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Vulgata


Vetus Latina

Der Apostel Paulus schrieb seinen Brief an die Christen in Rom oder in Philippi (einer Stadt, die den dort gefundenen Inschriften zufolge überwiegend lateinischsprachig war) auf Griechisch. Er konnte also darauf bauen, dass die Mehrheit seiner Adressaten Griechisch verstand. Doch dürfte man spätestens im 2. Jh. begonnen haben, für die Christen des lateinischen Westens, die des Griechischen nicht mächtig waren, das griechische AT (die LXX), die Evangelien, die Paulusbriefe usw. ins Lateinische zu übersetzen.

Diese frühen Übersetzungen der Bibel ins Lateinische bezeichnet man heute als Vetus Latina „alte lateinische“ (erg. versio „Übersetzung“) oder auch als Itala „italische“.

Im 18. Jh. hat Pierre Sabatier diesen Text zusammen mit dem Text der Vulgata Clementina (s.u.) in drei Bänden herausgegeben. Seit den 1950er Jahren werden die Texte neu herausgegeben von der Erzabtei Beuron (einzelne Faszikel auf Archive.org verfügbar).

Hieronymus' Vulgata

Papst Damasus I. (reg. 366-384) beauftragte 382 Hieronymus (347-420) mit der Überarbeitung der vorhandenen lat. Übersetzungen des NT. 385 verließ Hieronymus Rom (Damasus war inzwischen gestorben) und siedelte sich schließlich in Bethlehem an. Dort machte er sich an die Neuübersetzung einiger Bücher des AT aus dem Griech. Seit 393 arbeitete er an der Übersetzung des ganzen AT aus dem Hebr. Diese Arbeit war 405 abgeschlossen. (Laut dem Wikipedia-Art. Vulgata hat Hieronymus aber nicht aus dem Hebr. übersetzt, sondern wieder nach der LXX bzw. nach der Hexapla des Origines, einer Art antiker Tusculum-Ausgabe. Das Ausmaß an Hebräischkenntnissen, die die Wissenschaft dem Hieronymus zugesteht, schwankt stark.)

Diese lat. Version fand zunächst nur langsam Verbreitung, war aber spätestens seit dem 9. Jh. und dann das ganze Mittelalter hindurch der allgemein verbreitete und verwendete Bibeltext. Daher auch sein Name Vulgata „allgemein verbreitete“.

Von den Psalmen gibt es zwei Versionen. Das Psalterium iuxta Hebraeos „Psalter nahe den Hebräern“ ist die (zumindest dem Namen nach) aus dem Hebr. übersetzte Version des atl. Buches der Psalmen. Das Psalterium Gallicanum „galli(kani)scher Psalter“ hingegen ist der Text der Vetus Latina, korrigiert nach der LXX (oder der Hexapla).

Vulgata Sixto-Clementina

Die Reformation wandte sich bewusst wieder dem hebr. und griech. Urtext zu und machte ihn zur Grundlage ihrer Übersetzungen (Luther, Zürcher, Tyndale). Die katholische Kirche hielt jedoch an der Vulgata fest und erklärte sie im Konzil von Trient 1546 zur verbindlichen Textgrundlage.

Seit 1569 arbeitete eine Kommission an der Verbesserung des Vulgatatextes. Papst Sixtus V. (reg. 1585-1590) ignorierte die Vorarbeiten und Empfehlungen der Kommission und veranlasste 1590 den Druck einer von ihm selbst erstellten Vulgatafassung, der sog. Sixtina.

Diese wurde unter Papst Clemens VIII. (reg. 1592-1605) ab 1592 eingezogen und durch eine in aller Eile erstellten Neufassung, der sog. (Sixto-)Clementina ersetzt. Die Clementina gab sich als Verbesserung der Sixtina, war aber in Wahrheit eine systematische Revidierung der von Sixtus vorgenommenen Änderungen. Wegen der großen Eile enthielt die Clementina viele Druckfehler, die erst mit der 2. Aufl. von 1593 und der 3. Aufl. von 1598 beseitigt wurden.

Nova Vulgata

Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil veranlasste die katholische Kirche eine stilistische und textkritische Neubearbeitung der Vulgata. 1979 erschien die Nova Vulgata.

Aus der Praefatio zu schließen, ging es vorrangig um den Psalter und die lateinische Liturgie. Aber wo findet noch Liturgie auf Latein statt? Die ganz Konservativen halten dafür am alten gallikanischen Psalter fest. Für die Exegese greifen auch katholische Theologen längst auf die griech. und hebr. Urtexte zurück.

Welche Vulgata?

In der griech.-lat. Ausgabe des Nestle/Aland, dem Novum Testamentum Graece et Latine ist (zumindest in der 22. Aufl., die bei mir im Regal steht) der lat. Text offenbar der der Sixto-Clementina. Die hat Eberhard Nestle auch separat herausgegeben, und da zeigt der Buchtitel, um welche Vulgata es geht: Textum Vaticanum.

