Michael Neuhold
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Lectio prima
léctio | Lesung, Lesestück, Lektion | engl. lesson |
prima | erste | dt. prima Qualität; Prim: erstes Intervall der musikal. Intervallehre |
Cláudia et Túllia convéniunt. | Claudia und Tullia treffen sich. |
Claudia: Salve, Tullia. | Claudia: Grüß dich, Tullia. |
Tullia: Salve, Claudia. | Tullia: Grüß dich, Claudia. |
Venit Marcus. | Markus kommt. |
Claudia et Tullia: Salve, Marce. | Claudia und Tullia: Grüß dich, Markus. |
Marcus: Salvéte, puéllae. | Markus: Grüß euch, Mädchen. |
(1) | et | und, auch | vgl. das Zeichen &, das eine Ligatur aus ET ist |
(2) | véni-o, vení-re | kommen | franz. venir |
veni-t | (er/sie/es) kommt | ||
(3) | con-véni-o, con-vení-re | zusammenkommen | dt. Konvent: Zusammenkunft |
con-véni-unt | sie kommen zusammen, sie treffen sich | ||
(4) | sálve-o, salvé-re | wohlauf sein, gesund sein | |
(5) | salve | sei gegrüßt, grüß dich, grüß Gott | |
salvé-te | seid gegrüßt, grüß euch, grüß Gott | ||
(6) | puélla | (das/ein) Mädchen | |
puéllae | (die) Mädchen (Plural) |
Der lateinische Standardgruß salve (seltener salvéto) ist ein Imperativ (Befehlsform), der soviel wie "sei wohlauf, sei gesund" bedeutet. Wenn man mehrere Menschen begrüßt, verwendet man die Pluralform salvete "seid wohlauf".
Die Zitierform (d.h. die Form, unter der ein Wort im Wörterbuch angegeben ist) ist im Deutschen der Infinitiv (Nennform): "lieben", "sehen", "kommen". Im Lat. dagegen wird die 1. Person Singular (Einzahl) Präsens (Gegenwart) Aktiv (Tätigkeitsform) verwendet: amo "ich liebe", video "ich sehe", venio "ich komme". Um alle Formen eines regelmäßigen Verbums bilden zu können, muß man im Lat. vier Formen kennen. Von diesen werden hier zunächst die Zitierform und der Infinitiv angeführt.
Für die Anrede hat das Lateinische einen eigenen Fall, den sog. Vókativ (von vocáre "rufen, nennen"). Er ist in den meisten Fällen gleich dem Nominativ (Tullia, Claudia), nur die Wörter auf -us bilden den Vokativ auf -e (Marcus - Marce), die Wörter auf -eus und -ius auf -i (Públius - Publi).
Magíster intrat et salútat. | Der Lehrer tritt ein und grüßt. |
Magister: Salvete, discípuli. | Lehrer: Grüß euch, Schüler. |
Étiam discipuli salútant. | Auch die Schüler grüßen. |
Discipuli: Salve, magister. | Schüler: Grüß Gott, Herr Lehrer. |
(7) | magíster | (der/ein) Lehrer | dt. Magister, ein akademischer Titel in Österreich |
(8) | íntr-o, intrá-re | eintreten, betreten | franz. entrer, engl. enter |
íntra-t | (er/sie/es) tritt ein, betritt | ||
(9) | salút-o, salutá-re | grüßen, begrüßen | franz. saluer, dt. salutieren: militärisch grüßen |
salúta-t | (er/sie/es) grüßt, begrüßt | ||
salúta-nt | (sie) grüßen, begrüßen | ||
(10) | discípulus | (der/ein) Schüler, christl. Jünger ([dis'tsipulus] od. [dis'kipulus]) | |
discípuli | (die) Schüler (Plural) | ||
(11) | ét-iam | auch (vgl. 1) (['etsiam] od. ['etjam]) |
Es gibt im klassischen Latein keine Sie-Form. Jeder, auch der Kaiser, wird geduzt. Seine Ehrerbietung gegenüber dem Gegrüßten wird durch eine höfliche Anrede ausgedrückt (in unseren Beispielen: der Eigenname, puellae, discipuli, magister). Wenn einem sonst nichts einfällt, kann man dómine "(mein) Herr" bzw. dómina "gnädige Frau" (wörtl. "Herrin") verwenden.
Sicher ist Ihnen auch aufgefallen, dass es im Lateinischen keinen Artikel (der, die, das, ein, eine) gibt.
Das folgende stammt aus Terenz [1], Andria (= die Frau von Andros [griech. Insel]) 800 - 802 (verkürzt). Das Stück spielt - wie alle römische Komödien nach griechischem Vorbild - in Athen, die auftretenden Personen sind Crito, ein alter Herr von Andros, die Sklavin Mysis und der (in unserem Abschnitt stumme) Sklave Davos. Crito begegnet den zwei Sklaven, die er nicht sogleich erkennt.
