Michael Neuhold
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Praeliminaria
Bevor man die Schwelle (lat. limen, Stamm limin-) überschreitet, muß man einige Vorbereitungen treffen, eben prae-limin-aria. Diese betreffen die Aussprache und Betonung des Lateinischen.
Das römische Alphabet hat 21 Buchstaben:
A B C D E F G H I K L M N O P Q R S T V X
Zur Wiedergabe griechischer Wörter und Eigennamen (zona, Zeno, hydra, Hyperion) wurden aus dem griechischen Alphabet übernommen:
Y Z
Die Unterscheidung U/V (10. Jh.?) und I/J (15./16.Jh.?) stammt aus dem Mittelalter. W entstand im Mittelalter aus der Ligatur [1] zweier konsonantisch verwendeter U/V (daher die engl. Bezeichnung double u).
Die Römer hatten nur Großbuchstaben, in heutigen Textausgaben werden jedoch nur Wörter am Satzbeginn, Eigennamen und von Eigennamen abgeleitete Adjektiva mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.
In heutigen Ausgaben lateinischer Texte wird inkonsequenterweise U/V unterschieden, J jedoch nicht verwendet (immer I). Folgendes Stück aus Cäsars Gallischem Krieg
APVD HELVETIOS LONGE NOBILISSIMVS FVIT ET DITISSIMVS ORGETORIX. IS M. MESSALA M. PISONE CONSVLIBVS REGNI CVPIDITATE INDVCTVS CONIVRATIONEM NOBILITATIS FECIT ET CIVITATI PERSVASIT [...]
wird somit meist wiedergegeben als
Apud Helvetios longe nobilissimus fuit et ditissimus Orgetorix. Is M. Messala M. Pisone consulibus regni cupiditate inductus coniurationem nobilitatis fecit et civitati persuasit [...]
Man beachte: Helvetios, civitati - fuit, inductus; ditissimus - coniurationem [konjura-]
Im deutschsprachigen Raum haben sich zwei Aussprachetraditionen eingebürgert. Für welche man sich entscheidet, ist letztlich Geschmackssache, jede hat Vor- und Nachteile.
Die eine Aussprachetradition geht auf Aussprachegewohnheiten der Spätantike zurück. Auf diesen beruht auch die deutsche Aussprache von aus dem Lateinischen stammenden Fremd- und Lehnwörtern [2], aber auch die Aussprache in den Tochtersprachen des Lateinischen (in der Hauptsache Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch).
i) c wird vor e (ae, oe) und i (y) als [ts], sonst als [k] ausgesprochen (Merkwort: Cicero):
Cicero [ˈtsitsero]
cano [ˈkano] ich singe - cecini [ˈtsetsini] ich habe gesungen
concessio [konˈtsessio] Bewilligung, Konzession
conclusio [konˈklusio] Schlußfolgerung, Konklusion
Ital. casa [ˈkaːsa] Haus,
scrivo [ˈskriːvo] ich schreibe,
certo [ˈtʃɛrto] sicher (ʃ bezeichnet stimmloses sch),
città [tʃitˈta] Stadt.
Franz. cas [kɑ] Fall,
crier [kriˈe] schreien,
cent [sɑ̃] hundert (ɑ̃ steht hier für offenes nasaliertes a),
cinq [sɛ̃ːk] fünf (ɛ̃ bezeichnet nasaliertes e).
ii) ti vor Vokal wird wie [tsi] ausgesprochen, nicht jedoch nach s, t, x und in griech. Namen:
natio [ˈnatsio] Volk, Stamm
ratio [ˈratsio] Vernunft
aber: bestia [ˈbestia] Tier, Sextius [ˈsekstius]
Nicht als [tsi] werden tī (d.h. wenn das i lang ist) und thi ausgesprochen:
totius [toˈtiːus]
Lithium [ˈliːtium]
Ital. nazionale [nattsioˈnaːle] staatlich,
razionale [rattsioˈnaːle] rationell.
Franz. nation [nɑˈsjɔ̃] Volk, Nation,
ration [rɑˈsjɔ̃] Ration.
iii) Die ursprünglichen Diphthonge (Doppellaute) ae, oe werden wie deutsches ä, ö ausgesprochen:
Caesar [ˈtsɛsar]
poena [ˈpøna] Strafe, Buße
Ital. Cesare [ˈtʃeːzare] (das z bezeichnet stimmhaftes s),
pena Strafe
Franz. César [seˈzar] , pénal [peˈnal] Straf-.