Für textkritische Belange ist aber nicht die Vulgata vom Ende des 16. Jh. relevant, sondern die des Hieronymus vom 4./5. Jh. Deshalb begann John Wordsworth Ende des 19. Jh., an einer kritischen Ausgabe der Hieronymus-Vulgata zu arbeiten. Wordsworth starb 1911, Henry Julian White führte die Arbeit fort, nach dessen Tod 1934 Hedley Sparks, der das Werk 1954 zum Abschluss brachte. Dies war die Oxforder Vulgata (nur NT).

1907 beauftragte Papst Pius X. den Benediktinerorden mit der Herausgabe einer Hieronymus-Vulgata, die die Grundlage für die Neuerstellung einer lat. Bibel werden sollte. In den 1970er Jahren wurde diese Arbeit durch die Nova Vulgata obsolet. Sie wurde dennoch weitergeführt und das AT 1995 abgeschlossen. Dies war die Benediktinische Vulgata (nur AT).

Robert Weber, einer der Mönche jener Benediktinerabtei, die für die Benediktinische Vulgata verantwortlich zeichnete, gab eine textkritische Edition der Vulgata heraus, die u.a. auf den beiden genannten Vulgaten basierte. Einer der Mitarbeiter Webers war jener Hedley Sparks, der für den Abschluss der Oxforder Vulgata verantwortlich gewesen war. Webers sog. Stuttgarter Vulgata erschien erstmals 1969. Sie ist leider völlig interpunktionsfrei, gliedert stattdessen mit Zeilenumbrüchen, was herkömmlichen editorischen Prinzipien eigentlich widerspricht. Aktuell ist die von Roger Gryson hergestellte 5. Aufl.

Eine weitere Online-Quelle ist die Vulgata, versio BBS von Mark Fuller bei der Bibliotheca Augustana.

Allgemeines
Vulgata Sixto-Clementina
Hieronymus-Vulgata
Nova Vulgata

Textvergleich

Worin unterscheiden sich diese Vulgata-Ausgaben? Hier drei kurze Textvergleiche. Als erste Spalte ist die Vetus Latina beigegeben. Die Quellen:

Ich habe Groß-/Kleinschreibung und Interpunktion der Quellen unverändert übernommen, lediglich Ligaturen (&, æ, œ) habe ich aufgelöst. Dem Text von Weber/Gryson habe ich Interpunktion hinzugefügt.

Gen 1,1-3

Zunächst der Anfang des atl. Schöpungsberichtes:

Vetus Latina Hieronymus Sixto-Clementina Nova Vulgata
Sabatier (archive.org) Weber/Gryson (bibelwissenschaft.de) ibibles.net vatican.va
1 In principio fecit Deus coelum et terram. In principio creavit Deus caelum et terram. In principio creavit Deus caelum et terram. In principio creavit Deus caelum et terram.
2 Terra autem erat invisibilis et incomposita, et tenebrae erant super abyssum: terra autem erat inanis et vacua, et tenebrae super faciem abyssi Terra autem erat inanis et vacua, et tenebrae erant super faciem abyssi: Terra autem erat inanis et vacua, et tenebrae super faciem abyssi,
et Spiritus Dei superferebatur super aquam. et spiritus Dei ferebatur super aquas. et spiritus Dei ferebatur super aquas. et spiritus Dei ferebatur super aquas.
3 Et dixit Deus: Fiat lux. Et facta est lux. dixitque Deus: fiat lux! et facta est lux. Dixitque Deus: Fiat lux. Et facta est lux. Dixitque Deus: “Fiat lux”. Et facta est lux.

Die Vetus Latina ist ganz eindeutig eine Wiedergabe des LXX-Textes: V. 1 fecit = ἐποίησεν, V. 2 invisibilis et incomposita = ἀόρατος καὶ ἀκατασκεύαστος „unsichtbar und unbearbeitet (roh)“. Hebr. תֹּ֫הוּ tohû heißt „Wüste, Einöde; Leeres, Eitles, Nichtiges“. Wie die LXX auf „unsichtbar“ kommt, leuchtet nicht recht ein. Vielleicht ist gemeint, dass es auf der Erde noch nichts zu sehen gab.

Die Sixto-Clementina wiederholt in V. 2 die Kopula (erant, im Hebr. steht keine Kopula an dieser Stelle); ansonsten haben die Vulgata-Versionen wortidenten Text.

Mt 6,9b-13

Das Vaterunser:

Vetus Latina Hieronymus Sixto-Clementina Nova Vulgata
Sabatier (archive.org) Weber/Gryson (bibelwissenschaft.de) ibibles.net vatican.va
9 Pater noster, qui es in coelis: sanctificetur nomen tuum, Pater noster, qui in caelis es, sanctificetur nomen tuum. Pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum. Pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum,
10 Adveniat regnum tuum. veniat regnum tuum. Adveniat regnum tuum; adveniat regnum tuum,
Fiat voluntas tua in coelo, et in terra. fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra. fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra. fiat voluntas tua, sicut in caelo, et in terra.
11 Panem nostrum quotidianum da nobis hodie. panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie. Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie, Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie;
12 Et dimitte nobis debita nostra, et dimitte nobis debita nostra, et dimitte nobis debita nostra, et dimitte nobis debita nostra,
sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. sicut et nos dimisimus debitoribus nostris. sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. sicut et nos dimittimus debitoribus nostris;
13 Et ne passus nos fueris induci in tentationem. et ne inducas nos in temptationem, Et ne nos inducas in tentationem, et ne inducas nos in tentationem,
Sed libera nos a Malo. sed libera nos a malo. sed libera nos a malo. Amen. sed libera nos a Malo.

