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Unser tägliches Brot


Die vierte Bitte im Vaterunser lautet nach Mt 6,11 in der Lutherbibel 2017 und der Elberfelder Übersetzung 2001: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ Die Einheitsübersetzung 2006 hat: „Gib uns heute das Brot, das wir brauchen.“ Freier, aber inhaltlich übereinstimmend, die Gute Nachricht 1991: „Gib uns, was wir heute zum Leben brauchen.“ Der griech. Text lautet:

Mt 6,11 τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον. ton árton hēmṓn ton epioúsion dos hēmī́n sḗmeron.
Lk 11,3 τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν. ton árton hēmṓn ton epioúsion dídou hēmī́n to kath' hēméran.

Lk 11,3 variiert den Wortlaut geringfügig: Präsensimperativ δίδου dídou (betont die regelmäßige Wiederkehr) statt Aorist δός dos; τὸ καθ’ ἡμέραν to kath' hēméran „täglich, Tag für Tag“ statt σήμερον sḗmeron „heute“ (hebt ebenfalls auf Wiederholung ab). Didache 8,2 gibt die Bitte im Wortlaut des Mt wieder.

Tägliches Brot oder Brot, das wir brauchen? Lightfoot hat dazu eine ausführliche Abhandlung geschrieben. Die Fülle an Literatur, die im Bauerschen Wörterbuch angeführt wird (und die sicher nur einen kleinen Ausschnitt repräsentiert), ist erschlagend. Es gibt auch einen längeren Artikel dazu in der engl.-sprachigen Wikipedia. Ich möchte hier vor allem die Quelltexte, die Lightfoot nennt oder kurz zitiert, in deutscher Übersetzung bieten.

Obwohl ich die alten Sprachen einmal studiert habe, habe ich nicht alle Texte immer zur Gänze verstanden. Manchmal ist meine Übersetzung ein educated guess, und mit Fehlern und Missverständnissen meinerseits ist immer zu rechnen. Caveat lector! You have been warned.

Das griech. Wort ἐπιούσιος epioúsios ist wohl ein Neologismus der Evangelisten. Es findet sich nur in der Vaterunserbitte. Das lange behauptete Vorkommen in einem von Flinders Petrie in Hawara gefundenen Papyrus (P. Hawara Nr. 245, meist zitiert als Preisigke, Sammelbuch Nr. 5224) dürfte auf einer Fehllesung des Herausgebers A. H. Sayce beruhen. Er liest auf einer Liste von Haushaltsausgaben: ιε επιουσι[ων] 𐅁 und übersetzt „Fifteenth day: for the day's expenses, ½ dr.“ Als der lange verschollene Papyrus 1998 in der Beinecke Library in Yale wiedergefunden wurde, lasen die Wissenschaftler an besagter Stelle allerdings ἐλαίου elaíou „Öl“.

Ἐπιούσιος kann u.a. verstanden werden als:

  1. ἐπὶ τὴν οὖσαν epí tēn oúsan (erg. ἡμέραν hēméran) (von ἐπ-εῖναι ep-eínai „darauf-, daran-, da-, vorhanden sein“) „für den vorhandenen, heutigen, jeweiligen Tag“
  2. ἐπὶ τὴν οὐσίαν epí tēn ousían „für das Dasein“ (Menge, Taschenwörterb. 36. Aufl.: „(zum Lebensunterhalt) nötig“, von ἡ οὐσία hē ousía „Dasein, Wesen; Vermögen, Besitz“)
  3. von ἡ ἐπ-ιοῦσα hē ep-ioúsa „der folgende Tag“ abgeleitet (von ἐπ-ιέναι ep-iénai „herankommen“), also „für den folgenden Tag“ (Pape: „bis zum folgenden Tag ausreichend“, dann wäre es inhaltlich identisch mit der ersten Auffassung)

Auf diese drei Verständnismöglichkeiten wird im folgenden als erste, zweite, dritte Auffassung verwiesen. Wo das Wort täglich als Wiedergabe von ἐπιούσιος verwendet wird, ist es hellblau hinterlegt.

Grammatiken und Lexika

Rieneckers Sprachlicher Schlüssel hat:

zu Mt 6,11 ἐπιούσιος was für d. vorliegenden Tag bestimmt ist
zu Lk 11,3 ἐπιούσιος für den folgenden Tag bestimmt (vgl. ἡ ἐπιοῦσα, näml. ἡμέρα, Apg. 20,15), besser wohl „das für den Tagesbedarf nötige Brot“ (ἐπὶ τὴν οὖσαν, näml. ἡμέραν, vgl. ἐπιμήνιος (der Bedarf) für einen Monat)

Die erste und zweite Auffassung liegen also inhaltlich nah beeinander. Bauer vergleicht zur ersten Auffassung einerseits Thuk. 1,2,2: τῆς καθ’ ἡμέραν ἀναγκαίου τροφῆς […] ἐπικρατεῖν „die Tag für Tag nötige Nahrung erringen“. Und andererseits Vita Aesopi Kap. 19: τὸν καθημερινὸν ζήτει προσλαμβάνειν ἄρτον καὶ εἰς τὴν αὔριον ἀποθησαύριζε „bemühe dich, dir das tägliche Brot zu verschaffen und sammle für den folgenden Tag“.

Blass schreibt in der 2. Aufl. seiner Ntl. Grammatik:

Ebenso singulär ist ἐπιούσιος Mt 611. L 113, nicht wohl anders als von ἡ ἐπιοῦσα sc. ἡμέρα (A 1611 u. s. Act.) herzuleiten, wonach es das Brot für den kommenden Tag bedeutet; s. d. ausf. Darlegung b. Lightfoot p. 217-260. Das Wort war dem Origenes (I 245) weder aus der Litteratur noch aus der Umgangssprache bekannt, muss also künstliche Übersetzung eines aramäischen sein.

In der 18. Aufl. werden die erste und dritte Auffassung als gleichwertige Verständnismöglichkeiten angeboten.

Zum öfter vorgebrachten Argument, wenn ἐπιούσιος von οὖσα oder οὐσία gebildet wäre, müsste es ἐπ-ούσιος ep-oúsios heißen, schreibt Blass/Debrunner in der 18. Aufl.:

Die Koine vernachlässigt der etymologischen Durchsichtigkeit zuliebe oft den Wohllaut; bestrebt nach deutlicher Isolierung der Bestandteile vermeidet sie auch nicht den Hiatus in der Komposition, besonders nicht bei Zahlwörtern.

Als Beispiele werden genannt: ἀγαθοεργεῖν 1Tim 6,18, ἀλλοτριεπίσκοπος 1Petr 4,15, außerhalb des NT: ἀξιέπαινος, ἀξιοεπίτευκτος, u.a.m.

Schwyzer in seiner griech. Grammatik:

Wie ἐφ-ημέριος u. ἐπ-έτιος auch ἐπι-ούσιος (ἄρτος) ‚für den betreffenden (laufenden) Tag bestimmt‘ ev. Mt. 6, 11 = ev. Luc. 11, 3, ἐπιούσια‚ diaria, tägliches Existenzminimum‘ Pap. aus ἐπὶ (τὴν) οὖσαν (ἡμέραν); Blaß-Debrunner⁷ § 123, 1.

Eine weitere Variante bringt Schirlitz ins Spiel:

Andere leiten es von ἐπεῖναι, vorhanden sein, s. v. a. hinreichen, ab: unser genügendes Brot;

Doch wo heißt ἐπεῖναι „hinreichen“? Das scheint mir doch eine allzu freie Wiedergabe.

Die alten Versionen

Die erste Auffassung hat eine inhaltliche Entsprechung zu dem hebr. Ausdruck דְּבַר־יֹום בְּיֹומֹו debar-jôm bejômô in Ex 16,4, den Gesenius mit „n. d. Erfordernisse eines jeglichen Tages“ wiedergibt (die Menge Manna, die die Israeliten jeden Tag außer am Sabbat sammeln sollen). Ihr entspricht die vereinfachende, aber m.E. sachlich treffende Wiedergabe quotidianus „täglich“ der Vetus Latina. Ihr folgen auch viele dt. Übersetzungen.

Nazaräerevangelium

Hieronymus schreibt in seinem Mt-Kommentar zur Stelle (s.o.): in Evangelio quod appellatur secundum Hebraeos, pro supersubstantiali pane, repperi MAHAR, quod dicitur crastinum „im sogenannten Hebräerevangelium fand ich für übernatürliches Brot MAHAR, was morgiges heißt“.

Die Stelle wird von Bauer als HE 7 (Hebräerev. frg. 7) geführt, von Schneemelcher als GN 5 (Gospel of the Nazaraeans frg. 5). Das apokryphe, aramäisch geschriebene Evangelium stammt wohl aus der 1. Hälfte des 2. Jh. Es hat hebr. מָחָר māḥār bzw. wohl aram. מְחַר meḥar „morgen; morgig, künftig“.

Vetus Syra

Die alte syr. Übersetzungen des NT, die wohl später in den Text der Peschitta eingeflossen sind und durch diese ersetzt wurden, entstanden vermutlich Ende des 2. Jh. als Reaktion auf das Diatessaron, eine Evangelienharmonie. Daher auch der syr. Name Evangelion da-Mepharreshe „Evangelium der getrennten (Evangelienbücher)“. Diese Übersetzungen sind noch in zwei Evangelienhandschriften überliefert.

Curetonianus

Mt 6,11 ܘܠܚܡܢ ܐܡܝܢܐ ܕܝܘܡܐ ܗܒ ܠܢ܂ w-lḥm-n ʾmjnʾ d-jwmʾ hb l-n Und unser bleibendes Brot des Tages gib uns.
Lk 11,3 ܘܗܒ ܠܢ ܠܚܡܐ ܐܡܝܢܐ ܕܟܠܝܘܡ܂ w-hb l-n lḥmʾ ʾmjnʾ d-kljwm Und gib uns das bleibende Brot täglich (od. jeden Tages).

Lightfoot zitiert Curetons Hinweis auf Num 4,7, wo die Schaubrote im Tempel als לֶחֶם הַתָּמִיד læḥæm hat-tāmîd „ständiges Brot“ bezeichnet werden, was in der Peschitta ܠܚܡܐ ܐܡܝܢܐܝܬ lḥmʾ ʾmjnʾjt heißt. Man könnte auch darauf verweisen, dass die täglichen Opfer מִנְחַת הַתָּמִיד minḥat hat-tāmîd „ständiges (d.i. tägliches) Speiseopfer“ (Num 4,16 u.ö.) und עֹלַת (הַ)תָּמִיד ʿolat (hat-)tāmîd „ständiges (d.i. tägliches zweimaliges) Brandopfer“ (Ex 29,42 u.ö.) genannt werden.

Sinaiticus

Der sog. Sinai-Syrer bricht in Mt 6 am Anfang von V. 10 ab, der V. 11 ist nicht erhalten. In Lk 11,3 ist der Text identisch mit dem des Curetonianus.

Der syr. Text der Vetus Syra hat ܐܰܡܺܝܢܳܐ ʾamînâ „bleibend, immerwährend, ewig“. Payne Smith gibt den Ausdruck in Mt 6,11 in seinem Thesaurus so wieder: panis constans diei, panis qui de die in diem sufficiat „beständiges Brot des Tages, Brot, das von Tag zu Tag ausreicht“. Burkitt übersetzt: „our continual bread of the day“.

Vetus Latina

Seit dem 2. Jh. entstanden unsystematisch lat. Übersetzungen der Bibel. Man bezeichnet sie zusammenfassend als Vetus Latina. Sie wurden später von Hieronymus' Übersetzungswerk verdrängt.

Mt 6,11 Panem nostrum quotidianum da nobis hodie. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Lk 11,3

In Sabatiers Ausgabe der Vetus Latina sind Mt 6,11 und Lk 11,3 wortident wiedergegeben. Das griech. ἐπιούσιος wird mit quotidianus „täglich“ übersetzt. Das σήμερον „heute“ des Mt ist auch in den Lk-Text eingedrungen.

Koptisch

Die koptischen Übersetzungen sind spätestens seit dem 3. Jh. entstanden, die sahid. (in Oberägypten) vielleicht schon etwas früher (2. Jh.), die bohair. (in Unterägypten) etv. auch etwas später (4. Jh.).

Sahidisch

Mt 6,11 ⲡⲉⲛⲟⲉⲓⲕ ⲉⲧⲛⲏⲩ ⲛⲅ̄ϯ ⲙ̄ⲙⲟϥ ⲛⲁⲛ ⲙ̄ⲡⲟⲟⲩ. pen-oîk et-nēu n⸗eg-ti em-mo⸗f na⸗n em-pe-oû Und unser zukünftiges Brot gib (es) uns heute.
Lk 11,3 ⲡⲉⲛⲟⲉⲓⲕ ⲉⲧⲛⲏⲩ ⲧⲁⲁϥ ⲛⲁⲛ ⲙ̄ⲙⲏⲛⲉ. pen-oîk et-nēu taa⸗f em-mēne Unser zukünftiges Brot gib (es) uns täglich.

Bohairisch

Mt 6,11 ⲡⲉⲛⲱⲓⲕ ⲛ̄ⲧⲉ ⲣⲁⲥϯ ⲙⲏⲓϥ ⲛⲁⲛ ⲙ̄ⲫⲟⲟⲩ. pen-ōik ente rasti mēi⸗f na⸗n em-p-hoû Unser Brot von morgen gib (es) uns heute.
Lk 11,3 ⲡⲉⲛⲱⲓⲕ ⲉⲑⲛⲏⲟⲩ ⲙⲏⲓϥ ⲛⲁⲛ ⲙ̄ⲙⲏⲛⲓ. pen-ōik eth-nēû mēi⸗f na⸗n em-mēni Unser zukünftiges Brot gib (es) uns täglich.

Die kopt. Übersetzungen verstehen ἐπιούσιος im Sinne der dritten Auffassung: sahid. ⲉⲧ-ⲛⲏⲩ et-nēu (Mt 6,11 ), bohair. ⲉⲑ-ⲛⲏⲟⲩ eth-nēû (Lk 11,3) „zukünftig“, wörtl. „was kommt“, also dieselbe Analogie wie im Griech. (ἐπιών epiṓn, Part. von ἐπιέναι: „kommend, bevorstehend, zukünftig“), daher übersetzt Horner „bread which cometh“; bohair. ⲛ̄ⲧⲉ ⲣⲁⲥϯ ente rasti (Mt 6,11): „des morgigen Tages, von morgen“, das entspricht einem griech. τῆς ἐπιούσης.

Wulfilabibel

Bischof Wulfila hat Mitte des 4. Jh. die Bibel oder zumindest das NT ins Gotische übersetzt. (Vom got. AT sind nur Teile des Neh erhalten und deren Autorschaft ist nicht unumstritten.)

Mt 6,11 hlaif unsarana þana sinteinan gif uns himma daga. Unser tägliches Brot (wörtl.: Brot unseres das tägliche) gib uns heute.

Die got. Übersetzung hat in Mt 6,11 sinteins. Dieses Wort kommt sehr oft als Adv. sinteino „immer, allezeit“ vor. Doch die Nebenform seiteins als Wiedergabe von καθ’ ἡμέραν kath' hēméran „täglich, Tag für Tag“ (2Kor 11,28) und ein (mutmaßliches?) Vorkommen in der Skeireins 3,10 (einer Auslegung zum JohEv) dürften die von Streitberg gegebene Bedeutung „täglich“ für das Adjektiv einigermaßen sichern. (Das Wulfila Project hat die fragliche Passage unter „3:5“). Lightfoot gibt es allerdings mit continual „ständig, andauernd“ wieder. (Lk 11 ist in der got. Bibel nicht erhalten.)

Vulgata

Papst Damasus I. beauftragte 382 Hieronymus mit der Überarbeitung der vorhandenen lat. Übersetzungen der Evangelien (der heute sog. Vetus Latina, s.o.). Ob und in welchem Umfang Hieronymus auch die übrigen Bücher des NT bearbeitet hat, wird offenbar unterschiedlich beurteilt. Ab 385 widmete sich Hieronymus dann der Neuübersetzung des AT. Da Papst Damasus 384 gestorben war, erlangte Hieronymus' Übersetzung keinen offiziellen Status, sondern verbreitete sich nach und nach, wurde z.T. auch mit Lesarten der Vetus Latina vermischt. Im Spätmittelalter kam für sie die Bezeichnung Vulgata „allgemein verbreitete“ auf.

Mt 6,11 panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie. Unser überwesentliches Brot gib uns heute.
Lk 11,3 panem nostrum cotidianum da nobis cotidie. Unser tägliches Brot gib uns täglich.

Die Vulgata übersetzt im Mt supersubstantialis, was Georges als „zum Lebensunterhalte notwendig“ versteht; ähnlich Lewis/Short: „necessary to support life“, dagegen Stowasser: „zukommend, betreffend; täglich“. Aber das ist wohl eher die Wiedergabe von ἐπιούσιος. Super-substantialis dürfte vielmehr „übernatürlich, geistlich“ o.ä. bedeuten. Zur Begründung des Hieronymus für diesen Begriff s.u. Hieronymus. In Lk 11,3 hat Hieronymus das cotidianus der Vetus Latina beibehalten.

Peschitta

Die syr. Peschitta des NT ist vermutlich im 4. Jh. entstanden, nach anderen in der ersten Hälfte des 5. Jh. (Das AT hat eine etwas andere Entstehungsgeschichte: vermutlich gab es schon jüdische Übersetzungen ins Syrische, ehe die Christen sich des syr. AT „bemächtigten“.)

Mk 6,11 ܗܰܒܼ ܠܰܢ ܠܰܚܡܳܐ ܕܣܽܘܢܩܳܢܰܢ ܝܰܘܡܳܢܳܐ܂ hab lan laḥmâ d-sûnqānan jawmānâ Gib uns das Brot unseres Bedarfs heute.
Lk 11,3 ܗܰܒܼ ܠܰܢ ܠܰܚܡܳܐ ܕܣܽܘܢܩܳܢܰܢ ܟܽܠܝܽܘܡ܂ hab lan laḥmâ d-sûnqānan kuljûm Gib uns das Brot unseres Bedarfs täglich.

