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Die zweite Fahrt

Sokrates' δεύτερος πλοῦς (deuteros plous)

In seinem Dialog Phaidon lässt Platon seinen Lehrer Sokrates in den letzten Stunden vor seinem Tod mit seinen Freunden und Anhängern über die Unsterblichkeit der Seele disputieren. Dabei erzählt Sokrates, dass er auf der Suche nach der Ursache (αἰτία) der Dinge voller Begeisterung eine Schrift des Anaxagoras gelesen habe. Aber enttäuscht habe er feststellen müssen, dass Anaxagoras' Erklärungen der Ursache „naturwissenschaftlich“ ausgerichtet waren. Sokrates aber suchte nach einer „spirituellen“ Erklärung, nach dem was die Welt im Innersten zusammenhält. Also unternahm er, so erzählt Sokrates weiter, die zweite Fahrt zur Untersuchung der Ursache (τὸν δεύτερον πλοῦν ἐπὶ τὴν τῆς αἰτίας ζήτησιν Phaidon 99 c). Auf dieser versuchte er, die Dinge ausgehend von einer inneren Notwendigkeit zu erklären.

Gerade die „letzten“ Fragen nach Ursache und Sinn der Existenz, nach Leben und Tod, Liebe und Hass usw. lassen sich naturwissenschaftlich nicht (oder zumindest nicht befriedigend) beantworten, sondern eben nur im Zuge einer solchen „zweiten Fahrt“. Die Antworten der zweiten Fahrt beruhen häufig auf Bildern, Metaphern, Vergleichen. Ihre Erkenntnisse entstammen der Intuition und subjektiven Erfahrung. Sie wollen das Herz treffen, nicht das Hirn.

Die zweite Fahrt im NT

Auch Jesu Worte sind vielfach eine „zweite Fahrt“. Die Richtigkeit seiner Gleichnisse lässt sich nicht beweisen. Aber die zweite Fahrt will (und kann) nichts beweisen, sie will glaubhaft, plausibel machen.

Ein Beispiel: Jesus fordert seine Jünger auf, sich keine Sorgen um Nahrung oder Kleidung zu machen:

„Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?“ (Mt 6, 28-30, nach Luther)

Die kritische Ratio wird einwenden, dass man Blumen und Menschen nicht vergleichen kann: Blumen sind ja gar nicht bekleidet. Doch Jesus will (und kann) ja keinen rationalen Beweis dafür liefern, dass Gott für die Kleidung der Gläubigen sorgen wird. Er sagt sinngemäß vielmehr: Schaut die Lilien an (nicht: stellt euch vor eurem geistigen Auge Lilien vor!), schaut sie an! Sind sie nicht schön? Aber - fehlt ihnen nicht etwas Wesentliches? Sind sie nicht nackt? Nein, natürlich nicht. Wenn nun Gott die Welt so eingerichtet hat, dass selbst den Blumen nichts Wesentliches fehlt, dürfen wir dann nicht darauf vertrauen, dass er es uns Menschen auch an nichts Wesentlichem fehlen lassen wird?

Wie gesagt: dieser Vergleich ist keine logische Beweisführung für unseren kritischen Verstand, er ist eine „zweite Fahrt“ für unser sorgenvolles Herz.

Die Gefahr der Esoterik

Den kraftvollen Bildern dieser Art der Argumentation wohnt eine Gefahr inne: die der Esoterik. Denn man darf nie vergessen: die zweite Fahrt ist eben eine zweite. Sie kann die „erste Fahrt“ (um die rationale, naturwissenschaftliche Beweisführung einmal so zu nennen) nicht ersetzen. Die auf der zweiten Fahrt gewonnen Erkenntnisse dürfen nicht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der kritischen Vernunft stehen. Und man darf auch nicht die Erkenntnisse der zweiten Fahrt mit den Mitteln der ersten Fahrt bearbeiten, systematisieren und damit zu einer Art (pseudo-) ersten Fahrt machen.

Andernfalls landet man in der Esoterik: ein riesenhaftes Lehrgebäude, dessen Erkenntnisse aber nicht durch wissenschaftliche Methoden gewonnen wurden, sondern auf Intuition und subjektiver Erfahrung beruhen.

Die zweite Fahrt wird auch durch scheinbar wissenschaftliche Begründungung oder berühmte Gewährsmänner nicht zur ersten. Was zählt, ist allein die Überzeugungskraft in den Bildern selbst.

Die folgenden Fahrten sind keine esoterischen Lehrsätze, es sind Bilder für das Herz.

Beispiele aus der Popmusik

Hinter dem Horizont geht es weiter

Ich hatte gerade das Gefühl, am Ende zu sein, konnte mir nicht mehr vorstellen, wie es weitergehen sollte. Das hörte ich das Lied von Udo Lindenberg, dessen Refrain mit dem Satz „hinter dem Horizont | geht's weiter“ beginnt. Und plötzlich wurde mir klar, dass das Lied recht hat. Auch wenn ich nicht über den Horizont hinaussehen kann, ist es klar, dass es dahinter weitergeht.