Das unklare griech. ἐπιούσιος epioúsios in V. 11 gibt die Vetus Latina mit quotidianus „täglich“ wieder. Hieronymus hingegen prägt ein neues Wort: supersubstantialis, das vermutlich (anders als die meisten Wörterbücher behaupten) soviel wie „übernatürlich, himmlisch, geistlich“ heißen soll. (In der Parallelstelle Lk 11,3 hat Hieronymus dasselbe griech. Wort allerdings auch mit cotidianus übersetzt.) Ausführlich zur Frage der Bedeutung von epioúsios s. Unser tägliches Brot.

Von der Wortstellung in V. 9 und V. 13 und dem sachlich irrelevanten Unterschied zwischen veniat und adveniat in V. 10 abgesehen gibt es nur einen nennenswerten Unterschied: Hieronymus hat in V. 12 Perfekt dimisimus, er hat im Griech. offenbar den Aorist ἀφήκαμεν aphḗkamen gelesen (so etwa in den codd. Vaticanus und Sinaiticus). Dieser Lesart geben auch die neuzeitlichen Ausgaben des griech. Urtextes unisono den Vorzug. Die Sixto-Clementina dagegen übersetzt mit Präsens dimittimus, denn die damals maßgeblichen Textausgaben des griech. NT haben das Präsens ἀφίεμεν aphíemen (so in den Hss. des von Nestle sog. Koine-Textes, auch Byzantinischer Texttyp oder Mehrheitstext genannt). Unverständlicherweise folgt die Nova Vulgata hier weiterhin der Sixto-Clementina.

Joh 3,16

Das bekannte Wort Jesu aus dem Gespräch mit Nikodemus:

Vetus Latina Hieronymus Sixto-Clementina Nova Vulgata
Sabatier (archive.org) Weber/Gryson (bibelwissenschaft.de) ibibles.net vatican.va
Sic enim dilexit Deus mundum, ut Filium suum unigenitum daret: sic enim dilexit Deus mundum, ut Filium suum unigenitum daret, Sic enim Deus dilexit mundum, ut Filium suum unigenitum daret: Sic enim dilexit Deus mundum, ut Filium suum unigenitum daret,
ut omnis qui credidit in eum, non pereat, sed habeat vitam aeternam. ut omnis, qui credit in eum, non pereat, sed habeat vitam aeternam. ut omnis qui credit in eum, non pereat, sed habeat vitam aeternam. ut omnis, qui credit in eum, non pereat, sed habeat vitam aeternam.

In der Vetus Latina nicht recht erklärbar ist das Perfekt credidit. Ansonsten kein Unterschied zur Vulgata.

Unterschied nur bei der Wortfolge im Hauptsatz (die Sixto-Clementina hat Subjekt–Prädikat); ansonsten wortident. Man sieht, dass sich die Vulgata-Versionen letztlich nur geringfügig unterscheiden.

1Joh 5,7f

Die Stelle mit dem Comma Johanneum:

Vetus Latina Hieronymus Sixto-Clementina Nova Vulgata
Sabatier (archive.org) Weber/Gryson (bibelwissenschaft.de) ibibles.net vatican.va
tres sunt, qui testimonium perhibent in terra: aqua, sanguis, et caro: et hi tres in nobis sunt. quia tres sunt qui testimonium dant: Quoniam tres sunt, qui testimonium dant in caelo: Pater, Verbum, et Spiritus Sanctus: et hi tres unum sunt. Quia tres sunt, qui testificantur:
Et tres sunt, qui testimonium perhibent in coelo: Pater, Verbum, et Spiritus: et ii tres unum sunt. spiritus et aqua et sanguis; et tres unum sunt. Et tres sunt, qui testimonium dant in terra: spiritus, et aqua, et sanguis: et hi tres unum sunt. Spiritus et aqua et sanguis; et hi tres in unum sunt.

Die Situation bei der Vetus Latina ist unklar. Die Mehrheit der Textzeugen scheint das Comma (in leicht veränderter Form) zu haben, vielfach aber wohl von späterer Hand hinzugefügt. Und die Verse 7 und 8 sind in der Reihenfolge vertauscht.

Das Comma Johanneum (die oben fett ausgezeichneten Worte) taucht zwar bereits bei Kirchenvätern ab dem 4./5. Jh. auf, doch in Handschriften des griech. NT ist es erst sehr spät (14. Jh.?) bezeugt. Hieronymus kannte es offenbar nicht. Die Sixto-Clementina hat es aufgenommen, die Nova Vulgata wieder ausgeschieden. Im übrigen zeigt sich eine leichte Variation in der Wortwahl (quia vs. quoniam, testimonium dant vs. testificantur, tres vs. hi tres, unum sunt vs. in unum sunt).


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 3. Feb. 2025