Die Wiedergabe der Peschitta ist wohl im Sinne der zweiten Auffassung zu verstehen: ܠܰܚܡܳܐ ܕܤܽܘܢܩܳܢܰܢ laḥmâ de-sûnqānan „Brot unseres Bedarfs”, d.i. „das Brot, das wir brauchen“ (Wurzel ܤܢܩ snq „brauchen, benötigen, ermangeln“). Payne Smith übersetzt: „bread for our needs, sufficient bread“. Das liegt aber sehr nahe an der Payneschen Wiedergabe der curetonianischen Version.

Lightfoot zitiert auch den Text der syr. Übersetzung des Thomas von Harqel (frühes 7. Jh.) und den des (in einem Lektionar überlieferten?) sog. Jerusalemer Syrers. Ich habe hierzu keine weiteren Quellen und kann daher nur Lightfoots Text weitergeben.

Mt 6,11 ܠܚܡܐ ܕܝܠܢ ܗܿܘ ܣܘܢܩܢܝܐ ܗܒ ܠܢ .ܝܘܡܢܐ laḥmâ dîlan hau sûnqānājâ hab lan jawmānâ Unser notwendiges Brot gib uns heute.
Lk 11,3 .ܠܚܡܐ ܕܣܘܢܩܢܐ ܕܝܠܢ ܗܒ ܠܢ ܝܘܡܢܐ laḥmâ d-sûnqānâ dîlan hab lan jawmānâ Das Brot unseres Bedarfs gib uns heute.
Mt 6,11 ܠܚܡܢ ܕܥܘܬܪܐ ܗܒ ܠܢ .ܝܘܡܕܢ lḥeman d-ʿûtrâ hab lan jawmden Unser Brot des Überflusses gib uns heute.

Der harqelianische Text variiert nur die Peschitta. Der Jerusalemer hingegen ist anscheinend der Behauptung des Origenes (s.u.) auf den Leim gegangen, und übersetzt, als ob im griech. Text περιούσιος perioúsios „übermäßig, im Überfluss, reichlich“ stünde.

Thomasakten

Lightfoot gehört zu einer Generation von Theologen, die die syr. Versionen sehr hoch einschätzten. Daher führt er als Textzeugen sogar die syr. Version der Thomasakten an, in denen der Apostel das Vaterunser betet. Diese apokryphe Apostelgeschichte ist im 3. Jh. auf Syr. verfasst worden. Die erhaltene syr. Version stellt allerdings eine theologisch bereinigte Fassung dar. Die griech. Übersetzung (des syr. Originals?) enthält jedoch genau die Vaterunserbitte ums Brot nicht. (Die weiteren Syrer, die Lightfoot ins Feld führt übergehe ich, weil sie nichts Neues beitragen.)

ܘܗܒ ܠܢ ܠܚܡܐ ܐܡܝܢܐ ܕܝܘܡܐ w-hab lan laḥmâ ʾamînâ d-jawmâ Und gib uns das beständige Brot des Tages (d.h. für heute).

Armenisch

Die armen. Übersetzung ist in der ersten Hälfte des 5. Jh. entstanden, also nur wenig später als die Vulgata.

Mt 6,11 զհաց մեր հանապազորդ տուր մեզ այսօր։ zhacʿ mer hanapazord tur mez aysōr Unser (all)tägliches (od. beständiges, dauerndes) Brot gib uns heute.
Lk 11,3 զհաց մեր հանապազորդ տուր մեզ զօրըստօրէն։ z-hacʿ mer hanapazord tur mez z-ōr-əst-ōrēn Unser (all)tägliches (od. beständiges, dauerndes) Brot gib uns Tag für Tag (od. jeden Tag).

Die armen. Übersetzung hat հանապազորդ hanapazord „täglich, alltäglich; dauernd“ (zu հանապազ hanapaz „immer“?). Das Wort kommt laut TITUS noch zweimal im NT vor: in Heb 10,11 als Wiedergabe für griech. καθ’ ἡμέραν kath' hēméran „Tag für Tag“; und in Offb 21,25 in einem erklärenden Zusatz, der so nicht im griech. Urtext steht. Der griech. Text hat: „und ihre Türen werden nicht verschlossen bei Tag“, im Armen. schließt sich daran an: եւ ի գիշերի, այլ բաց կային հանապազորդ „und bei Nacht, sondern sie stehen dauernd/täglich offen“.

Die griechischen Väter

Origenes

Origenes (185-254, aus Alexandria gebürtig) gibt in seiner Schrift über das Gebet auch eine Auslegung zum Vaterunser. Dabei sagt er über das Wort ἐπιούσιος (de oratione 27,7):

Τί δὲ καὶ τὸ „ἐπιούσιον“, ἤδη κατανοητέον. Was auch das „epiousios“ ist, muss nunmehr überlegt werden.
πρῶτον δὲ τοῦτο ἰστέον, ὅτι ἡ λέξις ἡ „ἐπιούσιον“ παρ’ οὐδενὶ τῶν Ἑλλήνων οὔτε τῶν σοφῶν ὠνόμασται οὔτε ἐν τῇ τῶν ἰδιωτῶν συνηθείᾳ τέτριπται, Zuerst muss man dies wissen, dass das Wort „epiousios“ bei keinem der Griechen, weder den Gebildeten genannt ist, noch in der Gewohnheit (d.h. dem Sprachgebrauch) der einfachen Menschen benutzt wird,
ἀλλ’ ἔοικε πεπλάσθαι ὑπὸ τῶν εὐαγγελιστῶν. sondern es scheint von den Evangelisten gebildet worden zu sein.
συνηνέχθησαν γοῦν ὁ Ματθαῖος καὶ ὁ Λουκᾶς περὶ αὐτῆς μηδαμῶς διαφερούσης, αὐτὴν ἐξενηνοχότες. Jedenfalls stimmten Matthäus und Lukas über es (das Wort), das sich (bei ihnen) überhaupt nicht unterscheidet, überein, als sie es veröffentlicht haben.
[…]
ἰσομοία τῇ „ἐπιούσιον“ προσηγορίᾳ ἐστὶ παρὰ Μωϋσεῖ γεγραμμένη, ὑπὸ θεοῦ εἰρημένη· Eine der Bezeichnung „epiousios“ ähnliche steht geschrieben bei Mose, (die) von Gott gesagt (wird):
„ὑμεῖς δὲ ἔσεσθέ μοι λαὸς περιούσιος.“ [Ex 19,5] „Ihr aber werdet mir ein Volk des Eigentums (periousios) sein.“
καὶ δοκεῖ μοι ἑκατέρα λέξις παρὰ τὴν οὐσίαν πεποιῆσθαι, Und mir scheinen beide Wörter auf die ousia hin gemacht zu sein,
ἡ μὲν τὸν εἰς τὴν οὐσίαν συμβαλλόμενον ἄρτον δηλοῦσα, das eine, indem es das Brot anzeigt, das in die ousia gemischt wird,
ἡ δὲ τὸν περὶ τὴν οὐσίαν καταγινόμενον λαὸν καὶ κοινωνοῦντα αὐτῇ σημαίνουσα. das andere, indem es das Volk bezeichnet, das um die ousia verweilt und an ihr Anteil hat.

Origenes, der doch wohl griechischer Muttersprachler war, kennt das Wort ἐπιούσιος nur aus dem Vaterunser. Und er scheint auch nicht recht zu wissen, was es bedeuten soll. Er stellt es neben περι-ούσιος peri-oúsios, das eigentlich „übermäßig, im Überfluss, reichlich“ (v. περιουσία periousía „Fülle, Überfluss, Reichtum“) bedeutet. Die LXX verwendet es in der Bedeutung „jmds. Eigentum bildend, jmd. gehörend“ (vielleicht zu οὐσία ousía in der Bedeutung „Vermögen, Habe, Besitz“), als Übersetzung von hebr. סְגֻלָּה segullâ „Eigentum“. Allerdings versteht Origenes οὐσία hier in einem abstrakt-philosophischen Sinn als „Dasein, Wesen, Substanz“ (s. die mir schwer fassbare Definition im anschließenden § 8). Und das tägliche Brot der Vaterunserbitte ist für ihn die geistliche Nahrung des Wortes Gottes (§ 9). Doch diese Gedankensphäre lag Mt und Lk sicher fern.

Lightfoot zählt einige andere Komposita von -ούσιος samt Belegstellen auf, die allesamt von οὐσία ousía abgeleitet sind, zwei von der Bedeutung „(was da ist:) Vermögen, Besitz“, die übrigen von „(Dasein:) Wesen, Natur, Substanz“.

Dass Origenes die Ableitung von ἐπιέναι epiénai kennt, zeigt er in 27,13:

Ἐρεῖ δέ τις τὸ „ἐπιούσιον“ παρὰ τὸ ἐπιέναι κατεσχηματίσθαι, Es wird aber einer sagen, dass das „epiousios“ auf das epienai („herankommen, bevorstehen“) hin gebildet ist,
ὥστε αἰτεῖν ἡμᾶς κελεύεσθαι τὸν ἄρτον τὸν οἰκεῖον τοῦ μέλλοντος αἰῶνος, sodass uns befohlen wird, um das Brot zu bitten, das der zukünftigen Zeit eigen ist,
ἵνα προλαβὼν αὐτὸν ὁ θεὸς ἤδη ἡμῖν δωρήσηται, damit Gott, indem er es bereits vorwegnimmt (d.h. im Voraus gibt), (es) uns schon jetzt schenkt,
ὥστε τὸ οἱονεὶ αὔριον δοθησόμενον „σήμερον“ ἡμῖν δοθῆναι, sodass uns, was gleichsam morgen gegeben werden soll, „heute“ gegeben wird,
„σήμερον“ μὲν τοῦ ἐνεστῶτος αἰῶνος λαμβανομένου αὔριον δὲ τοῦ μέλλοντος. wobei „heute“ als die gegenwärtige Zeit begriffen wird, „morgen“ als die zukünftige.
ἀλλὰ βελτίονος οὔσης τῆς προτέρας ἐκδοχῆς ὅσον ἐπ’ ἐμοὶ κριτῇ, τὸ περὶ τῆς „σήμερον“ παρὰ τῷ Ματθαίῳ τούτοις προσκείμενον ἢ τὸ „καθ’ ἡμέραν“ παρὰ τῷ Λουκᾷ γεγραμμένον ἐξετάσωμεν. Aber da nach meinem Urteil die erstere Deutung besser ist, wollen wir das hinsichtlich des „heute“, das bei Matthäus damit verbunden ist, oder das „Tag für Tag“, das bei Lukas geschrieben steht, untersuchen.

Lightfoot schreibt (S. 237, Fußnote): „A number of different interpretations are huddled together by an anonymous writer in Origen, Op. I. p. 910 (ed. Delarue).“ Die Ausgabe v. Charles de la Rue (1753-59) habe ich im Netz nicht gefunden. Der Nachdruck in der Patrologia Graeca lässt nicht erkennen, um welche Schrift es geht. Die „p. 910“ ist in PG 11 nicht enthalten oder nicht paginiert.

Athanasius

Athanasius der Große (um 300-373), auch er aus Alexandria, sagt in seiner Schrift περὶ τῆς ἐνσάρκου ἐπιφανείας τοῦ θεοῦ λόγου καὶ κατὰ Ἀρειανῶν „über die Erscheinung des Wortes Gottes im Fleisch und gegen Arianer“ (lat. de incarnatione Dei verbi et contra Arianos) Kap. 16:

Zwei weitere Schriften Athanasius' haben einen ähnlichen Titel und werden manchmal verkürzt de incarnatione genannt:

Καὶ ὅτε πάλιν ὁ κύριος λέγει περὶ ἑαυτοῦ· ἐγώ εἰμι ὁ ἄρτος ὁ ζῶν ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς [Joh 6,51a]. Und wenn wiederum der Herr über sich sagt: Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist.
ἀλλαχοῦ τὸ ἅγιον πνεῦμα καλεῖ ἄρτον οὐράνιον λέγων· τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον. Anderswo nennt er den heiligen Geist himmlisches Brot, wenn er sagt: unser tägliches Brot gib uns heute.
ἐδίδαξε γὰρ ἡμᾶς ἐν τῇ εὐχῇ ἐν τῷ νῦν αἰῶνι αἰτεῖν τὸν ἐπιούσιον ἄρτον, τουτέστι τὸν μέλλοντα, οὗ ἀπαρχὴν ἔχομεν ἐν τῇ νῦν ζωῇ, τῆς σαρκὸς τοῦ κυρίου μεταλαμβάνοντες, Er lehrte uns nämlich im Gebet, in der jetzigen Zeit um das tägliche Brot zu bitten, d.h. das zukünftige, dessen Erstlinge wir im jetzigen Leben haben, wenn wir des Fleisches des Herrn teilhaftig werden,
καθὼς αὐτὸς εἶπεν· ὁ ἄρτος δὲ, ὃν ἐγὼ δώσω, ἡ σάρξ μου ἐστὶν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσμου ζωῆς [Joh 6,51b]. wie er selbst sagte: das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.
πνεῦμα γὰρ ζωοποιοῦν ἡ σάρξ ἐστι τοῦ κυρίου, διότι ἐκ πνεύματος τοῦ ζωοποιοῦ συνελήφθη. τὸ γὰρ γεγεννημένον ἐκ τοῦ πνεύματος πνεῦμά ἐστι [Joh 3,6]. Denn das Fleisch des Herrn ist lebendig machender Geist, weil es aus dem lebendig machenden Geist empfangen worden ist. Denn was aus dem Geist geboren ist, ist Geist.

Athanasius versteht ἐπιούσιος mehr oder weniger im Sinn der dritten Auffassung als zukünftiges Brot. Doch setzt er das Brot gleich mit dem Fleisch Christi und dieses wiederum mit dem heiligen Geist. Auffällig ist, dass diese Interpretation mit Worten Jesu aus dem JohEv argumentiert; im Joh aber kommt das Vaterunser nicht vor. Die Begriffsjonglage Geist = Brot = Fleisch = Geist erinnert stark an den hermetischen Diskurs der Alchemisten.

Basilius

Basilius (um 330-379) stammt aus dem kappadokischen Caesarea (heute Kayseri) in Zentralanatolien. Er gehört zu den drei kappadokischen Vätern (zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gregor von Nyssa und dem gemeinsamen Freund Gregor von Nazianz). In seinen Regulae brevius tractatae „kürzer behandelte Grundsätze“ gibt es auch eine Erläuterung zum täglichen Brot (reg. brev. tract. 252):

ΕΡΩΤΗΣΙΣ ΣΝΒʹ FRAGE 252
Τίς ἐστιν ὁ ἄρτος ὁ ἐπιούσιος, ὃν δίδοσθαι ἡμῖν καθ’ ἡμέραν προσεύχεσθαι ἐδιδάχθημεν. Was ist das tägliche Brot, von dem wir gelehrt worden sind, zu beten, dass es uns Tag für Tag gegeben wird?
ΑΠΟΚΡΙΣΙΣ ANTWORT
Ὅταν ὁ ἐργαζόμενος μνημονεύων τοῦ κυρίου λέγοντος μὴ μεριμνᾶτε τῇ ψυχῇ ὑμῶν, τί φάγητε ἢ τί πίητε [Mt 6,25]· Wenn der Arbeitende – eingedenk des Herrn, der sagt: sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet oder was ihr trinken werden,
καὶ τοῦ ἀποστόλου παραγγείλαντος ἐργάζεσθαι, ἵνα ἔχωμεν μεταδιδόναι τῷ χρείαν ἔχοντι [Eph 4,28], und des Apostels, der auffordert, zu arbeiten, damit wir (etwas) haben, dem abzugeben, der Mangel leidet –
μὴ τῆς ἰδίας χρείας, ἀλλὰ τῆς ἐντολῆς τοῦ κυρίου ἕνεκεν ἐργάζεται (ἐπειδὴ ἄξιος ὁ ἐργάτης τῆς τροφῆς αὑτοῦ [Mt 10,10]), nicht des eigenen Bedürfnisses wegen arbeitet, sondern des Gebotes des Herrn wegen (weil der Arbeiter seiner Speise wert ist),
τότε τὸν ἐπιούσιον ἄρτον, τουτέστι τὸν πρὸς τὴν ἐφήμερον ζωὴν τῇ οὐσίᾳ ἡμῶν χρησιμεύοντα, οὐχ ἑαυτῷ ἐπιτρέπει, ἀλλὰ τῷ θεῷ ἐντυγχάνει περὶ τούτου· dann stellt er das tägliche Brot, d.h. das unserem Dasein zum täglichen Leben (od.: Leben für einen Tag) dient, nicht sich selbst anheim, sondern bittet Gott um dieses.
καὶ τὴν ἀνάγκην τῆς ἐνδείας αὐτῷ ἐπιδείξας, οὕτως ἐσθίει τὸ διδόμενον παρὰ τοῦ μετὰ δοκιμασίας ἐπιτεταγμένου ποιεῖν ἐφ’ ἑκάστης ἡμέρας τὸ διεδίδοτο ἑκάστῳ, καθότι ἄν τις χρείαν εἶχεν [Apg 4,35]. Und indem er ihm den Zwang der Bedürftigkeit aufzeigt, isst er so, was gegeben wird von dem, der mit Prüfung beauftragt ist, an jedem Tag das einem jeden wurde gegeben, was einer nötig hatte, zu tun.

In der Patrologia Graeca findet man öfter bei Zitaten aus dem NT den reflexiven Genetiv αὑτοῦ hautoú „sein“ (der doch nach attributiver Wortstellung heischt), während die modernen Herausgaber durchwegs das nicht-reflexive αὐτοῦ autoú haben. Bedeutungsmäßig ist hier kein Unterschied.

Anders als die Alexandriner interpretiert der Kappadokier das tägliche Brot als Brot für unser irdisches Dasein, für die Subsistenz, so ist wohl οὐσία bei Basilius zu verstehen. Es ist das, was unserer Bedürftigkeit, unserem Mangel abhilft.

