456-458
- * Driver, G[odfrey] R[olles]; Burney, C[harles] F[ox]: „Some Hebrew roots
and their meanings“, Journal of Theological Studies 23 (Nr. 89) 1921, S. 70
- Driver,
S[amuel] R[olles]: „Genesis XLIX. 10: an Exegetical Study“, Journal of
Philology 14 (1885), S. 1-28
- Edel, Elmar: „Zwei
Originalbriefe der Königsmutter Tūja in Keilschrift“, Studien z. Altägypt.
Kultur 1 (1974), S. 131f
- * Edel, Elmar: „Der Brief des ägyptischen Wesirs Pašijara an den Hethiterkönig
Ḫattušili und verwandte Keilschriftbriefe“, Nachrichten d. Akad. der Wiss.
in Göttingen, Phil.-hist. Kl. (1978/4), S. 120-129
(Foto von S. 120f)
- Giesebrecht, Friedrich: Beiträge zur Jesaiakritik. Nebst e. Studie über
Prophetische Schriftstellerei.– Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1890.
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