Die Welt ist nicht an der Grenze meines Blickfeldes zu Ende. So ist es auch mit dem Leben. Wir sehen nicht, wie es weitergehen soll und wird. Doch irgendwie wird es ganz sicher weitergehen; möglicherweise anders, als wir es uns wünschen würden, steinig, trocken, doch es geht weiter.

Vielleicht ist es mit dem Leben als ganzes ebenso: wir können über den Horizont des Todes nicht hinaussehen. Doch noch hinter jedem Horizont ist es weitergegangen. Vielleicht auch hinter diesem.

There should be sunshine after rain

There should be laughter after pain
There should be sunshine after rain
These things have always been the same
So why worry now?
(Lachen sollte auf Schmerz folgen
Sonnenschein sollte auf Regen folgen
Diese Dinge sind immer dieselben gewesen
Warum sich also jetzt Sorgen machen?
)

„Auf Regen folgt Sonnenschein“, so könnte man den Refrain des Liedes „Why worry“ der Gruppe Dire Straits frei übersetzen. Kein Schmerz dauert ewig, kein Leiden ist endlos. Wie der Regen irgendwann einmal aufhört und danach die Sonne scheint, so hört auch das (unbeinflussbare) Leiden irgendwann einmal auf und macht der Gelegenheit zur Freude Platz.

Doch gilt dies für einen Schmerz, auf den wir wie auf den Regen keinen Einfluss haben. Wenn wir uns in einer leidvollen Situation befinden und es in der Hand hätten, diese Situation zu beenden, ist geduldiges Verharren und Warten auf ein Wunder die falsche Haltung. Eine unerträgliche Beziehung, das Gequältwerden durch Menschen, denen wir notfalls auch aus dem Weg gehen können (und seien es die eigenen Eltern oder Kinder), eine kaputtmachende Arbeit - auf all diese passt das Bild vom Regen nicht!

Ein Wesen von Bildern ist, dass sie sich in einem Punkt mit der gemeinten Sache treffend berühren: diesen Punkt nennt man das tertium comparationis. Man muss darauf achten, dass dieser Vergleichspunkt die Sache wirklich im Kern trifft. Sonst ist die zweite Fahrt ein haltloses Herumschwimmen ohne Plan und Ziel.

I am sailing home again

I am sailing, I am sailing
Home again 'cross the sea
I am sailing stormy waters
To be near you, to be free
(Ich segle, ich segle
Wieder nach Hause über das Meer
Ich segle stürmische Wasser
Um dir nahe zu sein, um frei zu sein
)

Möglicherweise ist dieses Lied von Rod Stewart ganz anders gemeint, aber das Bild gefällt mir: das Leben als Heimreise zu Gott. Es geht zwar oft durch stürmische Zeiten, in denen die Wellen hoch schlagen und wir das Gefühl haben, gleich müssen wir ertrinken. Aber das Leben läuft auf ein Ziel zu: das Zuhause. Helmut Thielicke schreibt sinngemäß einmal, am Ende unseres Lebens steht ein liebender Vater, der darauf wartet, uns endlich in die Arme schließen zu können.

Die Metapher von der Seereise ist uralt und wurde in verschiedener Weise verwendet. Alkaios z.B. wendet es auf die Politik an: das Gemeinwesen, der Staat als Schiff, das vom Sturm zerstört wird und unterzugehen droht und der Dichter mit ihm (Lyrica Graeca Selecta 148; ähnlich Hor. carm. 1,14). Eine Variante davon ist Reinhard Meys Lied „Narrenschiff“: Von unfähigen und korrupten Leuten gelenkt fährt das Staatsschiff geradewegs auf die Klippen zu. Eine andere Anwendung ist das christliche Lied „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“. Spätestens hier wird aus dem Vergleich eine Allegorie.

Nur die Götter gehen zugrunde, wenn wir endlich gottlos sind

So singt Konstantin Wecker in seinem Lied „Genug ist nicht genug“. Er hat das sicher so gemeint; und angesichts des erzkatholischen Bayern, aus dem Wecker stammt (diese Mischung aus Frömmigkeit, Bierdunst und Recht und Ordnung), kann man es ihm wohl nicht verübeln.

Aber als Christen glauben wir, dass genau das die Einflüsterung des Teufels ist: Gott endlich los sein, sich selber an seine Stelle setzen, selber entscheiden, was gut und böse ist - das ist Freiheit, das ist Leben. Das will uns der Teufel weismachen.

Doch nicht Gott geht zugrunde, wenn wir gottlos sind - wir Menschen gehen daran zugrunde. Gott hört nicht auf zu existieren, nur weil wir nicht mehr an ihn glauben. Die Gottferne, die Sünde (Einzahl) macht den Menschen kaputt.

Konstantin Weckers Leben, seine schwere Kokainabhängigkeit, seine Konflikte mit dem Gesetz, zeigen, wohin konsequente Gottlosigkeit führt. Da ist keine Schadenfreude angebracht. Wir Christen müssen uns um eine glaubwürdige Frömmigkeit bemühen.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 3. Mai 2024