Gregor von Nyssa

Gregor von Nyssa (um 335/340-nach 394) ist der jüngere Bruder des Basilius. Seit 371/372 war er Bischof von Nyssa (heutige Nevşehir) in Zentralanatolien. Gregor schreibt in seiner Schrift über das Vaterunser (de oratione dominica 4):

Δόγμα γὰρ οἶμαι διὰ τούτων τῶν λόγων ἡμῖν ὑποτίθεσθαι, ἐν τῷ τὸν ἐφήμερον ἄρτον αἰτεῖν προστάξαι, ὅτι τῷ ἀνενδεεῖ κατὰ τὴν φύσιν, τὸ ὀλιγαρκές τε καὶ μέτριον κατὰ τὸν τῆς ἀπαθείας λόγον συνεξισοῦται. Ich glaube nämlich, dass uns durch diese Worte ein Gebot zu Grunde gelegt wird, in dem Befehl, um das Brot für einen Tag zu bitten, dass das, was sich mit wenigem begnügt und maßvoll ist, entsprechend der Leidenschaftslosigkeit dem gemäß der Natur Bedürfnislosen angeglichen wird.
[…]
ὁ οὖν πρὸς τὴν τῆς φύσεως ὑπηρεσίαν βλέπων, καὶ μηδὲν ἔξω τοῦ ἀναγκαίου διὰ τῶν ματαίων φροντίδων ἐπισυρόμενος, οὐ πολὺ τῆς ἀγγελικῆς πολιτείας ἐλαττωθήσεται, τὸ ἀνενδεὲς ἐκείνων καθ’ ἑαυτὸν τῇ ὀλιγαρκίᾳ μιμούμενος. Wer nun auf den Dienst an der Natur blickt und nichts über das Notwendige hinaus wegen der törichten Sorgen nachschleppt, wird dem Engelleben nicht viel nachstehen, da er die Bedürfnislosigkeit jener durch die Genügsamkeit bei sich nachahmt.
διὰ τοῦτο ζητεῖν προσετάχθημεν τὸ πρὸς τὴν συντήρησιν ἐξαρκοῦν τῆς σωματικῆς οὐσιάς· Τὸν ἄρτον δὸς, τῷ Θεῷ λέγοντες, οὐ τρυφὴν οὐδὲ πλοῦτον, οὐκ εὐανθεῖς ἁλουργίδας, οὐ τὸν ἐκ χρυσίου κόσμον, […] οὐδέ τι τοιοῦτον οὐδὲν, δι’ ὧν ἀφέληται ἡ ψυχὴ τῆς θείας τε καὶ προτιμοτέρας φροντίδος, ἀλλὰ τὸν ἄρτον. Deswegen wurde uns aufgetragen, nach dem zu streben, was zur Bewahrung des leiblichen Seins ausreicht, indem wir zu Gott sagen: Das Brot gib, nicht Üppigkeit und nicht Reichtum, nicht farbenprächtige Purpurgewänder, nicht den Schmuck aus Gold, […] noch irgendetwas Derartiges, durch das die Seele abgezogen wird von der göttlichen und vorzüglicheren Sorge, sondern: das Brot.

Gregor verwendet ἐφήμερος ephḗmeros „für einen Tag, täglich“ an Stelle des ntl. ἐπιούσιος (das entspricht der ersten Auffassung). Er versteht die Vaterunserbitte als Bitte um das Lebensnotwendige, aber zugleich als Ausdruck der Genügsamkeit, im Gegensatz zu Überfluß, Wohlleben, Schwelgerei.

Kyrill von Jerusalem

Kyrill (313-386) war seit 350 Bischof von Jerusalem. Sein Hauptwerk sind die Unterweisungen (Katechesen) für Taufanwärter. Die letzten fünf werden meist Mystagogische Katechesen genannt, weil es in ihnen um die Sakramente geht. Die letzte behandelt die Abendmahlsliturgie, darunter auch das Vaterunser. Da heißt es (In catech. mystagog. 5,15):

Τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Ὁ ἄρτος οὗτος ὁ κοινὸς οὐκ ἔστιν ἐπιούσιος. ἄρτος δὲ οὗτος ὁ ἅγιος ἐπιούσιός ἐστιν· ἀντὶ τοῦ ἐπὶ τὴν οὐσίαν τῆς ψυχῆς κατατασσόμενος. Dieses allgemeine Brot ist nicht täglich. Dieses heilige Brot aber ist täglich; anstelle von (d.h. im Sinne von) für das Dasein der Seele aufgestellt.
οὗτος ὁ ἄρτος οὐκ εἰς κοιλίαν χωρεῖ καὶ εἰς ἀφεδρῶνα ἐκβάλλεται [Mt 15,17]· ἀλλ’ εἰς πᾶσάν σου τὴν σύστασιν ἀναδίδοται, εἰς ὠφέλειαν σώματος καὶ ψυχῆς. Dieses Brot geht nicht in den Bauch und wird in den Abort ausgeworfen; sondern es wird in deinen ganzen Bestand verteilt, zum Nutzen von Körper und Seele.
τὸ δὲ σήμερον ἀντὶ τοῦ καθ’ ἡμέραν λέγει· ὡς καὶ ὁ Παῦλος ἔλεγεν· ἄχρις οὗ τὸ σήμερον καλεῖται [Hebr 3,13]. Das heute aber sagt er statt des (d.h. im Sinne von) Tag für Tag; wie auch Paulus sagte: solange es heute heißt.

Für Kyrill ist das tägliche Brot offenbar das Brot der Eucharistie. Er gibt eine Etymologie im Sinne der zweiten Auffassung, aber er schmuggelt die Seele in seine Definition hinein und macht so ein spirituelles Brot daraus, das nicht durch unseren Verdauungstrakt geht.

Johannes Chrysostomus

Johannes von Antiochia (344/349-407), mit dem Beinamen Chrysostomos „Goldmund“, war Bischof von Konstantinopel und hat ein umfangreiches Œuvre (in der Patrologia Graeca 18 Teilbände) hinterlassen. Er erklärt das Wort in verschiedenen Werken unterschiedlich. Auf der einen Seite stehen Passagen, in denen die Notwendigkeit des Brotes, das unserem Mangel abhilft, im Vordergrund steht. In seiner Schrift über die enge Pforte und das Gebet des Herrn schreibt Chrysostomus (De angusta porta et in orationem dominicam 5):

Τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Ἄρτον ἐκέλευσεν αἰτεῖν ἐπιούσιον, οὐ τρυφὴν ἀλλὰ τροφὴν, τὴν τὸ ἐλλεῖπον ἀναπληροῦσαν τοῦ σώματος, καὶ τὸν ἐκ λιμοῦ κωλύουσαν θάνατον· Er hat befohlen, um tägliches Brot zu bitten, nicht um Schwelgerei, sondern um Nahrung, die den Mangel des Körpers ausfüllt und den Hungertod verhindert.
οὐ τραπέζας φλεγμαινούσας, οὐδὲ ὄψων ποικιλίας, καὶ ὀψοποιῶν μαγγανείας, καὶ ἀρτοποιῶν ἐπινοίας, καὶ οἴνους ἀνθοσμίας, καὶ τἄλλα ὅσα τὸν μὲν λαιμὸν ἡδύνει, τὴν δὲ γαστέρα φορτίζει, τὴν δὲ διάνοιαν σκοτίζει, καὶ σκιρτᾷν τὸ σῶμα κατὰ τῆς ψυχῆς παρασκευάζει, καὶ δυσήνιον τῷ ἡνιόχῳ τὸν πῶλον ἐργάζεται. nicht um schwellende Tische, nicht um Mannigfaltigkeit von Zukost und Zauberei von Köchen und Plänen von Bäckern und blumenduftige Weine und alles übrige, das die Kehle ergötzt, den Magen belastet, den Verstand verfinstert und den Körper gegen die Seele springen lässt und dem Wagenlenker das Fohlen schwer zu zügeln macht.
οὐ ταῦτα ἡμᾶς αἰτεῖν ὁ λόγος ἐδίδαξεν, ἀλλ’ ἄρτον ἐπιούσιον, τοῦτ’ ἔστιν ἐπὶ τὴν οὐσίαν τοῦ σώματος διαβαίνοντα καὶ συγκροτῆσαι ταύτην δυνάμενον. Nicht darum zu bitten hat uns die Rede gelehrt, sondern um tägliches Brot, d.i. das in das Dasein (die Substanz) des Körpers übergeht und diese zusammenziehen kann.
καὶ τοῦτον δὲ οὐκ εἰς πολὺν ἐτῶν ἀριθμὸν αἰτεῖν ἐκελεύσθημεν, ἀλλὰ τὸν σήμερον ἡμῖν ἀρκοῦντα μόνον· Und wir wurden nicht geheißen, um dieses (Brot) für eine große Zahl von Jahren zu bitten, sondern nur um das uns heute genügende:
μὴ μεριμνήσητε γὰρ φησὶν εἰς τὴν αὔριον [Mt 6,34]. Sorgt euch nicht, sagt er nämlich, um den morgigen Tag.

Im Sinne der zweiten Auffassung geht es beim täglichen Brot um (körperliches) Dasein, um den Mangel des Leibes.
Ähnlich heißt es in den Predigten zum Philipperbrief zu Phil 4,19 („mein Gott aber wird all euren Mangel ausfüllen“) (in epist. ad Philipp. homil. 15,4):

Τοῖς γὰρ οὕτω κεχρημένοις οὐδὲν ἄτοπον ἐπεύχεσθαι τὴν αὐτάρκειαν καὶ τὴν ἀφθονίαν. Es ist nichts Ungehöriges, denen, die so bedürftig sind, die Genüge und die Fülle zu wünschen.
ὅρα γοῦν τί καὶ ἐπεύχεται· οὐκ εἶπεν, ὅτι ποιήσαι πλουσίους καὶ εὐπόρους σφόδρα, ἀλλὰ τί; Sieh nun, was er (Paulus) auch wünscht: er sagte nicht, dass er (Gott) sehr reich und wohlhabend machen möge, sondern was?
πληρώσαι πᾶσαν χρείαν ὑμῶν. Er möge all euren Mangel ausfüllen,
ὥστε μὴ εἶναι ἐν ἐνδείᾳ, ἀλλὰ τὰ πρὸς χρείαν ἔχειν· sodass sie nicht in Dürftigkeit sind, sondern haben, was ihrem Mangel abhilft (wörtl.: das gegen Mangel/Not haben).
ἐπεὶ καὶ ὁ Χριστὸς ὅρον εὐχῆς ἡμῖν διδοὺς, τοῦτο τῇ εὐχῇ ἐνέθηκε, διδάσκων ἡμᾶς τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον λέγειν δὸς ἡμῖν σήμερον. Denn auch Christus hat, als er uns eine Richtschnur für Gebet gab, dies ins Gebet hineingestellt, indem er uns lehrte zu sagen: unser tägliches Brot gib uns heute.

Die Bitte ums tägliche Brot wird interpretiert als Bitte um das, was unserem Mangel abhilft. Auch wenn Chrysostomus das nicht explizit sagt, entsteht der Eindruck, dass ἐπιούσιος hier im Sinne der zweiten Auffassung verstanden ist.

Auf der anderen Seite stehen Stellen, in denen das täglich, für einen Tag betont ist. In den Predigten zum JohEv heißt es (In Joann. homil. 43,2):

Μὴ δὴ, παρακαλῶ, τοιοῦτον πάθωμέν τι ἡμεῖς, ἀλλ’ ἐκείνων ἡμῖν πλείων ἔστω λόγος. Erleiden wir also bitte nicht etwas derartiges, sondern mögen wir mehr Vernunft haben als jene.
διατί; ὅτι τῶν πνευματικῶν παρόντων, οὐδεμία ἀπὸ τῆς τῶν σαρκικῶν ἀπουσίας γίνεται βλάβη· Warum? Weil wenn das Geistliche da ist, geschieht durch die Abwesenheit des Fleischlichen kein Schaden.
ἐκείνων δὲ οὐκ ὄντων, τίς ἔσται ἡμῖν λοιπὸν ἐλπίς; τίς δὲ παραμυθία; Wenn es jenes nicht gibt, welche Hoffnung werden wir dann haben? Welchen Trost?
διὸ χρὴ περὶ τούτων ἀεὶ τὸν θεὸν παρακαλεῖν καὶ ταῦτα αἰτεῖν. τοιαῦτα γὰρ καὶ ὁ Χριστὸς ἡμᾶς εὔχεσθαι ἐδίδαξεν. Deshalb müssen wir Gott immer um dieses bitten und dieses erflehen. Denn um solches zu beten hat uns auch Christus gelehrt.
κἂν ἀναπτύξωμεν τὴν εὐχὴν ἐκείνην, οὐδὲν εὑρήσομεν ἐν αὐτῇ σαρκικὸν, ἀλλὰ πάντα πνευματικά, Und wenn wir jenes Gebet entfalten, werden wir in ihm nichts fleischlich finden, sondern alles geistlich,
καὶ αυτὸ δὲ τὸ μικρὸν, ἐκεῖνο τὸ αἰσθητὸν, τῷ τρόπῳ γινόμενον πνευματικόν. und selbst das Geringe, jenes Wahrnehmbare, hinsichtlich der Art geistlich werdend.(?)
τὸ γὰρ παραινεῖν μηδὲν πλέον ἐπιζητεῖν τοῦ ἄρτου τοῦ ἐπιουσίου, τουτέστι τοῦ καθημερινοῦ, πνευματικῆς ἂν εἴη καὶ φιλοσόφου διανοίας. Denn zu ermahnen, nichts weiter zu begehren als das tägliche, d.h. alltägliche Brot, ist wohl Zeichen eines geistlichen und philosophischen Denkens.

Chrysostomus liest mit dem Claromontanus und den Lateinern Aor. Opt. πληρώσαι plērṓsai „er möge füllen“. Die modernen Herausgeber des NT haben mit den besseren Handschriften Fut. πληρώσει plērṓsei „er wird füllen“.

Hier ist ἐπιούσιος nach der ersten Auffassung verstanden, so wie es schon die Vetus Latina hat.
In einer der Predigten über die Genesis lesen wir (In Genes. homil. 54,5):

Μὴ τοίνυν ἅπερ ἐν προσθήκης μέρει [Mt 6,33] λαμβάνειν μέλλεις, ταῦτα ὡς προηγούμενα αἴτει, μηδὲ ἀντιστρέψωμεν τὴν τάξιν, ἀλλὰ ζητῶμεν ἐκεῖνα, καθὼς ἐπέταξεν, ἵνα κἀκείνων καὶ τούτων ἐν ἀπολαύσει γενώμεθα. Bitte deshalb nicht um das, was du in der Stelle mit der Hinzufügung („dann wird euch das alles hinzugefügt werden“) erhalten wirst, als (sei es) das Vorausgehende, kehren wir die Reihenfolge nicht um, sondern trachten wir nach jenem, wie er aufgetragen hat, damit wir in den Genuss sowohl von jenem als auch von diesem kommen.
διὰ γὰρ τοῦτο καὶ ἐν τοῖς τῆς εὐχῆς ῥήμασιν ὅρους ἡμῖν καὶ κανόνας τιθεὶς, μέχρι τίνος δεῖ τὴν περὶ τῶν βιωτικῶν αἴτησιν ποιεῖσθαι, τὰ ῥήματα ἐκεῖνα λέγειν ἡμᾶς ἐκέλευσε, Deshalb nämlich hat er auch, als er uns in den Worten des Gebets Regeln und Maßstäbe aufstellte, bis wieweit man um das Irdische bitten muss, uns befohlen, jene Worte zu sprechen,
τὰ πάσης φιλοσοφίας γέμοντα, τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον, ἀντὶ τοῦ τὴν τῆς ἡμέρας τροφήν· die mit aller Philosophie beladen sind: unser tägliches Brot gib uns heute, anstelle von: die Nahrung für den Tag.
ὅπερ ὁ δίκαιος οὗτος, οὐδὲν τούτων ἀκηκοὼς, ηὔχετο λέγων· ἐὰν δῷ μοι κύριος ἄρτον φαγεῖν καὶ ἱμάτιον περιβαλέσθαι [Gen 28,20]. Eben darum betete dieser Gerechte (Jakob), obwohl er nichts davon gehört hat, als er sagte: wenn mir der Herr Brot zu essen gibt und Gewand anzuziehen.
μὴ τοίνυν ἕτερόν τι τῶν βιωτικῶν αἰτῶμεν παρ’ αὐτοῦ. Bitten wir deshalb nichts weiter an Irdischem von ihm.