Immer getrennt zu sprechen sind ae, oe, wenn einer der beiden Vokale lang ist:
āēr [ˈa-er], Gen. āeris [ˈa-eris] Luft
poēta [po-ˈeta] Dichter
Daher auch ital. aere [ˈaːere], poeta [poˈɛːta], franz. aéro- [ˈaerɔ] Luft-, poète [pɔˈɛt].
iv) ph (nur in griech. Wörtern) wird wie f, ch wie das deutsche ch ausgesprochen.
philosophia [filoˈsofia] Philosophie
pulcher [ˈpulxer] (x steht für den ch-Laut) schön
schola [ˈsxola] Schule
Die andere Aussprachetradition orientiert sich an der Aussprache der klassischen Zeit.
i) c wird immer als [k] ausgesprochen:
Cicero [ˈkikero] (klang wohl auch für Römer witzig)
cano [ˈkano] ich singe - cecini [ˈkekini] ich habe gesungen
concessio [konˈkessio] Bewilligung, Konzession
conclusio [konˈklusio] Schlußfolgerung, Konklusion
ii) ti wird immer [ti] ausgesprochen:
natio [ˈnatio] Volk, Stamm
ratio [ˈratio] Vernunft
iii) ae, oe werden als Diphthonge [a-e], [o-e] ausgesprochen:
Caesar [ˈkaesar] (davon das dt. Lehnwort Kaiser)
poena [ˈpoena] Strafe, Buße
iv) ph wird als p-h, ch als k-h ausgesprochen.
philosophia [philoˈsophia] Philosophie
pulcher [ˈpulkher] schön
schola [ˈskhola] Schule
Eine weitere Form der Aussprache ist die sog. pronuntiatio
ecclesiastica, die vor allem in kirchlichen Kreisen geübt wird. Dabei
wird das Lateinische ausgesprochen, als wäre es Italienisch: e und o sind
häufig offen (wie in während,
offen), c vor e und i wird als tsch gesprochen:
Caesar dixit: veni, vidi, vici [ˈtʃeːzar ˈdiksit ˈvɛːni ˈviːdi ˈviːtʃi]
Die Römer unterschieden kurze und lange (im folgenden mit ˉ bezeichnet) Vokale:
māne morgens, am Morgen
manē bleib!, warte!
malum Übel, Unglück
mālum Apfel
Es wäre wünschenswert, diese Unterscheidung mitzumachen. Doch erfahrungsgemäß fällt uns Deutschsprechenden das nicht leicht. In der Praxis des Schulunterrichts wird daher auf diese Feinheit meist verzichtet.
i) Zweisilbige Wörter werden immer auf der ersten Silbe betont (Betonung im folgenden durch ´ bezeichnet):
térra Land, Erde
támen dennoch, trotzdem
ii) Drei- und mehrsilbige Wörter werden auf der vorletzten Silbe betont, wenn diese lang ist, ansonsten auf der drittletzten Silbe. Eine Silbe gilt als lang, wenn sie einen langen Vokal oder einen Diphthong (Doppelvokal) hat (Naturlänge) oder wenn auf den Vokal mindestens zwei Konsonanten folgen (Positionslänge). x [ks] und z [ts] gelten dabei als zwei Konsonanten, qu [kw] nur als einer, h gilt gar nicht als Konsonant. Handelt es sich bei den zwei Konsonanten um muta cum liquida (b, p, g, c, d, t + r, l, m, n), gilt die Silbe nicht als positionslang.
Naturlange vorletzte Silbe:
me-di-cí-na Medizin
pa-rá-tus bereit
Positionslange vorletzte Silbe:
fru-mén-tum Getreide
ap-pro-pín-quo ich nähere mich
Kurze vorletzte Silbe (daher Betonung der drittletzten Silbe):
ín-su-la Insel
dó-mi-nus Herr
té-ne-brae Finsternis (weil br muta cum liquida)
iii) Ausnahme von dieser Regel: Wörter, an die ein -que und, -ve oder, -ne (Fragepartikel) angehängt ist, werden immer auf der Silbe vor dem -que/-ve/-ne betont, auch wenn sie kurz ist.
dó-mi-nus do-mi-ná-que der Herr und die Herrin
fí-li-us fi-liá-ve der Sohn oder die Tochter
Entscheiden Sie sich für eine der beiden Aussprachetraditionen (falls Sie sich nicht entscheiden können, nehmen Sie die leichtere: b.). Lesen sie folgenden Text laut (!) und versuchen Sie sich über Aussprache und Betonung klar zu werden. Lange Vokale sind mit einem ¯ bezeichnet. Unbezeichnete Vokale sind kurz.
Rōmānī imperiī exōrdium
Proca, rēx Albānōrum, duōs fīliōs, Numitōrem et Amūlium
habuit. Numitōri, quī nātū maior erat, rēgnum relīquit. Sed
Amūlius, pulsō frātre, rēgnāvit, et ut eum subolē
prīvāret, Rēam Silviam, eius fīliam, Vestae sacerdōtem
fēcit. Quae tamen Rōmulum et Remum ūnō partū ēdidit. Quō
cognitō, Amūlius ipsam in vincula coniēcit, parvulōs alveō
impositōs abiēcit in Tiberim, quī tunc forte rīpās erat effūsus.