(Crito occúrrit duóbus servis.) | (Krito begegnet zwei Sklaven.) |
Crito: Salvete. | Krito: Seid gegrüßt. |
Mysis: Quem vídeo? Estne hic Crito? Is est. | Mysis: Wen sehe ich? Ist das nicht Krito? Er ist's. |
Crito: O Mysis, salve. | Krito: Oh Mysis, sei gegrüßt. |
Mysis: Salvus sis, Crito. | Mysis: Sei gegrüßt, Krito. |
(12) | quem? | wen? | |
(13) | víde-o, vidé-re | sehen | dt. Video: elektronisches Verfahren zum Aufnehmen und Wiedergeben von bewegten Bildern |
víde-o | ich sehe | ||
(14) | es-t | (er/sie/es) ist | |
s-i-s | du mögst sein, sei | ||
(15) | -ne (an ein Wort angehängt) | Fragesignal | |
(16) | hic | dieser | |
(17) | is | dieser, er | |
(18) | salv-us, salv-a, salv-um | wohlbehalten, unversehrt (vgl. 4) | franz. sauf; engl. safe sicher |
(19) | salvus sis | ~ salve (5) |
Salvus sis "du mögest wohlauf sein" (an eine Frau gerichtet: salva sis) ist sprachliche Variation zu salve.
Ein (meist an das erste Wort des Satzes) angehängtes -ne bezeichnet eine Frage. Im Deutschen drücken wir das durch die geänderte Wortstellung aus. Den Ton trägt dieses Wort dann auf der Silbe vor dem -ne. Es gibt im Lateinischen übrigens kein Wort, das "ja" bzw. "nein" bedeutet. Auf Entscheidungsfragen (Ja-Nein-Fragen) antwortet man meist, indem man den Satz positiv oder negativ wiederholt: "Ist er das?" - "Er ist's." oder "Er ist's nicht.". Im kürzesten Fall sagt man ita est "so ist es" (noch kürzer: ita) oder non ita est "es ist nicht so" (kürzer: non ita oder nur non). Weitere Möglichkeiten, "ja" und "nein" zu sagen, später.
Gladiatóres clamant: | Die Gladiatoren rufen: |
Ave, imperátor, moritúri te salútant. | Sei gegrüßt, Kaiser, die Todgeweihten grüßen dich. |
Imperátor respóndet: | Der Kaiser antwortet: |
Avéte vos. | Seid ihr gegrüßt. |
(20) | gladiá-tor | (der/ein) Gladiator (meist Kriegsgefangene oder Sklaven, seltener verurteilte Verbrecher oder Freiwillige, die auf Leben und Tod kämpfen mußten) | von lat. gladius "Schwert" |
gladiatór-es | (die) Gladiatoren (Pl.) | ||
(21) | clam-o, clamá-re | rufen, schreien | engl. ex-claim ausrufen |
clama-nt | (sie) rufen, schreien | ||
(22) | ave | sei gegrüßt, leb wohl | |
avé-te | seid gegrüßt, lebt wohl | ||
(23) | imperá-tor | Feldherr, Herrscher, Kaiser | engl. emperor |
(24) | moritúri | die gleich sterben werden, die Todgeweihten | |
(25) | re-spónde-o, re-spondé-re | antworten, erwidern | franz. répondre |
re-spónde-t | (er/sie/es) antwortet, erwidert | ||
(26) | vos | ihr, euch (Nom. od. Akk.) |
In der Kaiserzeit wurde ein anderes Grußwort modern: ave ist ein punisches Fremdwort, das etwa "lebe" bedeutet. Zu ave wird eine lateinische Pluralform avéte gebildet. Es wird sowohl beim Zusammentreffen als auch beim Abschied gebraucht.
Aus einer Stelle bei dem Dichter Martial [2] geht hervor, dass ave manchmal als Gruß an Lebende, im Gegensatz zu vale als Gruß an Tote gebraucht wurde. Während der Kaiser Claudius zu den Gladiatoren sagen wollte: Lebt wohl (ihr werdet ja sterben), meinten die Gladiatoren, dass der Kaiser sie mit seinem Gruß begnadigt habe, und hörten auf zu kämpfen.
Der auferstandene Jesus tritt trotz verschlossener Türen mitten unter seine Jünger (Joh. 20, 19):
Venit Iesus et dicit discipulis: | Da kommt Jesus und sagt (zu) seinen Jüngern: |
Pax vobis. | Friede (sei mit) euch. |
(2) | veni-t | (er/sie/es) kommt | |
(27) | dic-o, díc-ere | sagen, sprechen | franz. dire |
dic-it | (er/sie/es) sagt | ||
(10) | discipulis | Dat. (wem?) (den) Schülern, (den) Jüngern | |
(28) | pax | Friede | engl. peace, franz. paix |
(29) | vobis | euch (Dat.) (vgl. 26) |
Jesu Gruß lautete auf Hebräisch wohl schalom alejchem. Daraus wurde in der kirchlichen Liturgie der Gruß des Priesters an die Gemeinde pax vobíscum "Friede (sei) mit euch", worauf die Gemeinde antwortet: et cum spíritu tuo "und mit deinem Geist". An eine einzelne Person gerichtet heißt der Gruß pax tecum "Friede (sei) mit dir".