Das klingt für mich, als würde ἐπιούσιος gleichgesetzt mit τῆς ἡμέρας tēs hēméras „des (jeweiligen) Tages“.
In der Predigt zum MtEv, die auch das Vaterunser behandelt, sagt Chrysostomus zu der Bitte um das tägliche Brot (In Matth. homil. 19,5):

Τί ἐστι τὸν ἄρτον τὸν ἐπιούσιον; τὸν ἐφήμερον. Was heißt das tägliche Brot? Das (Brot) für einen Tag.
ἐπειδὴ γὰρ εἶπεν οὕτω· γενηθήτω τὸ θέλημά σου ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ τῆς γῆς· ἀνθρώποις δὲ διελέγετο σάρκα περικειμένοις καὶ ἀνάγκῃ φύσεως ὑποκειμένοις καὶ οὐ δυναμένοις τὴν αὐτὴν ἔχειν ἀπάθειαν τοῖς ἀγγέλοις· Weil er nämlich so sagte: dein Wille geschehe wie im Himmel, (so) auch auf der Erde; er sagte den Menschen, dass sie mit Fleisch umgeben und dem Zwang der Natur unterworfen sind und nicht dieselbe Unempfindlichkeit haben wie die Engel.
τὰ μὲν ἐπιτάγματα ὁμοίως κελεύει γίνεσθαι καὶ παρ’ ἡμῶν, καθάπερ αὐτὰ κἀκεῖνοι πληροῦσι, Er befiehlt zwar, dass die Gebote gleicherweise auch von uns gehalten werden, so wie sie auch jene erfüllen,
συγκαταβαίνει δὲ καὶ τῇ τῆς φύσεως ἀσθενείᾳ λοιπόν. aber er geht dann auch ein auf die Schwäche der Natur.
ἀκρίβειαν μὲν γὰρ, φησὶ, πολιτείας ἀπαιτῶ τοσαύτην, οὐ μὴν ἀπάθειαν· Ebenso große Sorgfalt nämlich der Lebensführung, sagt er, fordere ich, nicht Unempfindlichkeit.
οὐδὲ γὰρ ἐπιτρέπει τῆς φύσεως ἡ τυραννίς· δεῖται γὰρ τροφῆς τῆς ἀναγκαίας. Denn die Herrschaft der Natur lässt es nicht zu; denn sie braucht die notwendige Nahrung.
σὺ δέ μοι σκόπει πῶς καὶ ἐν τοῖς σωματικοῖς πολὺ τὸ πνευματικόν. Du aber sieh, wie auch im Leiblichen das Geistliche zahlreich ist.
οὐδὲ γὰρ ὑπὲρ χρημάτων, οὐδὲ ὑπὲρ τρυφῆς, οὐδὲ ὑπὲρ πολυτελείας ἱματίων, οὐδὲ ὑπὲρ ἄλλου οὐδενὸς τῶν τοιούτων, ἀλλ’ ὑπὲρ ἄρτου μόνον ἐκέλευσε τὴν εὐχὴν ποιεῖσθαι, καὶ ὑπὲρ ἄρτου τοῦ ἐφημέρου, ὥστε μὴ ὑπὲρ τῆς αὔριον μεριμνᾷν. Denn nicht um Geld, nicht um Schwelgerei, nicht um kostbare Gewänder, nicht um etwas anderes derartiges, sondern nur um Brot zu beten hat er befohlen, und (zwar) um das Brot für einen Tag, sodass wir uns nicht um den morgigen Tag sorgen.
διὰ τοῦτο προσέθηκε τὸν ἄρτον τὸν ἐπιούσιον, τουτέστι τὸν ἐφήμερον. Deshalb fügte er hinzu: das tägliche Brot, d.h. das (Brot) für einen Tag.
καὶ οὐδὲ τούτῳ ἠρκέσθη τῷ ῥήματι, ἀλλὰ καὶ ἕτερον μετὰ τοῦτο προσέθηκεν εἰπὼν δὸς ἡμῖν σήμερον· Und auch mit diesem Wort war er nicht zufrieden, sondern fügte nach diesem auch ein weiteres hinzu, indem er sagte: gib uns heute.
ὥστε μὴ περαιτέρω συντρίβειν ἑαυτοὺς τῇ φροντίδι τῆς ἐπιούσης ἡμέρας. Sodass wir uns nicht selbst noch mehr aufreiben durch die Sorge um den folgenden Tag.

Lightfoot findet (S. 235), dass das τῆς ἐπιούσης ἡμέρας „des morgigen Tages“ am Schluss der zitierten Passage einen Hinweis auf die dritte Auffassung erkennen lässt. Doch sehe ich hierin nur den Gegensatz zu σήμερον (gib uns) „heute“. Zweimal wird erklärt: ἐπιούσιος = ἐφήμερος „für einen Tag, täglich“. Allerdings wird auch hingewiesen auf die τροφὴ ἀναγκαία „notwendige Nahrung“. Für mich klingt also auch die erste Auffassung durch.

Theodoret

Theodoret von Kyrrhos (393-460), aus Antiochia gebürtig, war Bischof von Kyrrhos im heutigen Syrien (nahe der türkischen Grenze). In seiner Auslegung von Phil 4,19 schreibt er (interpretatio epist. ad Philipp. 4,19):

«Ὁ δὲ θεός μου πληρώσαι πᾶσαν χρείαν ὑμῶν κατὰ τὸν πλοῦτον αὑτοῦ ἐν δόξῃ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.» „Mein Gott aber fülle all euren Mangel nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus.“
τὸν ἐπουράνιον αὐτοῖς ἀντιδέδωκε πλοῦτον. σφόδρα δὲ ἁρμοδίως τὴν εὐλογίαν ἐπήγαγεν. Den himmlischen Reichtum hat er ihnen dafür gegeben. Sehr passend hat er die Wohltat (den Lobpreis?) hinzugefügt.
εἰρηκὼς γὰρ τὰ πεμφθέντα ὀσμὴν εὐωδίας, θυσίαν δεκτὴν εὐάρεστον τῷ θεῷ [V. 18], αἰτεῖ αὐτοῖς παρὰ τοῦ ταῦτα κομισαμένου καὶ τὴν κατὰ τὸν παρόντα βίον χρείαν. Denn indem er das (von den Philippern an Paulus) Geschickte einen Wohlgeruch, ein angenehmes, Gott wohlgefälliges Opfer genannt hat, bittet er für sie den, der dies mitgebracht hat, auch um das Bedürfnis für das gegenwärtige Leben.
«Πληρώσαι γὰρ, φησὶ, πᾶσαν χρείαν ὑμῶν.» οὐδὲν δὲ ἀπεικὸς πεποίηκε καὶ ταύτην αὐτοῖς τὴν εὐλογίαν αἰτήσας. „Er fülle nämlich“, sagt er, „all euren Mangel.“ Nichts Ungebührliches hat er gemacht, als er auch um diese Wohltat für sie bat.
καὶ γὰρ ὁ κύριος ἐν τοῖς ἱεροῖς εὐαγγελίοις παρεκελεύσατο λέγειν· «τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον.» Denn auch der Herr hat in den heiligen Evangelien geboten zu sagen: „unser tägliches Brot gib uns heute.“
ᾔτησε δὲ αὐτοῖς καὶ τὴν μέλλουσαν δόξαν τὴν ἐν Χριστῷ Ιησοῦ. Er bat für sie auch um die zukünftige Herrlichkeit, die in Christus Jesus (ist).
καὶ ταῦτα δὲ κἀκεῖνα ἱκανὸς παρασχεῖν· ἀμέτρητον γὰρ ἔχει τὸν πλοῦτον. Und er ist fähig, sowohl dieses als auch jenes zu gewähren; denn unermesslich ist der Reichtum, den er hat.

Zum Opt. πληρώσαι s.o. Johannes Chrysostomus zur Stelle, zum reflexiven αὑτοῦ s.o. bei Basilius.

Theodoret stellt die Vaterunserbitte in den Zusammenhang von Bedürfnissen des irdischen Lebens. In den Versen 14-18 war von der materiellen Unterstützung der Philipper für Paulus die Rede, die sie ihm sogar nach Thessaloniki schickten. In V. 19 bittet Paulus (nach Theodorets Verständis) Gott darum, dass er „den Mangel, das Bedürfnis“ (d.h. das, wessen man ermangelt, wessen man bedarf) der Philipper „füllt“ (also gewährt, gibt). Τὴν κατὰ τὸν παρόντα βίον χρείαν ist das, „was man für das gegenwärtige Leben (d.h. im Hier und Jetzt, im Gegensatz zur zukünftigen Herrlichkeit) benötigt“. Wie Theodoret ἐπιούσιος genau verstanden hat, ist nicht zu sagen.

Kyrill von Alexandria

Kyrill von Alexandria (375/80-444) war Patriarch seiner Heimatstadt. In seinem Kommentar zum LkEv schreibt er über die Vaterunserbitte (Comment. in Lucam 11,3):

Τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν. Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag.
οἴονται δὲ ἴσως τινὲς, ἀνάρμοστον εἶναι καὶ ἀπεοικὸς ἁγίοις τὸ αἰτεῖν παρὰ θεοῦ τὰ σωματικὰ, καὶ ταύτης ἕνεκα τῆς αἰτίας ἀποφέρουσι τὸ εἰρημένον εἰς πνευματικὴν θεωρίαν· Manche glauben vielleicht, es sei unpassend und ungebührlich für Heilige, von Gott das Leibliche zu erbitten, und aus diesem Grund übertragen sie das Gesagte in eine geistliche Anschauung.
καὶ δὴ καὶ ἄρτον φασὶν αὐτοὺς αἰτεῖν, οὐκ ἐπίγειον, οὐ σωματικὸν, ἐκεῖνον δὲ μᾶλλον, τὸν ἄνωθεν καὶ ἐξ οὐρανοῦ καταβαίνοντα, καὶ ζωὴν τῷ κόσμῳ παρέχοντα, ἢ, ὥς φασιν, ἀληθεῖ οὐσίᾳ καὶ ἀσωμάτῳ, τουτέστι τῇ ψυχῇ· Und sie sagen sogar, dass sie um Brot bitten, nicht um irdisches, nicht um leibliches, vielmehr um jenes, das von oben und aus dem Himmel herabsteigt, und der Welt Leben gewährt, oder, wie sie sagen, wahrem und körperlosem Dasein (od. Substanz), d.h. der Seele.
αὕτη γὰρ, διὰ τὸ μὴ ῥευστὸν, κυρίως οὐσία ἐστίν. Diese nämlich, weil sie nicht fließend ist, ist im eigentlichen Sinn Dasein (od. Substanz).
ἐγὼ δὲ ὅτι μὲν ἁγίοις πρέποι ἂν ὅτι μάλιστα τὸ πνευματικῶν χαρισμάτων ἐπείγεσθαι μεταλαχεῖν, φαίην ἂν ἐνδοιάσας οὐδέν· Ich aber würde wohl ohne Bedenken sagen, dass es den Heiligen geziemen dürfte, sich besonders (danach) zu sehnen, die geistlichen Gaben zu bekommen.
πλὴν ἐκεῖνο ἄξιον ἰδεῖν, ὅτι κἂν ἄρτον αἰτῶσι κοινὸν, καὶ τοῦτο δρᾷν αὐτοῖς προστέταχεν ὁ σωτὴρ, μώμου παντὸς ἐλευθέραν ποιοῦνται τὴν πρόσοδον. Jedoch ist jenes gleichwertig zu sehen, dass, wenn sie um gewöhnliches Brot bitten, auch dies zu tun der Retter ihnen angeordnet hat, sie das Hinzugehen (d.i. das sich an Gott wenden?) frei von jedwedem Tadel machen.
ἄθρει γὰρ ὁποῖος τοῖς εἰρημένοις ἐγκέκρυπται νοῦς. Denn sieh, was für ein Sinn in dem Gesagten verborgen ist.
δι’ ὧν γὰρ προστέταχεν ἄρτον αἰτεῖν, ἤτοι τροφὴν τὴν ἐφήμερον, δῆλος ἂν εἴη δήπουθεν μηδὲν ἔχειν αὐτοῖς ἐφιεὶς, ἁγιοπρεπῆ δὲ μᾶλλον ἐπιτηδεύειν πτωχείαν. Dadurch nämlich, dass er angeordnet hat, um Brot zu bitten, oder um die Nahrung für einen Tag, dürfte doch wohl klar sein, dass er ihnen auferlegt hat, nichts zu haben, vielmehr sich einer Armut, die Heiligen geziemt, zu befleißigen.
οὐ γὰρ τῶν ἐχόντων τὸ αἰτεῖν, ἀλλὰ τῶν ἐν σπάνει καθεστηκότων. Denn zu bitten ist nicht Zeichen der Habenden, sondern derer, die in Not geraten sind.
ἐπ’ ἂν δέ τις οὐδενὸς ἐν χρείᾳ καθεστηκὼς, θεῷ τῷ πάντα εἰδότι λέγει· δὸς ἄρτον ἡμῖν τὸν ἐφήμερον, δόξειεν ἂν εἰρωνεύεσθαι μᾶλλον, ἢ γοῦν ἀληθῶς βούλεσθαι λαβεῖν. Wenn aber einer, der sich in Mangel von nichts befindet, zu Gott, der alles weiß, sagt: gib uns das Brot für einen Tag, scheint er wohl eher zu spotten, als nun wirklich etwas bekommen zu wollen.
ἄρτον δὲ τὸν ἐπιούσιον οἱ μὲν εἶναί φασι τὸν ἥξοντά τε καὶ δοθησόμενον κατὰ τὸν αἰῶνα τὸν μέλλοντα, ἵνα νοῆται πάλιν πνευματικῶς· Das tägliche Brot aber, sagen die einen, sei das, das kommen wird und gegeben werden wird im zukünftigen Zeitalter, damit es wiederum geistlich verstanden wird.
οἱ δὲ καὶ εἰς ἑτέρας ἐννοίας ἀποφέρουσι τὴν φωνήν. Die anderen aber übertragen das Wort auch auf andere Vorstellungen.
ἀλλ’ εἴπερ ἦν ἀληθὲς ὡς ἄρτου τοῦ δοθησομένου κατὰ τὸν αἰῶνα τὸν μέλλοντα μνήμην ποιοῦνται προσευχόμενοι, διὰ τί προσεπάγουσι τὸ «δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν»; Aber wenn es wahr wäre, dass die Betenden das Brot, das im zukünftigen Zeitalter gegeben werden wird, meinen, weshalb fügen sie noch hinzu: „gib uns Tag für Tag“?
ἔστι γὰρ ἔτι διὰ τούτων ἰδεῖν, ὅτι τῆς ἐφημέρου τροφῆς ποιοῦνται τὴν αἴτησιν, ὡς ἀκτήμονες δηλονότι. Denn dadurch noch kann man sehen sehen, dass sie um die Nahrung für einen Tag bitten, wie Besitzlose offenbar.
ἐπιούσιον δὲ τὸν αὐτάρκη νοεῖσθαι χρή· (Das) tägliche muss verstanden werden als das genügende.
τέθεικέ που τὴν λέξιν καὶ ὁ μακάριος ἀπόστολος, βραχὺ παραλλάξας, ἐπὶ τοῦ πάντων ἡμῶν σωτῆρος Χριστοῦ· Das Wort hat auch der selige Apostel einmal gesetzt, ein wenig geändert, von unser aller Erlöser Christus.
ἔφη γὰρ αὐτὸν ἑαυτῷ κατασκευάσαι λαὸν περιούσιον [Tit 2,14], ἀντὶ τοῦ ἐπιουσίου τὸν περιούσιον εἰπὼν, τουτέστι τὸν ἀρκοῦντα καὶ τοῦ τελείως ἔχειν οὐχ ἡττώμενον. Denn er sagte, er habe sich ein Volk des Eigentums (periousios) bereitet, wobei er an Stelle von epiousios periousios sagte, d.h. das genügende und dem vollkommenen Zustand nicht nachstehende.

Kyrill interpretiert ἐπιούσιος ebenfalls als ἐφήμερος „für einen Tag, täglich“. Dass er dann den Käse des Origenes aufwärmt, ἐπιούσιος sei etwa dasselbe wie περιούσιος „jmds. Eigentum bildend, jmd. gehörend“, während er sonst gegen dessen spiritualisierte Ousia-Auffassung anschreibt, ist mir unverständlich.

In den „Scharfsinnigkeiten“ zum Buch Exodus berichtet Kyrill im Zusammenhang mit der Geschichte vom Manna und den Wachteln davon, wie die aus Ägypten in die Wüste befreiten Israeliten murren, weil sie Hunger und Durst leiden (Glaphyr. in Exod. 2,1):

Καὶ ὅτι λελύτρωνται χαλεπαίνουσι, καὶ τῆς τριποθήτου καὶ εὐκταιοτάτης ἅπασιν ἀνθρώποις ἐλευθερίας, γαστρὸς ἀκαθάρτου προτάττουσι κόρον. Und sie sind ungehalten, dass sie befreit worden sind, und der dreifach ersehnten und allen Menschen erwünschtesten Freiheit stellen sie die Sättigung eines unreinen Magens voran.
καὶ θορυβεῖ μὲν τὸ χρῆμα τὸν μεσιτεύοντα, τουτέστι Μωϋσέα. Und die Sache beunruhigt den Vermittler, d.h. Mose.
χορηγήσειν δὲ παραχρῆμα τὴν τῶν ἐδωδίμων ἀφθονίαν αὐτοῖς ἐπαγγέλλεται θεὸς, καὶ προσκεκρουκόσιν οὐ μετρίως ἡμέρως ἔτι προσφέρεται. Gott verspricht ihnen, die Fülle der Lebensmittel sofort zu gewähren, und behandelt die, die (ihn) nicht wenig beleidigt haben, noch mild.
τὸ μὲν γὰρ παρ’ αὐτοῦ τὰ ζωαρκῆ δέχεσθαι θέλειν, μῶμον ἂν ἔχοι παντελῶς οὐδένα· λυπεῖ δὲ λίαν ὁ γογγυσμός. Denn von ihm das zum Leben Notwendige empfangen zu wollen, hat wohl überhaupt keinen Tadel; sehr betrübt aber das Murren.
καὶ γὰρ οὖν αὐτὸς ὁ σωτὴρ ἐν προσευχαῖς ἡμᾶς ἐδίδαξε λέγειν· «τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον». Denn auch der Erlöser selbst hat uns ja gelehrt, in den Gebeten zu sagen: „unser tägliches Brot gib uns heute“.
ἀλλ’ εἰ τοῦτο μὲν λέγοιμεν, κατ’ οὐδένα δὴ τρόπον αἰτιασόμεθα τὸν δεσπότην, ἐξαιτήσομεν δὲ μᾶλλον παρ’ αὐτοῦ τὰ εἰς ζωὴν ἐπιτήδεια. Aber wenn wir dies sagten, werden wir nun auf keine Weise den Herrscher anklagen, vielmehr werden wir uns von ihm das zum Leben Notwendige erbitten.
Οἱ δέ γε τῶν Ἰουδαίων δῆμοι, δέον αἰτῆσαι τροφὰς, ὅτι λελύτρωνται χαλεπαίνουσι, καὶ τὴν οὕτω σεπτὴν καὶ ἀξιόληπτον χάριν ἀνοή[τό]τατα καθυβρίζουσιν, ὡς τῶν ἡδίστων αὐτοὺς ἐκπέμψασαν, ἄρτου τε, φημὶ, καὶ κρεῶν. Die Völkerschaften der Juden, obwohl sie um Nahrung bitten sollten, sind ungehalten, dass sie befreit worden sind, und beschimpfen die so ehrwürdige und wertvolle Gnade auf das törichteste, als ob sie (die Gnade) sie (die Juden) von dem Angenehmsten vertrieben hätte, von Brot, meine ich, und Fleisch.