Sed, relābente flūmine, eōs aqua in siccō relīquit. Vāstae tum
in iīs locīs sōlitūdinēs erant. Lupa, ut fāma trāditum est,
ad vāgītum accurrit, īnfantēs linguā lambit, ūbera eōrum
ōrī admōvit, mātremque sē gessit.
(Lhomond, De viris illustribus)
románi impérii eksórdium
próka, reks albanórum, dúos fílios, numitórem et amúlium
hábuit. numitóri, kwi nátu májor érat, régnum relíkwit.
sed amúlius, púlso frátre, regnávit, et ut éum súbole
priváret, réam sílviam éjus fíliam véstä satserdótem
fétsit. kwä támen rómulum et rémum úno pártu édidit. kwo
kógnito, amúlius ípsam in wínkula konjétsit, párwulos
álweo impósitos abjétsit in tíberim, kwi tunk fórte rípas
érat effúsus. sed, relabénte flúmine, éos ákwa in síkko
relíkwit. wástä tum in íis lótsis solitúdines érant.
lúpa, ut fáma tráditum est, ad wagítum akkúrrit, infántes
língwa lámbit, úbera eórum óri admówit, matrémkwe se
géssit.
románi impérii eksórdium
próka, reks albanórum, dúos fílios, numitórem et amúlium
hábuit. numitóri, kwi nátu májor érat, régnum relíkwit.
sed amúlius, púlso frátre, regnávit, et ut éum súbole
priváret, réam sílviam éjus fíliam véstae sakerdótem
fékit. kwae támen rómulum et rémum úno pártu édidit. kwo
kógnito, amúlius ípsam in wínkula konjékit, párwulos álweo
impósitos abjékit in tíberim, kwi tunk fórte rípas érat
effúsus. sed, relabénte flúmine, éos ákwa in síkko
relíkwit. wástae tum in íis lókis solitúdines érant. lúpa,
ut fáma tráditum est, ad wagítum akkúrrit, infántes língwa
lámbit, úbera eórum óri admówit, matrémkwe se géssit.
Der Beginn des römischen Reiches
Proca, der König der Albaner (der Bewohner der Stadt Alba Longa), hatte
zwei Söhne, Numitor und Amulius. Er hinterließ die Herrschaft dem
Numitor, der der ältere war. Aber Amulius vertrieb seinen Bruder und
regierte, und um ihn der Nachkommenschaft zu berauben, machte er seine Tochter
Rea Silvia zur Priesterin der Vesta. Dennoch gebar sie Romulus und Remus in
einer einzigen Geburt (Zwillinge!). Als Amulius das erfuhr, ließ er
sie selbst in Ketten legen, die Knaben ließ er in einen Korb legen und
in den Tiber werfen, der damals zufällig die Ufer überschwemmt hatte.
Aber als der Fluß zurücksank (das Hochwasser ging zurück),
ließ das Wasser sie auf dem Trockenen zurück. Damals war in dieser
Gegend eine ausgedehnte Einöde. Wie von der Sage überliefert ist,
lief eine Wölfin zu den schreienden Kindern, beleckte die Babies mit
der Zunge, brachte ihre Zitzen in ihren Mund und verhielt sich wie eine
Mutter (d.h. sie säugte die Babies). (Die Kinder wurden dann von
einem Hirten gefunden und großgezogen, sie vertrieben ihren bösen
Großonkel Amulius aus Alba Longa, setzten ihren Großvater Numitor
wieder in die rechtmäßige Herrschaft ein und gründeten
schließlich Rom.)
So also kam die Wölfin zu der Ehre, römisches Wappentier zu werden.
Die Schwelle ist überschritten, doch bevor wir zur ersten Lektion (ad primam lectionem) schreiten, noch etwas, was eine jahrhundetealte Tradition des Lateinunterrichts darstellt: sententiae (Sprichwörter, Sentenzen) oder versus memoriales (Merkverse). Wir werden das in abgeschwächter Form mit Redewendungen und gefügelten Wörtern ausfüllen.
hīc et nunc hier und jetzt: augenblicklich, auf der Stelle, sofort.
[1] Ligatur: Verbindung zweier Buchstaben zu einer Drucktype (vv > w, ae > æ).
[2] Fremdwort: aus einer anderen Sprache stammendes
Wort, dem man die fremde Herkunft noch ansieht (Studium, Magister).
Lehnwort: aus einer anderen Sprache stammendes Wort, das in
seiner Form und Schreibung der eigenen Sprache angepaßt wurde (insula - Insel,
tabula - Tafel).
Erbwort: Wort, das eine Sprache mit einer anderen gemeinsam
hat (auch wenn die Form stark abweicht), weil diese zwei Sprachen miteinander
"verwandt" sind (ventus - Wind, monere - mahnen).
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 5. Jan. 2022