Der Engel Gabriel wird von Gott zu Maria gesandt, um ihr ihre Schwangerschaft und die Geburt ihres Sohnes Jesus anzukündigen (Luk. 1, 28):
Ángelus ad eam dicit: | Der Engel sagt zu ihr: |
Ave, grátia plena, Dóminus tecum. | Sei gegrüßt, (du) von Gnade volle, der Herr (sei) mit dir. |
(30) | ángelus | Engel | aus dem Griech. angelos Bote, Gottesbote = Engel |
(31) | ad (+Akk.) | zu, an, bei | |
ad eam | zu ihr, an sie (e-am Akk.Sg.Fem. von 17 is) | ||
(32) | grátia | Anmut; Beliebtheit; Dank; christl. Gnade | dt. Grazie, gratis: "um Dank" (d.h. ohne Bezahlung); engl. grace |
(33) | plen-us, plen-a, plen-um | voll (von/mit etw.) | dt. Plenum: Voll-Versammlung, franz. plein |
(34) | dóminus | Herr, christl. (meist großgeschrieben) der Herr (=Gott) |
Im Dt. steht bei "voll" meist eine Vorwortergänzung ("voll (von) Menschen"), ein Genetiv ("voll des Weines") oder Dativ ("voll heiligem Ernst"). Im Lat. steht bei plenus in klass. Zeit ein Gen., in späterer Zeit (wie im obigen Beispiel) ein Áblativ. Dies ist ein weiterer, dem Lateinischen eigentümlicher Fall, der vor allem auf die Fragen mit wem, womit; von wo, wovon; wo, wann steht.
execitátio, Pl. exercitatiónes f. Übung, Ausübung
Begrüße folgende Personen mit der entsprechenden Form von salve/salvete und achte auf korrekte Bildung des Vokativs. Überlege, wie die entsprechende Form von salvus/salva sis lauten müßte:
Statt salve (oder salveto) kann man auch ave oder salvus/salva sis sagen, statt salvete auch avete. Im folgenden sind alle uns bereits bekannten Möglichkeiten durchgespielt:
Et tu, Brute? Auch du, Brutus?
Nach Sueton und Cassius Dio soll Cäsar bei seiner Ermordung an den
Iden des März 44 v.Chr. auf Griechisch ausgerufen haben
"Auch du, Kind?" (kai sy, teknon), als er unter seinen
Mördern seinen Adoptivsohn und Protegé Brutus erblickte.
Daraus wurde dann auf Lateinisch obiges Zitat.
[1] P(úblius) Teréntius Afer: Nordafrikaner (daher der Beiname Afer), kam noch ganz jung als Sklave nach Rom, wurde von seinem Herrn, dem Senator Teréntius Lucánus, sorgfältig erzogen und freigelassen. Schrieb lateinische Komödien nach griechischen Vorlagen (sog. fábulae palliátae). Starb 159 v.Chr. noch relativ jung (35, nach anderen gar nur 25 Jahre alt) auf einer Bildungsreise nach Griechenland. Die erhaltenen sechs Komödien wurden zwischen 166 und 160 aufgeführt.
[2] M(arcus) Valérius Martiális: ca. 40 - 104 n.Chr. Stammt aus Bilbilis in Spanien, lebte etwa 64 - 98 in Rom. Schrieb Epigramme (Versgedichte), in denen er meist über gesellschaftliche Zustände oder einzelne Personen spottet.
Besagte Stelle (Mart. 9, 7) lautet:
Dicere de Libycis reduci tibi gentibus, Afer,
Continuis volui quinque diebus Ave:
"Non vacat" aut "dormit" dictum est bis terque reverso.
Iam satis est: non vis, Afer, avere: vale.
An fünf aufeinanderfolgenden Tagen wollte ich dir, Afer, dem von den Libyschen Stämmen Zurückgekehrten, Ave sagen. "Er hat keine Zeit" oder "er schläft" wurde dem zwei- und dreimal Wiedergekommenen gesagt. Jetzt habe ich genug: du willst, Afer, kein Ave: (dann) Adieu.
Das soll wohl heißen: Afer ist lebend zurückgekehrt, und der Dichter wollte ihn willkommen heißen. Da Afer jedoch nie Zeit hatte, sagt Martial ihm mit diesem Gedicht Lebewohl, so als sei Afer gestorben.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 5. Jan. 2022