Das tägliche Brot ist hier in den Zusammenhang des Lebensnotwendigen (τὰ ζωαρκῆ ta zōarkḗ, τὰ εἰς ζωὴν ἐπιτήδεια ta eis zōḗn epitḗdeia, beides etwa „das zum Leben Notwendige“) gestellt. Ob das etwas über Kyrills Verständnis von ἐπιούσιος besagt, möchte ich dahingestellt lassen.

Johannes von Damaskus

Johannes von Damaskus (um 675 - um 750), auf Lat. Damascenus genannt, lebte in der Zeit der Ausdehnung des islamischen Reiches. Seit 661 residierte der Kalif in Johannes' Heimatstadt Damaskus. In seinem Werk über den orthodoxen Glauben behandelt er die Eucharistie und sagt in diesem Zusammenhang vom Leib Christi (De fide orthodoxa 4,13):

Οὗτος ὁ ἄρτος ἐστὶν ἡ ἀπαρχὴ τοῦ μέλλοντος ἄρτου, ὅς ἐστιν ὁ ἐπιούσιος. Dieses Brot ist der Erstling des zukünftigen Brotes, welches das tägliche ist.
τὸ γὰρ ἐπιούσιον δηλοῖ ἢ τὸν μέλλοντα, τουτέστι τὸν τοῦ μέλλοντος αἰῶνος, ἢ τὸν πρὸς συντήρησιν τῆς οὐσίας ἡμῶν λαμβανόμενον. Denn das tägliche bezeichnet entweder das zukünftige, d.h. das (Brot) des zukünftigen Zeitalters, oder das zur Bewahrung unseres Daseins genommene.
εἴτε οὖν οὕτως εἴτε οὕτως, τὸ τοῦ κυρίου σῶμα προσφυῶς λεχθήσεται. Ob nun so oder so, wird es treffend der Leib des Herrn genannt werden.

Für Damaszenus bezeichnet ἄρτος ἐπιούσιος offenbar das Zukunftsbrot, vielleicht abgeleitet vom Partizip ἐπιών epiṓn „kommend, bevorstehend“, Neutr. τοὐπιόν toupión (=τὸ ἐπιόν) „Zukunft“. Daneben stellt er auch die zweite Auffassung zur Wahl, wobei οὐσία bei ihm aber wohl weniger die Subsistenz, als vielmehr das spirituelle Sein bezeichnet.

Theophylakt

Theophylakt von Ohrid (um 1055-nach 1107) stammte vermutlich von Euböa und war seit 1078 Erzbischof von Ohrid. In seinen Kommentaren zu den Evangelien lesen wir (Enarratio in ev. Matt. 6,11 und Enarratio in ev. Lucae 11,1-4):

«Τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον.» „Unser tägliches Brot gib uns heute.“
ἐπιούσιον, τὸν ἐπὶ τῇ οὐσίᾳ καὶ συστάσει ἡμῶν αὐτάρκη, φησίν· Tägliches, sagt er, das für unser Dasein und unseren Bestand genügende.
ἀναιρεῖ δὲ τὴν περὶ τῆς αὔριον μέριμναν, καὶ τὸ σῶμα δὲ τοῦ Χριστοῦ ἄρτος ἐστὶν ἐπιούσιος· Er beseitigt aber die Sorge um den morgigen Tag, und der Leib Christi ist tägliches Brot;
οὗ μεταλαμβάνειν ἀκατακρίτως εὐχόμεθα. dessen unverurteilt teilhaftig zu werden, (darum) beten wir.
Διδάσκει δὲ τὸν ἐπιούσιον ἄρτον ζητεῖν μόνον, τουτέστι τὸν ἐπὶ τῇ οὐσίᾳ ἡμῶν καὶ τῇ συστάσει τῆς ζωῆς συμβαλλόμενον· Er lehrt, nur nach dem täglichen Brot zu trachten, d.h. das zu unserem Dasein und dem Bestand des Lebens beiträgt;
οὐ τὸν περιττὸν πάντως, ἀλλὰ τὸν ἀναγκαῖον. durchaus nicht das reichliche, sondern das notwendige.

Im Sinne der zweiten Auffassung wird ἐπιούσιος als das für die Subsistenz notwendige verstanden.

Die Lateiner

Iuvencus

Iuvencus dichtete in den 330er Jahren eine Evangelienharmonie in Hexameterversen. Darin findet sich auch die Bergpredigt mit dem Vaterunser. Der Text lautet (Evang. hist. 1,590-600):

590 Sidereo genitor residens in vertice caeli, Erzeuger, sitzend in der gestirnten Höhe des Himmels,
nominis, oramus, veneratio sanctificetur die Verehrung deines Namens, bitten wir, werde geheiligt
in nobis, pater alte, tui: tranquillaque mundo bei uns, hoher Vater: und ruhig möge sie der Welt
adveniat regnumque tuum lux alma reclaudat[1]. erscheinen, und das segenspendende Licht schließe dein Reich auf.
in caelo ut terris fiat tua clara voluntas, Im Himmel wie auf Erden geschehe dein klarer Wille,
595 vitalisque hodie sancti substantia panis und die lebenspendende Substanz des heiligen Brotes möge heute
proveniat nobis. tua mox largitio solvat uns hervorkommen. Alsbald trage deine Freigebigkeit
innumera indulgens erroris debita pravi; nachsichtig die zahllosen Schulden einer verkehrten Verirrung ab;
et nos haut aliter concedere foenora nostris[2]. und dass wir nicht anders verzeihen den Unsrigen die Schulden.
tetri saeva procul temptatio daemonis absit Fern sei die schreckliche Versuchung eines abscheulichen Dämons,
600 eque malis tua nos in lucem dextera tollat. und aus Übeln hebe uns deine Rechte ins Licht.

Ich benutze den Text der Teubnerausgabe von Marold, deren Verszählung die Verse der Praefationes extra zählt. Lightfoot dagegen benutzt die Zählung der Patrologia Latina, in der die Verse der Vorreden dem ersten Buch zugeschlagen werden.
[1] PL liest regnique tui lux alma patescat: „und das segenspendende Licht deines Reiches werde offenbar“.
[2] PL hat fas est statt nostris: „dass wir die Schulden verzeihen, ist recht“.

Substantia panis „Substanz des Brotes“ ist dichterische Umschreibung für „Brot“ (so auch 1,380), so wie salis substantia „Salz“ (1,474), vocis substantia „Stimme“ (2,418), animae substantia „Seele“ (PL 2,524, bei Marold athetiert), credendi substantia „Glaube“ (2,675), suci substantia „Saft“ (Marold 2,745, PL liest hier anders), arboris substantia „Baum“ (3,668) bedeuten. Somit scheint dem ἐπιούσιος das vitalis „zum Leben gehörig, Lebens-, Leben gebend, Leben erhaltend“ zu entsprechen. Das wiederum entspräche am ehesten der zweiten Deutung.

Marius Victorinus

Der Rhetor Gaius Marius Victorinus (um 290-364?, nicht zu verwechseln mit Victorinus, dem Bischof von Petovio/Pettau) hat sich erst in fortgeschrittenem Alter zum Christentum bekehrt und dann auch einige theologische Schriften verfasst. In seinem Werk gegen den Arianismus, wo es um den Begriff ὁμοούσιος homooúsios „wesensgleich, konsubstanziell“ geht, versucht er zu beweisen, dass der Substanzbegriff auch in der heiligen Schrift zu finden ist (adv. Arium 1,30):

Non quidem substantiae forte non est, denominata a substantia sunt, unde enim deductum ἐπιούσιον quam a substantia: Da panem nobis ἐπιούσιον, hodiernum? Es ist zwar nicht etwa Kennzeichen der Substanz, sind nach der Substanz benannt, woher nämlich ist epiousios abgeleitet, als von der Substanz: Gib uns epiousisches Brot, (d.h.) heutiges (od. Gib uns das heutige epiousische Brot)?
Quoniam Jesus vita est, et corpus ipsius vita est, corpus autem panis, sicuti dictum est: Da nobis panem de coelo. Weil Jesus Leben ist und sein Leib Leben ist, der Leib aber Brot, wie wenn gesagt worden ist: Gib uns Brot vom Himmel.
Significat ἐπιούσιον ex ipsa aut in ipsa substantia, hoc est vitae panem. Epiousios bezeichnet aus sich oder in sich Substanz, d.h. Brot des Lebens.
Sic rursus et Paulus in epistola ad Titum: populum περιούσιον [Tit 2,14], circa substantiam, hoc est circa vitam consistentem populum […]. So wiederum auch Paulus im Brief an Titus: Ein periousisches Volk, um die Substanz, d.h. ein um das Leben bestehendes Volk […].

Das ist ein hermetischer Diskurs willkürlicher Gleichsetzungen (Jesus = Leben, Jesu Leib = Leben, Leib = Brot usw.), der sich um die genaue Bedeutung der Begriffe im Kontext nicht schert. Daher nennt schon Hieronymus (vir. ill. 101) dieses Werk libros more dialectico valde obscuros „sehr dunkle Bücher nach dialektischer Art“. Nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie online bezeichnet substantia bei Victorinus das konkrete, stoffliche Sein im Gegensatz zur existentia, dem reinen, noch nicht konkretisierten Sein. Hier wird biblischen Texten neuplatonisches Denken übergestülpt (oder untergeschoben). Wo ich also mit „Substanz“ übersetzt habe, ist dieses philosophische Konstrukt gemeint.

So wie die Patrologia Latina interpungiert, ist hodiernum „heutig“ als Glosse für ἐπιούσιον zu betrachten. Doch im weiteren wird ἐπιούσιος zu (einer neuplatonisch verstandenen) οὐσία = substantia gestellt. Vermutlich ist hodiernus nur sprachliche Variation für hodie „heute“.

Im selben Werk heißt es etwas später (adv. Arium 2,8):

Nos Christiani, id est qui in Christum credimus, docemur in evangelio, quomodo deum patrem rogare debeamus, in qua oratione cum multa petimus, tum petimus panem, qui panis vita est. Wir Christen, d.h. die wir an Christus glauben, werden im Evangelium gelehrt, wie wir Gott, den Vater bitten sollen; in diesem Gebet bitten wir um vieles, vor allem bitten wir um Brot; dieses Brot ist Leben.
sic enim dictum est: Hic enim est panis, qui de caelo descendit [Joh 6,58]. Denn so ist gesagt worden: dies ist nämlich das Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist.
hanc vitam et Christi et dei, id est aeternam quod nomine ipse dicit ἐπιούσιον ἄρτον, ex eadem οὐσία panem, id est de vita dei, consubstantialem vitam. Dieses Leben Christi und Gottes, d.h. ewiges, nennt er selbst mit dem Begriff epiousios artos, Brot aus derselben ousia, d.h. vom Leben Gottes, Leben von gleicher Beschaffenheit.
unde enim filii dei erimus, nisi participatione vitae aeternae? quam nobis Christus a patre afferens dedit. Woher nämlich werden wir Söhne Gottes sein, wenn nicht durch Teilhabe am ewigen Leben? Dieses hat uns Christus, (es) vom Vater herbeibringend, gegeben.
hoc ergo est δὸς ἡμῖν ἐπιούσιον ἄρτον [Mt 6,11], id est vitam ex eadem substantia, etenim si quod accipimus, corpus Christi est, ipse autem Christus vita est, quaerimus ἐπιούσιον ἄρτον, divitiae enim in Christo corporaliter habitant. Das also bedeutet gib uns epiousios artos, d.h. Leben aus derselben Substanz, denn wenn wir welchen empfangen, ist es Leib Christi, Christus selbst aber ist Leben, wir trachten nach epiousios artos, denn der Reichtum wohnt in Christus leibhaftig.
Graecum igitur evangelium habet ἐπιούσιον, quod denominatum est a substantia, et utique dei substantia: Das griechische Evangelium also hat epiousios, was benannt ist nach der Substanz, und besonders der Substanz Gottes.
hoc Latini vel non intelligentes vel non valentes exprimere non potuerunt dicere, et tantummodo quotidianum posuerunt, non ἐπιούσιον. Das konnten die Lateiner, weil sie es nicht verstanden oder es nicht auszudrücken vermochten, nicht sagen, und sie setzten nur täglich, nicht epiousios.

Wieder wird ἐπιούσιος als „von göttlicher Substanz, göttlichem Wesen“ o.ä. verstanden und mit dem Leib Christi (d.h. dem Brot der Eucharistie?) gleichgesetzt. Und jedenfalls bedeutet es nach Victorinus nicht quotidianus „täglich“.

Ambrosius

Ambrosius von Mailand (339-397) war zunächst römischer Politiker und wurde 374 Bischof von Mailand. In dem Werk über die Sakramente, dessen Autorschaft Lightfoot aber in Frage stellt, heißt es (de Sacram. 5,4,24 [p. 378]):

24. Panem nostrum quotidianum da nobis hodie. memini sermonis mei cum de sacramentis tractarem. 24. Unser tägliches Brot gib uns heute. Ich erinnere mich an meine Predigt, als ich über die Sakramente erörterte.
dixi vobis, quod ante verba Christi quod offertur, panis dicatur; ubi Christi verba deprompta fuerint, iam non panis dicitur sed corpus appellatur. Ich sagte euch, dass, was vor den Worten Christi dargeboten wird, Brot genannt wird; sobald die Worte Christi hervorgeholt worden sind, wird es nicht mehr Brot, sondern Leib genannt.
quare ergo in oratione dominica, quae postea sequitur, ait: panem nostrum. panem quidem dixit, sed ἐπιούσιον, hoc est supersubstantialem. Weshalb er daher im Herrengebet (Vaterunser), welches nachher folgt, sagt: unser Brot. Zwar sagte er Brot, aber epiousion, d.h. überwesentliches.
non iste panis est, qui vadit in corpus, sed ille panis vitae aeternae, qui animae nostrae substantiam fulcit. Das ist nicht das Brot, das in den Körper geht, sondern jenes Brot des ewigen Lebens, das den Bestand unserer Seele stärkt.
ideo Graece ἐπιούσιος dicitur: Latinis autem hunc panem quotidianum dixit, quem Graeci dicunt advenientem; quia Graeci dicunt τὴν ἐπιοῦσαν ἡμέραν advenientem diem. Deshalb sagt man auf Griechisch epiousios: den Lateinern aber nannte er dieses Brot täglich, das die Griechen kommend nennen; denn die Griechen sagen ten epiousan hemeran für den kommenden Tag.
ergo quod Latinus dixit, et quod Graecus, utrumque utile videtur; Graecus utrumque uno sermone significavit, Latinus quotidianum dixit. Was also der Lateiner sagte und was der Grieche, scheint beides nützlich; der Grieche bezeichnete beides mit einem Wort, der Lateiner sagte täglich.
25. Si quotidianus est panis, cur post annum illum sumis, quemadmodum Graeci in oriente facere consuerunt? 25. Wenn das Brot ein tägliches ist, warum nimmst du jenes nach einem Jahr, wie die Griechen im Osten zu tun gewohnt sind.
accipe quotidie, quod quotidie tibi prosit. sic vive, ut quotidie merearis accipere. Empfange täglich, was dir täglich nützen möge. Lebe so, dass du (es) täglich zu empfangen verdienst.

Ambrosius scheint hinter ἐπιούσιος eine mehrfache Etymologie zu vermuten. Einerseits bedeutet es supersubstantialis, ein Wort, das erst Hieronymus in die lat. Sprache eingeführt hat (s.u.), andererseits hängt es mit dem kommenden Tag (ἐπιοῦσα ἡμέρα) zusammen. Wieso es dann auf Latein tägliches Brot genannt wird, habe ich nicht verstanden.
In der unstreitig ambrosianischen Abhandlung über den Glauben (nach Lightfoot „written in the years 377, 378“) heißt es (de Fide 3,15,127 [p. 519]):

126. Frustra autem verbum istud propter Sabellianos declinare se dicunt, et in eo suam imperitiam produnt; ὁμοούσιον enim aliud alii, non ipsum est sibi. 126. Vergeblich aber sagen sie, sie würden dieses Wort wegen der Sabellianer vermeiden, und darin verraten sie ihre Unwissenheit; denn homoousion (wesensgleich) ist das eine einem anderen, nicht sich selbst.
recte ergo ὁμοούσιον patri filium dicimus, quia verbo eo et personarum distinctio et naturae unitas significatur. Zu Recht also nennen wir den Sohn dem Vater homoousion, weil mit diesem Wort sowohl die Unterscheidung der Personen als auch die Einheit der Natur bezeichnet wird.
127. An negare possunt οὐσίαν lectam, cum et panem ἐπιούσιον dominus dixerit et Moyses scripserit: ὑμεῖς ἔσεσθέ μοι λαὸς περιούσιος [Ex 19,5]? 127. Oder können sie leugnen, dass ousia gelesen wurde, wenn der Herr das Brot epiousios genannt hat und Moses geschrieben hat: ihr werdet mir ein periousios Volk sein?
aut quid est οὐσία, vel unde dicta, nisi οὖσα ἀεί, quod semper maneat? Oder was ist ousia oder woher wird es gesagt, wenn nicht ousa aei (immer seiende), was immer bleibt?
qui enim est, et est semper, deus est; et ideo manens semper οὐσία dicitur divina substantia. Wer nämlich ist und immer ist, ist Gott; und deshalb wird die immer bleibende ousia göttliches Wesen genannt.
propterea ἐπιούσιος panis, quod ex verbi substantia substantiam virtutis manentis cordi et animae subministret; scriptum est enim: „et panis confirmat cor hominis“ [Ps. 104,15]. Deswegen epiousios Brot, weil es aus dem Wesen des Wortes dem Herzen und der Seele das Wesen bleibender Tugend zuführt; denn es ist geschrieben: „und Brot stärkt des Menschen Herz“.

Wie bei Victorinus muss ἐπιούσιος (und hier auch περιούσιος) als Argument für den im Begriff ὁμοούσιος enthaltenen Seins- oder Wesensbegriff (οὐσία) herhalten. Dabei erscheint mir die hier vorgebrachte Argumentation mit der in de sacram. gegebenen Etymologie ziemlich inkompatibel.

Hieronymus

Sophronius Eusebius Hieronymus (347-420), Gelehrter und Theologe, ist der maßgebliche Urheber jener als Vulgata bekannten lat. Bibelübersetzung. Er hat auch Kommentare zu biblischen Büchern verfasst.
Im Kommentar zum Titusbrief („written about A.D. 387“) schreibt Hieronymus zu Tit 2,14 „und [damit] er sich reinigt ein Volk des Eigentums (λαὸν περιούσιον laón perioúsion), Nacheiferer guter Werke“ (comment. Tit., p. 726):

Symmachus igitur pro eo quod est in Graeco περιούσιον, in Hebraeo SGOLLA [סְגֻלָּה], expressit ἐξαίρετον, id est egregium vel praecipuum; pro quo verbo in alio volumine Latino sermone utens peculiarem interpretatus est. Symmachus hat also für das, was im Griechischen periousios ist, im Hebräischen segullâ („Eigentum“), (mit) exaireton („ausgenommen, auserlesen“) ausgedrückt, d.h. außerordentlich oder vorzüglich; für dieses Wort hat er in einem anderen Buch, in dem er die lateinische Sprache benützt, eigentümlich übersetzt.
recte igitur Christus Iesus, magnus deus noster atque salvator, redemit nos sanguine suo, ut sibi Christianum populum peculiarem faceret, qui peculiaris tunc esse posset, si bonorum operum aemulator existeret. Zu Recht also hat Christus Jesus, unser großer Gott und Erretter, uns durch sein Blut losgekauft, um sich ein eigen(tümlich)es christliches Volk zu machen, das dann eigentümlich sein kann, wenn es sich als Nacheiferer guter Werke erweist.
unde et illud, quod in evangelio secundum Latinos interpretes scriptum est: panem nostrum quotidianum da nobis hodie, melius in Graeco habetur panem nostrum ἐπιούσιον, id est praecipuum, egregium, peculiarem, eum videlicet qui de caelo descendens ait: ego sum panis qui de caelo descendi. [Joh 6,51] Weshalb auch jenes, das im Evangelium nach den lateinischen Übersetzern geschrieben ist: unser tägliches Brot gib uns heute, im Griechischen besser behandelt wird als unser epiousion Brot, d.h. vorzügliches, hervorragendes, eigentümliches, das natürlich, das vom Himmel herabsteigend sagt: ich bin das Brot, das vom Himmel herabstieg (wörtl: der ich vom Himmel herabstieg).
Absit quippe ut nos, qui in crastinum cogitare prohibemur, de pane isto qui post paululum concoquendus et abiciendus est in secessum, in prece dominica rogare iubeamur. Fern sei natürlich, dass uns, denen verboten wird, an morgen zu denken, um dieses Brot, das nach kurzem verdaut werden und in den Abort ausgeworfen werden muss, im Herrengebet (Vaterunser) zu beten befohlen wird.
Nec multum differt inter ἐπιούσιον et περιούσιον, praepositio enim tantummodo est mutata, non verbum. Und es ist kein großer Unterschied zwischen epiousios und periousios, denn nur das Vorwort ist ausgetauscht worden, nicht das Wort.
Quidam ἐπιούσιον existimant in oratione dominica panem dictum, quod super omnes οὐσίας sit, hoc est super universas substantias. Manche glauben, dass das Brot im Herrengebet epiousios genannt worden ist, weil es über alle ousiai hinaus sei, d.h. über alle Beschaffenheiten (Substanzen).
Quod si accipitur, non multum ab eo sensu differt quem exposuimus. Wenn man das akzeptiert, unterscheidet es sich nicht viel von dem Sinn, den wir dargelegt haben.
Quidquid enim egregium est et praecipuum, extra omnia est et super omnia. Denn alles was, was hervorragend ist, ist auch vorzüglich, außerhalb von allem und über alles hinaus.

Ganz ähnlich schreibt Hieronymus im Kommentar zum Matthäusevangelium („written a few years afterwards (A.D. 398)“) zu Mt 6,11 (comment. Matth. p. 34f):

Quod nos supersubstantialem expressimus, in Graeco habetur ἐπιούσιον: quod verbum Septuaginta interpretes περιούσιον frequentissime transferunt. Was wir als überwesentlich wiedergegeben haben, heißt auf Griechisch epiousion: dieses Wort übersetzen die Siebzig Übersetzer (LXX) sehr häufig mit periousion.
consideravimus ergo in Hebraeo, et ubicumque illi περιούσιον expresserunt, nos invenimus SGOLLA [סְגֻלָּה], quod Symmachus ἐξαίρετον, id est praecipuum vel egregium, transtulit, licet in quodam loco peculiare interpretatus sit. Wir haben daher im Hebräischen nachgesehen, und wo immer jene mit periousion wiedergegeben haben, haben wir segullâ („Eigentum“) gefunden, was Symmachus mit exaireton („ausgenommen, auserlesen“), das heißt „vorzüglich“ oder „außerordentlich“, übersetzt hat, wenn er auch an einer Stelle „eigen(tümlich)“ übersetzt hat.
quando ergo petimus ut peculiarem vel praecipuum nobis deus tribuat panem, illum petimus qui dicit: ego sum panis vivus qui de caelo descendi [Joh 6,51]. Wenn wir also bitten, dass Gott uns das eigen(tümlich)e oder außerordentliche Brot gewährt, bitten wir jenen, der sagt: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist.
in evangelio, quod appellatur secundum Hebraeos, pro supersubstantiali pane repperi MAHAR [מָחָר], quod dicitur crastinum; ut sit sensus: panem nostrum crastinum, id est futurum da nobis hodie. Im sogenannten Hebräerevangelium fand ich für übernatürliches Brot māḥār, was morgiges heißt; sodass der Sinn ist: Unser morgiges Brot, d.h. zukünftiges gib uns heute.
possumus supersubstantialem panem et aliter intellegere, qui super omnes substantias sit et universas superet creaturas. Wir können das überwesentliche Brot auch anders verstehen, als das über alle Wesenheiten hinaus ist und sämtliche Geschöpfe übersteigt.
alii simpliciter putant, secundum apostoli sermonem dicentis: habentes victum est vestitum, his contenti sumus [1Tim 6,8], de praesenti tantum cibo sanctos curam agere. unde et in posterioribus sit praeceptum: nolite cogitare de crastino. Andere glauben schlicht, dass, entsprechend der Rede des Apostels, der sagt: Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, sind wir damit zufrieden, die Heiligen sich nur um die gegenwärtige Speise sorgen. Weshalb auch im folgenden vorgeschrieben sei: Denkt nicht an morgen.

Im Anschluss an Origenes argumentiert Hieronymus von griech. περιούσιος perioúsios aus, das in der LXX als Übersetzung von hebr. סְגֻלָּה segullâ „Eigentum“ verwendet wird. Hieronymus kommt aber auf die Grundbedeutung „übermäßig“ zurück und gibt es mit lat. Wörtern wieder, die „vorzüglich, außerordentlich, ausgezeichnet, besonderer, eigentümlich“ bedeuten. Da es für Hieronymus hierbei um ein geistliches Brot geht (Joh 6,51), scheint seine Wiedergabe supersubstantialis den Sinn von „außer-gewöhnlich, übersubstanziell, übernatürlich, spirituell“ zu haben.
(Zum Hebräerevangelium, das ἐπιούσιος offenbar im Sinne der dritten Auffassung versteht, s.o. Nazaräerevangelium.)
Im Kommentar zum Propheten Hesekiel („written from A.D. 411–414“) heißt es zum Kap. 18 (comment. Ezech. 6 [p. 209]):

Melius autem est, ut intelligamus panem iusti eum esse, qui dicit: ego sum panis vivus, qui de caelo descendi [Joh 56,51], et quem in oratione nobis tribui deprecamur: panem nostrum substantivum, sive superventurum da nobis, ut quem postea semper accepturi sumus, in praesenti saeculo quotidie mereamur accipere. Besser aber ist es, dass wir verstehen, dass das Brot des Gerechten derjenige ist, der spricht: ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist, und von dem wir im Gebet bitten, dass es uns zugeteilt werde: unser selbst-existentes Brot oder das dazukommen wird, gib uns, damit wir (das Brot), das wir später empfangen werden, im gegenwärtigen Zeitalter täglich zu empfangen verdienen.

Hier bringt Hieronymus zwei neue Begriffe ins Spiel: substantivus „(selbst-)existent“ und superventurus „das dazukommen, darüberkommen, übersteigen, übertreffen wird“. Ersteres ist als Adjektiv zu substantia (οὐσία) zu verstehen, letzteres sieht nach einer Lehnübersetzung von ἐπ-ιών ep-iṓn (Partizip von ἐπ-ιέναι) aus.
Im Dialog gegen die Pelagianer („written about A.D. 415“) lesen wir (contra Pelag. 3,15 [p. 800]):

Die Pelagianer lehnten die augustinische Erbsündenlehre ab. Sie vertraten die Ansicht, der Mensch könne sich gegen die Sünde entscheiden und trage daher selbst die Verantwortung für sein Seelenheil. Jesus habe die Menschen nicht erlöst, sondern habe ein gutes Beispiel gegeben.

Sic docuit apostolos suos, ut quotidie in corporis illius sacrificio credentes audeant loqui: «pater noster […].» So lehrte er seine Apostel, dass die, die an das Opfer seines Leibes glauben, zu sagen wagen: „Unser Vater […].“
«panem quotidianum», sive «super omnes substantias», venturum apostoli deprecantur, ut digni sint assumptione corporis Christi. Dass das „tägliche Brot“, oder „(das) über alle Beschaffenheiten hinaus (ist)“, kommen wird, beten die Apostel, dass sie des Empfangs des Leibes Christi würdig sind.
et vos per nimiam sanctitatem securamque iustitiam audacter vobis caelestia dona vindicatis. Und ihr beansprucht durch allzugroße Heiligkeit und sichere Gerechtigkeit frech für euch die himmlischen Gaben.

Cassianus

Johannes Cassianus (um 360-um 435) war zeitweilig Schüler des Johannes Chrysostomus in Konstantinopel und gründete zwei Klöster bei Marseille, wo er die letzen zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. (Er ist nicht zu verwechseln mit dem Hl. Kassian von Imola, einem Märtyrer des frühen 4. Jh.)
Eines seiner Werke sind die sog. Besprechungen mit den (Mönchs-)Vätern. In der Collatio mit Abt Isaak über das Gebet heißt es (Collat. 9,21):

Lat. collātio, -ōnis heißt „Zusammentragen, -bringen“ und dann je nach Kontext „Vereinigung, Sammlung, Beitrag, Vergleich, Analogie“. Im monastischen Kontext bedeutete es eine „Zusammenkunft“ oder „Unterredung“, aber auch (ein dabei eingenommener?) „Imbiss“. Daher it. prima colazione „Frühstück“, frz. collation unter anderem „Imbiss, Jause“.

Deinde panem nostrum ἐπιούσιον, id est supersubstantialem, da nobis hodie. Quod alius evangelista quotidianum dixit. Hierauf: unser epiousion Brot, d.h. überwesentliches, gib uns heute. Wofür ein anderer Evangelist tägliches sagte.
illud nobilitatis ac substantiae eius significat qualitatem, qua scilicet super omnes substantias sit atque omnes creaturas sublimitas magnificentiae eius ac sanctificationis excedat; Jenes bezeichnet die Beschaffenheit seiner Vortrefflichkeit und seines Wesens, durch die es natürlich über alle Wesenheiten hinaus ist und die Erhabenheit seiner Pracht und Heiligkeit alle Geschöpfe überragt.
hoc vero proprietatem usus ipsius atque utilitatis expressit. Dieses aber drückte die Eigentümlichkeit seines Gebrauches und seines Nutzens aus.
Nam cum dicit quotidianum, ostendit quod sine ipso nullo die spiritalem vitam capere valeamus. Denn indem er sagt tägliches, zeigt er, dass wir ohne es selbst an keinem Tag das geistliche Leben zu ergreifen vermögen.

Ich habe den Migne-Text nach dem Codex Lewis, dessen Scan im Netz verfügbar ist, an drei Stellen korrigiert.

Cassianus weiß also, dass Mt ἐπιούσιος verwendet. Doch er scheint nicht zu realisieren, dass bei Lk im Griech. genau dasselbe Wort steht und es den Unterschied supersubstantialis vs. cotidianus erst in der Vulgata gibt. Diese Missverständis pflanzt sich nach Lightfoot bei späteren Autoren, die nicht mehr Griech. können, fort (Anselm, Abelard).

Abaelard

Petrus Abaelardus (1079-1142) war ein französischer Theologe, der vor allem durch seine Liebesbeziehung zu Heloïse bekannt ist, aber auch ein bedeutender Denker der Scholastik war. In einem Brief an Bernhard von Clairvaux rechtfertigt er sich für die von ihm veranlasste Änderung des lat. Wortlauts des Vaterunsers im Kloster Le Paraclet (epist. 10):

Venerabili atque in Christo dilectissimo fratri Bernardo, Claraevallensi abbati, Petrus compresbyter. An den ehrwürdigen und in Christus hochgeschätzten Bruder Bernhard, Abt von Clairvaux, der Mitpriester Petrus.
cum nuper Paracletum venissem, quibusdam compulsus negotiis ibi peragendis, filia vestra in Christo et soror nostra, quae illius loci abbatissa dicitur, cum summa exsultatione mihi retulit, vos illuc diu desideratum causa sanctae visitationis advenisse, et non tamquam hominem, sed quasi angelum tam eam quam sorores suas sacris exhortationibus corroborasse. Als ich neulich nach Le Paraclet kam, da ich genötigt war, dort einige Geschäfte zu erledigen, berichtete mir Eure Tochter in Christus und unsere Schwester, die die Äbtissin jenes Ortes genannt wird, mit Frohlocken, dass Ihr, lange ersehnt, wegen einer heiligen Visitation dorthin gekommen wart und nicht wie ein Mensch, sondern gleichsam als ein Engel sie so sehr wie ihre Schwestern durch heilige Ermahnungen gestärkt hattet.
secreto vero mihi intimavit vos ea caritate, qua me praecipue amplectimini, aliquantulum commotum esse, quod in oratorio illo oratio dominica non ita ibi in horis quotidianis, sicut alibi recitari solet; Unter vier Augen aber eröffnete sie mir, dass Ihr, durch die Liebe, mit der Ihr mich besonders umarmt, ein wenig beunruhigt wart, dass in jenem Bethaus das Herrengebet (Vaterunser) dort bei den täglichen Stunden(gebeten) nicht so wie anderswo vorgelesen zu werden pflegt;
et cum hoc per me factum crederetis, me super hoc quasi de novitate quadam notabilem videri. und da ihr glauben würdet, dass dies durch mich geschehen sei, scheine ich über dies gleichsam von einer Neuheit auffällig.
Quo audito scribere vobis decrevi nostram super hoc qualemcumque excusationem, maxime cum vestram magis[1] quam ceteras omnes dolerem, ut decet, offensionem. Als ich das gehört hatte, beschloss ich Euch unsere wie auch immer beschaffene Rechtfertigung darüber zu schreiben, besonders da mich euer Anstoß, wie es sich geziemt, mehr als alle übrigen schmerzt.
Constat, ut nostis, hanc dominicam orationem vel a solis Matthaeo et Luca nos habere conscriptam, quorum alter tam apostolus quam evangelista huic orationi, cum traderetur, interfuit; Es steht, wie Ihr wisst, fest, dass wir dieses Gebet des Herrn wohl allein von Matthäus und Lukas aufgezeichnet haben, von denen der eine ebenso als Apostel wie als Evangelist bei diesem Gebet, als es übergeben wurde, dabei war.
unde et eam plenius ac perfectius, sicut et totum sermonem in monte habitum, cui est ipsa inserta, scripsisse dubium non est. weshalb kein Zweifel besteht, dass er es vollständiger und vollkommener, wie auch die ganze auf einem Berg gehaltene Predigt, der es selbst eingefügt ist, geschrieben hat.
Lucas vero, discipulus Pauli, qui nec huic sermoni interfuit, nec, quae ex ore dominico audierit, scripsit, sed quae Paulo maxime referente didicit, quem nec illi sermoni constat interfuisse, scribit etiam non illum perfectiorem dominicum sermonem, quem in monte habuit cum apostolis, sed quem turbis in campestribus fecit. Lukas aber, Schüler des Paulus, der weder bei dieser Predigt dabei war, noch aufgeschrieben hat, was er aus dem Munde des Herrn gehört hat, sondern was er gelernt hat, als Paulus besonders berichtete, von dem feststeht, dass er bei jener Predigt nicht dabei war, schreibt auch nicht jene vollkommenere Predigt des Herrn, die er mit den Aposteln auf einem Berg gehalten hat, sondern die er für das Volk auf ebenem Feld gemacht hat.
electurus quippe apostolos dominus, sicut scriptum est, «in montana subiit», turbas vero docturus, ad campestria rediit. Um die Apostel freilich auszuwählen, „ging“ der Herr, so steht geschrieben, „ins Gebirge“, aber um das Volk zu lehren, kehrte er in die Ebene zurück.
illuc quidem conscendit, hic descendit, in quo quam altior illa esset doctrina, qua doctores ipsos docebat, patenter ostenderet. Dorthin stieg er ja hinauf, hier stieg er herab, worin er offen zeigte, wieviel höher jene Lehre ist, mit der er selbst die Lehrer lehrte.
beato denique Hieronymo attestante novimus, sicut et manifesta veritas habet, quoniam «aliter audita, aliter visa narrantur, et quod melius intelligimus, melius et proferimus» [Hieron. prologus in Pentat.]. Durch das Zeugnis des seligen Hieronymus schließlich wissen wir, so wie auch die offenbare Wahrheit hat, denn „anders wird Gehörtes erzählt als Gesehenes, und was wir besser verstehen, bringen wir auch besser hervor“.
De ipso fonte Matthaeus, de rivulo fontis Lucas est potatus. Aus der Quelle selbst ist Matthäus getrunken, aus einem Bächlein der Quelle Lukas.
non arguimus Lucam mendacii, nec ipse nobis irascitur, si ei Matthaeum praferamus, et orationem dominicam, quae apostolis omnibus generaliter tradita et ab apostolo est scripta, ei anteferamus, quae cuidam discipulo est dicta, praesertim cum illam Matthaei sicut in auctoritate et in perfectione constat eminere. Wir beschuldigen Lukas nicht der Unwahrheit, und er selbst zürnt uns nicht, wenn wir ihm Matthäus vorziehen und das Herrengebet, das allen Aposteln im allgemeinen überliefert und von einem Apostel aufgeschrieben worden ist, über das stellen, was einem bestimmten Schüler gesagt worden ist, zumal da feststeht, dass jenes (Gebet) des Matthäus wie an Ansehen so auch an Vollendung herausragt.
ut autem de utraque quasi ante oculos posita melius iudicemus, iuvat utramque praesenti loco inserere. Damit wir aber über beide besser urteilen, wenn sie gleichsam vor Augen gestellt sind, beliebt es mir, beide hier an dieser Stelle (wörtl.: dem gegenwärtigen Ort) einzufügen.
sicut ergo Matthaeus scribit, cum praedictam orationem apostolis traderet, ait: «Sic ergo vos orabitis: pater noster, qui es in coelis, sanctificetur nomen tuum; adveniat regnum tuum; fiat voluntas tua sicut in coelo et in terra. panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie; et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris; et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo.» So also schreibt Matthäus, als er das vorgeschriebene Gebet den Aposteln überlieferte, sagt er: „So also sollt ihr beten: Unser Vater, der du in den Himmeln bist, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf der Erde. Unser überwesentliches Brot gib uns heute; und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern erlassen; und führe uns nicht in Versuchung, sondern befreie uns vom Bösen.“
Lucas vero sic ait: «Factum est, cum esset in loco quodam orans, ut cessavit, dixit unus ex discipulis eius ad eum: domine, doce nos orare, sicut et Joannes docuit discipulos suos. et ait illis: cum oratis dicite: pater, sanctificetur nomen tuum; adveniat regnum tuum. panem nostrum quotidianum da nobis hodie; et dimitte nobis peccata nostra, siquidem et ipsi dimittimus omni debenti nobis; et ne nos inducas in tentationem.» Lukas aber sagt so: „Es geschah, als er an einem Ort betete, da sagte, sobald er ruhte, einer von seinen Jüngern zu ihm: Herr, lehre uns zu beten, wie auch Johannes seine Jünger gelehrt hat. Und er sagt zu jenen: Wenn ihr betet, sprecht: Vater, geheiligt werden dein Name; dein Reich komme. Unser tägliches Brot gib uns heute; und erlasse uns unsere Sünden, weil ja auch wir selbst jedem erlassen, der uns schuldet; und führe uns nicht in Versuchung.“
patet itaque quod perfectius, ut supra meminimus, Matthaeus quam Lucas scripserit, cum ille videlicet septem petitiones in ea, iste tantum quinque posuerit. Es ist daher offensichtlich, dass Matthäus vollkommener, wie wir oben erwähnen, geschrieben hat als Lukas, da jener nämlich sieben Bitten in es gestellt hat, dieser nur fünf.
Illa quippe apostolis, sicut oportebat, perfectior est tradita, et in eo petitionum numero constituta, quo septiformis gratiae plenitudo notatur, de qua prima et potiora dona ipsos accepisse apostolos Paulus confitetur, dicens: «Nos autem primitias spiritus habentes», etc. [Rom 8,23] Jenes (Gebet) freilich ist den Aposteln, wie es sich gebührte, vollkommener überliefert und in dieser Zahl von Bitten eingesetzt worden, mit der die siebenfache Fülle der Gnade bezeichnet wird, von der Paulus bekennt, dass die Apostel selber die ersten und wichtigeren Gaben empfangen haben, wenn er sagt: „Wir aber haben die Erstlingsgaben des Geistes“ usw.
illa vero, quam longe post sermonem in monte habitum Lucas refert a domino uni discipulorum id roganti traditam fuisse, non immerito suae imperfectionis typum in ipso petitionum quinario designat. Jenes (Gebet) aber, von dem Lukas berichtet, dass es lange nach der auf dem Berg gehaltenen Predigt vom Herrn einem der Apostel, als er danach fragte, übergeben worden ist, bezeichnet nicht unverdient in der Fünfzahl der Bitten selbst das Bild seiner Unvollkommenheit.
quinque etenim sunt corporis sensus, sicut et septem dona spiritus. unde bene his numerus ille convenit, qui quasi carnales adhuc spiritualibus inferiores sunt. Denn es gibt fünf Sinne des Körpers, so wie es auch sieben Gaben des Geistes gibt. Daher passt jene Zahl gut auf diese, die gleichsam als fleischliche immer noch geringer sind als die geistlichen.
quod de illo uno discipulo non esse dubitandum arbitror, quem constat apostolis non interfuisse, cum eis in monte dominus Novum traderet Testamentum, cui, ut diximus, ipsam quoque orationem inseruit, quam ille nondum audierat. Was, wie ich glaube, von jenem einem Jünger nicht zu bezweifeln ist, von dem feststeht, dass er nicht bei den Aposteln zugegen war, als der Herr ihnen auf einem Berg das Neue Testament übergab, welchem er, wie wir sagten, auch das Gebet selbst einfügte, das jener noch nicht gehört hatte.
qui etiam cum ait: «domine, doce nos orare, sicut et Joannes discipulos suos» [Lk 11,1], commemorando Joannem, qui minor Christo in omnibus atque imperfectior fuit, ipsam quoque imperfectionem sui sensus innuit. Er hat auch, als er sagte: „Herr, lehre uns zu beten, wie auch Johannes seine Jünger“, dadurch dass er an Johannes erinnerte, der in allem geringer und unvollkommener als Christus war, auch die Unvollkommenheit seines Sinnes gekennzeichnet.
constat et plerumque legem, quae in quinque libris consistit, et carnali populo sensibus magis quam ratione ducto et corporalibus bonis potius quam spiritualibus inhianti data est, per Joannem figurari. Es steht fest, dass auch meistens das Gesetz, das aus fünf Büchern besteht, und das dem fleischlichen Volk, das mehr von den Sinnen als vom Verstand geleitet wurde, als auch eher nach leiblichen als nach geistlichen Gütern trachtet, gegeben worden ist, durch Johannes dargestellt wird.
unde non incongrue factum est, ut qui a Christo talem orationis doctrinam, qualem Joannes dederat, requirebat, imperfectiorem quam apostoli suscipere deberet. Deshalb ist es nicht unpassend geschehen, dass derjenige, der von Christus eine solche Unterweisung über das Gebet verlangte, wie sie Johannes gegeben hatte, eine unvollkommenere als die Apostel annehmen musste.
pro qua quidem imperfectione sui, bene id a sanctis patribus provisum est, ut illa potius quae a Matthaeo perfectior scribitur in usum veniret, atque in ecclesiasticis frequentetur officiis. Angesichts dieser Unvollkommenheit von ihm, ist dies von den heiligen Vätern gut vorgesehen worden, dass eher jenes (Gebet), das von Matthäus vollkommener geschrieben wird, in Gebrauch kam und bei kirchlichen Handlungen wiederholt wird.
quid igitur exstiterit causae, ut ceteris Matthaei verbis retentis unum solum mutemus, «quotidianum» scilicet pro «supersubstantialem» dicentes, qui potest dicat, si tamen dicere sufficiat. Welchen Grund es also wohl gibt, dass wir, während die übrigen Worte des Matthäus beibehalten wurden, nur ein Wort ändern, indem wir nämlich „täglich“ statt „überwesentlich“ sagen, möge sagen, wer kann, wenn überhaupt es zu sagen genügt.
non enim ita excellentiam huius panis hoc nomen «quotidianum» quemadmodum «supersubstantialem» videtur exprimere, et non mediocris videtur praesumptionis esse apostoli verba corrigere; et sic ex duobus evangelistis unam orationem componere, ut neuter in ea sufficere videatur; et sic eam proferre, sicut nec a domino est dicta, nec ab aliquo evangelistarum scripta; praesertim cum in ceteris omnibus, quae de scriptis eorum in ecclesia recitantur, impermista sint eorum verba, quacumque perfectione vel imperfectione discrepent. Denn dies Wort „täglich“ scheint die Vortrefflichkeit dieses Brotes nicht so auszudrücken wie „überwesentlich“, und es scheint Zeichen einer nicht geringen Vermessenheit zu sein, die Worte des Apostels zu korrigieren; und so aus zwei Evangelisten ein Gebet zusammenzufügen, sodass in ihm keiner der beiden zu genügen scheint; und es so zu hervorzubringen, wie es weder vom Herrn gesagt, noch von irgendeinem der Evangelisten geschrieben worden ist; zumal da in allem übrigen, was von ihren Schriften in der Kirche vorgelesen wird, ihre Worte unvermischt sind, in welcher Vollkommenheit oder Unvollkommenheit auch immer sie voneinander abweichen.
si quis itaque me novitatis super hoc arguat, attendat, an ille magis arguendus fuerit, qui ex duabus orationibus antiquitus scriptis unam novam componere praesumpsit, non tam evangelicam quam suam dicendam. Wenn also jemand mich über dies der Neuheit beschuldigte, möge er darauf achten, ob jener mehr zu beschuldigen ist, der aus zwei vor alters geschriebenen Gebeten ein neues zusammenzufügen sich vermessen hat, das nicht so sehr evangelisch als vielmehr das seine zu nennen ist.
denique Graecorum discretio, quorum, ut ait beatus Ambrosius, auctoritas maior est, solam Matthaei orationem praedictis, ut arbitror, rationibus in consuetudinem duxit, dicendo scilicet τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον, quod interpretatur «panem nostram supersubstantialem.» Schließlich hat die Unterscheidung der Griechen, deren Autorität, wie der selige Ambrosius sagt, größer ist, nur das Gebet des Matthäus, wie ich glaube, aus den vorher genannten Gründen in den gewohnten Gebrauch geführt, natürlich indem man sagt: ton arton hēmōn ton epiousion, was übersetzt wird mit „unser überwesentliches Brot“.
Quamvis enim Lucas Graece, Matthaeus scripserit Hebraice, antiquiorem tamen et perfectiorem peregrinae linguae orationem frequentare potius Graeci decreverunt, et translationem magis quam propriae linguae scripturam sequi. Denn obwohl Lukas griechisch, Matthäus hebräisch geschrieben hat, haben die Griechen trotzdem beschlossen, das ältere und vollkommenere Gebet der fremden Sprache eher anzuwenden, und (eher) einer Übersetzung zu folgen als der Schrift in der eigenen Sprache.
his itaque, ni fallor, tam rationibus quam auctoritatibus vetustatis potius quam novitatis arguendus videor et minus de praesumptione censendus, qui tam dominum quam apostolos et manifestam Graecorum providentiam in hoc praecipue sequor. Aus diesen Gründen also, wenn ich mich nicht täusche, ebenso wie Autoritäten scheine ich eher der Altertümlichkeit als der Neuheit beschuldigt werden zu müssen und weniger wegen Vermessenheit bewertet werden zu müssen, der ich dem Herrn ebenso wie den Aposteln und der offenkundigen Voraussicht der Griechen besonders darin folge.
non enim dubitandum est apostolos orationem hanc sibi traditam a domino et ab apostolo primum scriptam in eisdem verbis etiam[2] frequentasse, in quibus ipsam a domino acceperant et apostolus tradiderat scriptam. Es ist nämlich nicht zu bezweifeln, dass die Apostel dieses ihnen vom Herrn übergebene und von einem Apostel zuerst aufgeschriebene Gebet in denselben Worten auch anwendeten, in denen sie selbiges vom Herrn empfangen hatten und der Apostel es schriftlich überliefert hatte.
quis enim non censeat eos, qui in commune vivunt et in hoc apostolicam plurimum vitam, doctrinam quoque ipsorum insistere debere potissimum? Wer würde nämlich nicht meinen, dass die, die im Gemeingut leben und darin am meisten ein apostolisches Leben, auch bei ihrer eigenen Lehre vornehmlich beharren sollen?
denique cum dominus orationem hanc traderet, vel in his secundum Matthaeum verbis, vel in illis secundum Lucam, et eam, sicut tradebat, dici praeciperet, quis non videat eos non mediocriter praesumere, qui sic eam dicunt, sicut numquam est ab ipso tradita nec ab aliquo scripta? Schließlich, wenn der Herr dieses Gebet übergeben hat, sei es in diesen Worten nach Matthäus oder in jenen nach Lukas, und befohlen hat, dass es gesagt werde, wie er es übergeben hat, wer sähe nicht, dass diejenigen sich nicht wenig vermessen, die es so sagen, wie es niemals von ihm selbst übergeben worden, noch von irgendjemandem aufgeschrieben worden ist?
quanta enim praesumptio est, in hac oratione nec aliquod scriptum sequi, nec tenere praeceptum domini, immo tam scriptum quam dominum ipsum emendare audere, si forte ista praesumptio dici possit emendatio? Denn wie große Vermessenheit ist es, bei diesem Gebet weder irgendeinem Geschriebenen zu folgen, noch die Vorschrift des Herrn festzuhalten, ja vielmehr zu wagen, ebenso das Geschriebene wie den Herrn selbst zu verbessern, wenn etwa diese Vermessenheit eine Verbesserung genannt werden kann?
Nemini tamen praecipio, nemini persuadeo, ut me in hoc sequatur et a communi recedat usu. «abundet unusquisque in sensu suo.» [Röm 14,5] Dennoch schreibe ich niemandem (etwas) vor, ich überrede niemanden, dass er mit darin folge und von der allgemeinen Praxis abweiche. „Ein jeder sei völlig überzeugt in seinem Sinn.“
illud tamen, quicumque est ille, attendat nec usum[3] rationi nec consuetudinem praeferendam esse veritati. Auf jenes jedoch möge achten, wer immer jener ist, dass weder die Praxis der Vernunft noch die Gewohnheit der Wahrheit vorgezogen werden darf.
quod quidem tam saeculi leges, quam doctrinae sanctorum patrum plurimum nobis commendare decreverunt. Das freilich haben so sehr die Gesetze der Welt, wie die Lehren der heiligen Väter uns am meisten anzuempfehlen beschlossen.
Codicis liber VIII, cap. I: «Consuetudinis ususque longaevi nec vilis auctoritas est, verum nec usque adeo sui valitura momento, ut aut rationem vincat aut legem.» 8. Buch des Kodex[4], Kap. 1: „Das Gewicht von Gewohnheit und langjähriger Praxis ist nicht gering, aber es wird nicht so weit durch seine eigene Bedeutung gelten, dass es entweder die Vernunft besiegt oder das Gesetz.“
Augustinus libro IV de baptismo: «Frustra qui ratione vincuntur, consuetudinem nobis obiciunt, quasi consuetudo maior sit veritate aut non sit in spiritualibus sequendum, quod in melius fuerit a spiritu sancto revelatum. hoc plane verum est, quia ratio et veritas consuetudini praeponenda est.» Augustinus im 4. Buch über die Taufe: „Vergebens halten uns die, die von der Vernunft besiegt werden, die Gewohnheit entgegen, als sei Gewohnheit größer als Wahrheit oder als müsse man in geistlichen Dingen nicht dem folgen, was vom heiligen Geist zum Besseren offenbart worden ist. Das ist völlig wahr, weil Verstand und Wahrheit der Gewohnheit vorzuziehen sind.“
Gregorius septimus Wimundo Aversano episcopo: «Si consuetudinem fortassis opponas, advertendum fuerit[5] quod dominus dicit: ‹Ego sum›, inquit, ‹veritas› [Joh 14,6], non ait: ‹ego sum consuetudo›.» Gregor VII. an Guitmund, den Bischof von Aversa[6]: „Wenn du vielleicht die Gewohnheit entgegenhältst, wird wohl bemerkt werden müssen, dass der Herr sagt: ‚Ich bin die Wahrheit‘; er sagt nicht: ‚Ich bin die Gewohnheit‘.“
beatus quoque Gregorius de diversis consuetudinibus ecclesiarum Augustino Anglorum episcopo scribens, eius providentiae relinquit in divinis officiis vel celebratione missae, de variis usibus aliorum id quod decreverit eligere, nec tam ipsam etiam matrem Romanam ecclesiam in talibus sequi, quam quod tenere censuerit: Auch der selige Gregor, wenn er Augustinus, dem Bischof der Angelsachsen[7], über verschiedene Gewohnheiten der Kirchen schreibt, überlässt es seiner Voraussicht, bei den Stundengebeten oder der Messfeier aus verschiedenen Gebräuchen anderer das, was er entschieden hat, auszuwählen, und nicht so sehr auch der römischen Mutterkirche selber in solchen Dingen zu folgen, als vielmehr (dem), was festzuhalten er beschlossen hat.
«novit, inquit, fraternitas tua Romanae ecclesiae consuetudinem, in qua se meminit nutritam; sed mihi placet sive in Romana, sive in Gallicana, seu in qualibet ecclesia aliquid invenisti, quod plus omnipotenti deo possit placere, sollicite eligas et in Anglorum ecclesiam, quae adhuc fide nova est, institutione praecipua quae de multis ecclesiis colligere potuisti, infundas. non enim pro locis res, sed pro bonis rebus loca emendas. ex singulis ergo quibusque ecclesiis, quae pia, quae religiosa, quae recta sunt elige, et haec quasi in fasciculum collecta apud Anglorum mentes in consuetudinem depone.» „Deine Bruderschaft“, sagt er, „kennt die Gewohnheit der römischen Kirche, in der sie, wie sie sich erinnert, ernährt worden ist; aber mir beliebt es, dass du, wenn du in der römischen Kirche oder in der gallikanischen oder in jeder beliebigen etwas gefunden hast, das dem allmächtigen Gott mehr gefallen kann, sorgfältig auswählst und in die Kirche der Angelsachsen, die noch einen jungen Glauben hat, was du an besonderer Einrichtung aus vielen Kirchen sammeln konntest, hineinfließen lässt. Denn du verbesserst nicht die Dinge für die Orte, sondern die Orte für die guten Dinge. Aus jeder einzelnen Kirche also wähle aus, was fromm, was gottesfürchtig, was richtig ist, und stelle dies, gleichsam in ein Bündel gesammelt, bei den Gesinnungen der Angelsachsen in die Gewohnheit ab.“
quod si in talibus et nobis eligere liceat ex consuetudinibus ecclesiarum, non improbanda nostra videtur electio, providentiam Graecorum, a quibus plurimam accepimus doctrinam, in hoc etiam imitata, ut nec auctoritas consuetudinis desit tam manifestae rationi. Wenn es also in solchen Dingen auch uns erlaubt ist, aus den Gewohnheiten der Kirchen auszuwählen, scheint unsere Wahl nicht missbilligt werden zu dürfen, die die Voraussicht der Griechen, von denen wir am meisten Unterweisung empfangen haben, auch darin nachahmt, dass auch die Autorität der Gewohnheit nicht der so offensichtlichen Vernunft fehlt.
quam videlicet rationem ita vos videmus insistere et in ea vehementes esse, ut contra omnium consuetudinem ecclesiarum in[8] divinis officiis eam tenere ac defendere audeatis. Wir sehen natürlich, dass ihr so bei dieser Vernunft beharrt und in ihr energisch seid, dass ihr wagt, sie gegen die Gewohnheit aller Kirchen bei den Stundengebeten festzuhalten und zu verteidigen.
vos quippe quasi noviter exorti ac de novitate plurimum gaudentes, praeter consuetudinem omnem tam clericorum quam monachorum longe ante habitam et nunc quoque permanentem, novis quibusdam decretis aliter apud vos divinum officium instituistis agi. nec tamen inde vos accusandos censetis. Ihr, die ihr ja gleichsam neu aufgetreten seid und euch über die Neuheit am meisten freut, habt gegen alle Gewohnheit der Geistlichen ebenso wie der Mönche, die lange zuvor geübt worden war und auch jetzt fortdauert, mit gewissen neuen Beschlüssen eingeführt, dass bei euch das Stundengebet anders betrieben wird. Dennoch meint ihr nicht, dass ihr deshalb anzuklagen seid.
si haec vestra novitas aut singularitas ab antiquitate recedat aliorum, quam rationi plurimum et tenori regulae creditis concordare, nec curatis quantacumque admiratione super hoc alii moveantur ac murmurent, dummodo vestrae, quam putatis, rationi pareatis. Wenn diese eure Neuheit und Einzigartigkeit von der Altertümlichkeit anderer abweicht, von der ihr glaubt, dass sie am meisten mit der Vernunft und dem Sinn der Regel übereinstimmt, kümmert ihr euch nicht darum, von wie großer Bewunderung andere darüber bewegt werden und murmeln, wenn ihr nur eurer, wie ihr glaubt, Vernunft gehorcht.
quorum, ut pauca commemorem pace vestra, hymnos solitos respuistis et quosdam apud nos inauditos et fere omnibus ecclesiis incognitos ac minus sufficientes introduxistis. Deren gewohnte Lobgesänge, um mit eurer Erlaubnis nur weniges zu erwähnen, habt ihr verworfen und habt gewisse bei uns ungehörte und fast allen Kirchen unbekannte und weniger genügende eingeführt.
unde et per totum annum in vigiliis tam feriarum quam festivitatum uno hymno et eodem contenti estis, cum ecclesia pro diversitate feriarum vel festivitatum diversis utatur hymnis, sicut et psalmis vel ceteris, quae his pertinere noscuntur, quod et manifesta ratio exigit. Deshalb seid ihr auch das ganze Jahr hindurch in den Vigilien (Nachtgebeten) der Wochentage ebenso wie der Festtage mit ein und demselben Lobgesang zufrieden, während die Kirche entsprechend der Verschiedenehit der Wochentage oder Festtage verschiedene Lobgesänge gebraucht, sowie auch Psalmen oder anderes, von dem sie erkennen, dass es sich auf diese bezieht, was auch die offensichtliche Vernunft fordert.
unde et qui vos die Natalis seu Paschae vel Pentecostes et ceteris solemnitatibus hymnum semper eundem decantare audiunt, scilicet Aeterne rerum conditor, summo stupore attoniti suspenduntur; nec tam admiratione quam derisione moventur. Deshalb auch, die euch am Weihnachtstag, oder zu Ostern oder Pfingsten und anderen Festtagen immer den gleichen Lobgesang absingen hören, nämlich Ewiger Schöpfer der Dinge, werden, in höchster Verdutztheit verblüfft, emporgehoben; und sie werden nicht sosehr von Bewunderung als von Spott bewegt.
preces, quae post supplicationem et orationem dominicam ab ecclesia ubique celebrantur, et ea, quae suffragia sanctorum dicuntur, omnino a vobis fieri interdixistis, quasi vel precibus vestris mundus, vel vos suffragiis sanctorum minus egeatis. Die Bittgebete, die nach der Buße und dem Herrengebet von der Kirche überall feierlich begangen werden, und den sog. Beistand der Heiligen habt ihr verboten, dass sie überhaupt bei euch geschehen, als ob die Welt eure Bittgebete nötig habe oder als ob ihr den Beistand der Heiligen weniger nötig habt.
et, quod mirabile est, cum omnia oratoria vestra in memoria matris dominicae fundetis, nullam eius commemorationem sicut nec ceterorum sanctorum ibi frequentatis. Und, was erstaunlich ist, während ihr alle eure Bethäuser auf dem Gedenken an die Mutter des Herrn begründet, feiert ihr dort keine Erinnerung an ihn, wie auch nicht an die übrigen Heiligen.
processionum fere totam venerationem a vobis exclusistis. Alleluia nec in Septuagesima communi ecclesiae more intermittitis, sed usque in Quadragesimam retinetis. Fast die ganze Verehrung von Prozessionen habt ihr von euch ausgeschlossen. Das Halleluja stellt ihr nicht nach dem allgemeinen Brauch der Kirche am siebzigsten Tag (vor Ostern) ein (d.h. am Sonntag Septuagesimae), sondern behaltet es bis zum vierzigsten Tag (d.h. dem Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch) bei.
symbolum, quod dicitur apostolorum, quod tam a clericis quam a monachis in Prima pariter ac Completorio ex antiquo frequentatur, a vestra remotum est consuetudine, qui tamen symbolum Athanasii diebus tantum dominicis recitare decrevistis. Das sog. apostolische Glaubensbekenntnis, das von Geistlichen ebenso wie von Mönchen in der Prim (Gebet zur ersten Tagesstunde) in gleicher Weise wie in der Komplet (Tagesschlussandacht) seit dem Altertum wiederholt wird, ist von eurer Gewohnheit entfernt worden, die ihr jedoch beschlossen habt, das Athansische Glaubensbekenntnis nur an den Sonntagen aufzusagen.
Gloria cum responsoriis vigiliarum tantum decantatis diebus dominicae sepulturae; antiquam consuetudinem penitus abstulistis. Das Gloria singt ihr mit den Wechselgesängen nur der Vigilien an den Tagen der Grablegung des Herrn; die alte Gewohnheit habt ihr völlig beseitigt.
ubi et invitatorium et hymnum cum tribus tantum lectionibus et responsoriis cum Gloria contra omnem ecclesiae morem et, ut dicitur, rationem vos dicere instituistis. Ihr habt eingeführt, dass ihr dort auch das Invitatorium (Eröffnung des Stundengebets) und den Lobgesang mit nur drei Lesungen und die Wechselgesänge mit dem Gloria gegen allen kirchlichen Brauch und, wie man sagt, Vernunft sprecht.
cum enim hoc triduum tamquam exsequiae dominicae in luctu peragatur atque hinc vulgo horum dierum vigiliae nuncupentur tenebrae, quod exstinctis ibi luminaribus moeror hic exprimatur, non mediocriter mirandum videtur vel invitatorium vel hymnum vel Gloria, quae potius gaudii voces sunt, ibi decantari. wenn nämlich diese drei Tage wie das Leichenbegängnis des Herrn in Trauer verbracht werden und von daher die Vigilien dieser Tage gewöhnlich Finsternis genannt werden, weil da diese Betrübnis durch Auslöschen der Lichter ausgedrückt wird, scheint man sich nicht wenig wundern zu müssen, dass da ein Invitatorium oder ein Lobgesang oder ein Gloria, die eher Stimmen der Freude sind, abgesungen werden.
quae omnia cum omnibus in magnam admirationem veniant, cur haec scilicet vestra novitas totius ecclesiae usui apud vos praeferatur nec tamen ab institutione vestra ideo receditis nec quid alii murmurent curatis, quia id rationabiliter vos facere confiditis, quos institutio regulae «novum opus de veteri facere» compellit, sicut de semetipso Hieronymus meminit. Dies alles ruft mit allem großes Staunen hervor, warum nämlich diese eure Neuheit bei euch der Praxis der ganzen Kirche vorgezogen wird und ihr trotzdem nicht deswegen von eurer Einrichtung abgeht und ihr euch nicht darum kümmert, was andere murmeln, weil ihr darauf vertraut, dass ihr das vernunftgemäß macht, die die Grundsätze der Regel antreiben, „aus dem alten Werk ein neues zu machen“, wie Hieronymus über sich selbst erwähnt.
non enim vocum novitates, sed profanas tantum et fidei contrarias apostolus interdicit. Denn nicht Neuheit von Stimmen, sondern nur unheilige und dem Glauben widersprechende untersagt der Apostel.
alioquin novam legem veteri non praeferremus et post canonicas scripturas multa fidei verba necessario inventa haereticorum more respueremus. Andernfalls würden wir nicht das neue Gesetz dem alten vorziehen und würden viele Worte des Glaubens, die nach den kanonischen Schriften notwendigerweise erfunden wurden, nach Art der Häretiker zurückweisen.
ad confutandam quippe novam haeresim novum vocabulum ὁμοούσιον repertum fuit, nec hoc nomen Trinitas et persona canonicis scripturis insertum est. Zur Widerlegung einer neuen Häresie ist ja die neue Bezeichnung homoousion gefunden worden, dieser Begriff Dreifaltigkeit und Person ist jedoch nicht in die kanonischen Schriften eingefügt worden.
denique in divinis officiis quis ignoret diversas et innumeras ecclesiae consuetudines inter ipsos etiam clericos? Wer kennt schließlich nicht bei den Stundengebeten die verschiedenen und zahllosen Gewohnheiten der Kirche auch unter den Geistlichen selbst?
antiquam certe Romanae sedis consuetudinem nec ipsa civitas tenet, sed sola ecclesia Lateranensis, quae mater est omnium, antiquum tenet officium, nulla filiarum suarum in hoc eam sequente, nec ipsa etiam Romani palatii basilica. An der sicherlich alten Gewohnheit des römischen Sitzes hält auch die Stadt selbst nicht fest, sondern nur die Laterankirche, die die Mutter aller ist, hält am alten Stundengebet fest, wobei ihr keine ihrer Töchter darin folgt, auch nicht die Basilika des römischen Palastes selbst.
Mediolanensis metropolis ita in talibus ab omnibus dissidet, ut nulla etiam suffraganearum suarum matris institutionem imitetur. Die Mailänder Metropolie (Kirchenprovinz) steht in solchen Dingen zu allen so in Widerspruch, dass auch keine ihrer Suffragane (Diözesen) die Einrichtung der Mutter nachahmt.[9]
sic et Lugdunensis prima sedes Galliarum sola in suo persistit officio. So verharrt auch die Kirche von Lyon, der erste Sitz der gallischen Provinzen, allein bei seinem eigenen Stundengebet.
et cum tanta in istis facta sit varietas, quidquid una post aliam noviter instituit, nulla reprehensio novitatis incidit, quia nulla fidei contrarietas fuit. Und obwohl in diesen Dinge eine so große Mannigfaltigkeit entstanden ist, widerfuhr kein Vorwurf der Neuheit, weil es keinen Widerspruch zum Glauben gab.
nonnullam enim oblectationem haec divini cultus varietas habet, quia, ut Tullius meminit, identitas in omnibus mater est satietatis. Diese Mannigfaltigkeit des Gottesdienstes bringt nämlich einiges Vergnügen mit sich, weil, wie Tullius erwähnt, Gleichförmigkeit in allen Dingen die Mutter des Überdrusses ist [Cic. inv. 1,76].
qui ergo omnium linguarum generibus praedicari voluit, ipse diversis officiorum modis venerari decrevit. Der also mit den Weisen aller Sprachen verkündigt werden wollte, hat selbst beschlossen auf verschiedene Arten des Stundengebets zu verehren.
qui etiam cum orationem praedictam diversis composuerit modis et in ea utroque modo orandum praeceperit, quomodo praeceptum eius implebimus, si verbum aliquod subtrahere praesumimus et numquam eam eo modo, quo ipsam dixit, proferamus? Wenn er auch das vorher genannte Gebet auf verschiedene Arten zusammengefügt hat, und darin vorgeschrieben hat, dass auf beide Arten gebetet werden muss, wie werden wir seine Vorschrift erfüllen, wenn wir uns herausnehmen, irgendein Wort zu entfernen, und niemals es in der Weise, in der er selbiges sagte, hervorbringen?
denique, ut omnibus satisfaciam, nunc etiam, ut superius dico, «abundet unusquisque in suo sensu», dicat eam, quomodo voluerit. Damit ich schließlich alle zufriedenstelle, sei auch jetzt, wie ich weiter oben sage, „ein jeder völlig überzeugt in seinem Sinn“, er sage es (das Gebet), wie er will.
nemini persuadeo, ut me in hoc sequatur, variet verba Christi prout voluerit. Ich überrede niemanden, mir darin zu folgen, er nuanciere die Worte Christi, wie er will.
ego autem sic illa sicut et sensum, quantum potero, invariata servabo. Ich aber werde jene wie auch den Sinn, soweit ich kann, unverfälscht bewahren.

[1] PL: minus „weniger“, ist sinnstörend
[2] PL: eam, wiederholt orationem hanc?
[3] PL: usu, ein offensichtlicher Fehler
[4] der Codex Iustinianus war eine (ost-)römische Gesetzessammlung des 6. Jh.
[5] PL: fuit
[6] Gregor VII. war 1073-1085 Papst, bekannt vor allem durch seinen Streit mit dem deutschen König Heinrich IV. (Bußgang nach Canossa); der Normanne Guitmund (lat. Wimundus) war 1088-1094 Bischof von Aversa in Kampanien, das seit 1030 Teil einer normannischen Grafschaft war.
[7] Gregor I. war 590-604 Papst; Augustinus war ca. 597-605 erster Bischof von Canterbury (nicht zu verwechseln mit dem Kirchenvater und Bischof von Hippo Regius).
[8] PL: ut
[9] Eine Metropolie oder Kirchenprovinz ist ein Verband von Diözesen (ihr oberster Bischof ist der Metropolit). Ihre Diözesen werden Suffragane genannt. (S. Wikipedia-Art. Metropolit).

Abaelard scheint den griech. Text des Mt nur aus der Sekundärliteratur zu kennen, er konnte offenbar nicht nachsehen, was denn im entsprechenden Text des Lk steht. Und so häuft er Argument auf Argument, um zu zeigen, dass die Version des Mt besser, ursprünglicher, vollkommener ist als die des Lk, weil er nicht weiß, dass die beiden Evangelisten im Griech. dasselbe Wort verwenden. Tatsächlich ist es ja so, dass der in der lat. Liturgie verwendete Text des Vaterunsers älter ist als der Text der Vulgata. Es bleibt anzumerken, dass Abaelard in seiner Auslegung des Vaterunsers (Expositio orationis dominicae) vom überlieferten Text quotidianum ausgeht und kein Wort über supersubstantialem verliert.

Epilog

Hätte ich keine Ahnung, was ἐπιούσιος bedeutet, würde ich so etwas wie „notwendig, das wir brauchen“ vermuten. Es scheint mir naheliegend, dass der Sinn der Bitte ist, Gott möge uns jeden Tag das geben, das wir am jeweiligen Tag brauchen. Denn: „Sorgt euch also nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Genug ist dem Tag sein Übel.“ (Mt 6,34)

Doch wie Lightfoot betont, ist beten etwas anderes als sich sorgen. Wir sollen uns ja überhaupt nicht darum sorgen, was wir essen werden (Mt 6,25.31). Ob allerdings, wie Lightfoot will, ἡ αὔριον hē aúrion „der (Tag) morgen“ wirklich etwas anderes ist als ἡ ἐπιοῦσα hē epioúsa „der (heran)kommende = folgende (Tag)“, sei dahingestellt. Vielleicht muss man auch in Rechnung stellen, dass nach jüdischem Denken ein Tag mit Sonnenuntergang beginnt. Wer um das Brot für den morgigen Tag betet, meint vielleicht, dass er nach getanem Tagewerk am Abend genug zu essen habe.

Seit der Antike wird der Vers von Auslegern gern auf „das Brot des Lebens“ oder „den Leib Christi“ bezogen. Nicht um unsere materiellen Nöte ginge es in dieser Bitte dann, sondern um unsere geistlichen. Andere sehen hier die Bitte um ein „Zukunftsbrot“, d.i. ein endzeitliches Brot, das Gastmahl im Reich des Messias o.ä. Ich vermag das nicht zu sehen.

Die eigentliche Frage ist aber: Was hat die Evangelisten bzw. ihre Quelle bewogen, hier ein neues Wort zu prägen, dessen Bedeutung niemand kennt? Was kann Jesus hier (auf Aram.) gesagt haben, das zu dieser Neubildung geführt hat?


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 24. Dez. 2020