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Melchisedek
Die Stuttgarter Erklärungsbibel hat zwar sehr gute Erklärungen, ist aber typographisch eine schwarz-weiße Bleiwüste. Daher habe ich mit dem Gedanken gespielt, mir eine „bunte“ Studienbibel zuzulegen. Dazu habe ich verschiedene kürzere Passagen verglichen, u.a. die Geschichte von Melchisedek (Gen 14,18-20).
Eine Koaliton aus vier mesopotamischen Königen hat abtrünnig gewordene Stadtstaaten im Bereich des Toten Meers in einem Kriegszug erobert, ausgeplündert und die Bevölkerung weggeführt (s. Nachforschungen zu Gen 14). Darunter auch Abrams Neffen Lot, der in Sodom wohnte. Als Abram davon erfährt, zieht er mit einer kampferprobten Schar diesem Heer nach, überfällt es (vermutlich nur die Nachhut, die mit dem Transport von Beute und Gefangenen beschäftigt war), schlägt es und nimmt ihm die Kriegsbeute und die Gefangenen wieder ab. Auf dem Rückweg zieht ihm der König von Sodom ins Schawe-Tal entgegen (dies ist das Königstal sagt die Glosse).
18 Und Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester des höchsten Gottes (El-Eljon). 19 Und er segnete ihn, und er sagte: Gesegnet (gepriesen) (sei) Abram vom höchsten Gott, dem Erschaffer von Himmel und Erde. 20 Und gesegnet (gepriesen) (sei) der höchste Gott, der deine Bedrücker in deine Hand ausgeliefert hat. Und er gab ihm den Zehnten von allem.
Als Abram an Šālem vorbeikommt (oder nach Salem hinkommt), bringt der König von Salem Brot und Wein heraus (V. 18), und in seiner Eigenschaft als Priester segnet er Abram (V. 19) und preist seinen Gott (V. 20). Die Melchisedek-Episode unterbricht die Erzählung von der Begegnung Abrams mit dem König von Sodom, weshalb manche sie für einen späteren Einschub halten.
Gesenius/Kautzsch28 verstehen das î in מַלְכִּי־צֶדֶק malkî-ṣædæq als Chireq compaginis zur Verstärkung des Status constructus[1]. Der Name bedeutet dann „König von Gerechtigkeit, gerechter König“ (so auch Hebr 7,2: βασιλεὺς δικαιοσύνης „König der Gerechtigkeit“, ähnlich Ios. ant.Iud. 1,180[2]: βασιλεὺς δίκαιος „gerechter König“). (Vgl. hierzu den dt. Namen Ewald aus ahd. ewa „Recht“ und waltan „herrschen“.) Ähnlich gebildete Namen sind גַּבְרִיאֵל gabrî-ʾel „Mann Gottes“ (גֶּבֶר gæbær „Mann“), pun. (mit tiberiensischer Vokalisierung) חַנִּיבַעַל ḥannî-baʿal (lat. Hannibal) „Baals Gnade“ (חֵן hen(n) „Gunst, Gnade, Anmut“).
Andere deuten das î als Possessivsuffix 1. P. Sg. Das malkî wäre dann wohl ein theophores Element: „mein König (d.h. Gott) ist Gerechtigkeit“. Oder wenn ṣædæq als Eigenname gemeint ist: „mein König ist Zedek“ (wer?). Wieder andere sehen im î ein bedeutungslos gewordenes lautliches Element: „König ist Zedek“. Vgl. ähnlich gebildete Namen wie מַלְכִּיָּה malkijjâ (= malkî-jâ) „(mein) König ist Jah(we)“, אֲדֹנִיָּה ʾadonijjâ „(mein) Herr ist Jah“. Ein König Jerusalems zur Zeit Josuas (Jos 10,1f) hieß אֲדֹנִי־צֶדֶק ʾadonî-ṣædæq, doch löst er das Problem nicht, der Name kann bedeuten „Herr von Gerechtigkeit“ oder „(mein) Herr ist Gerechtigkeit/Zedek“.
Für eine Gottheit namens Zedek habe ich keine Primärquellen gefunden[3]. Doch wird der Name etymologisch wohl identisch sein mit dem gleichlautenden Appellativum für „Gerechtigkeit“, ähnlich der griech. Göttin Δίκη Díkē bzw. ihrem röm. Pendant Iustitia, der Personifikation der Gerechtigkeit. Vgl. auch die akkad. Gottheit kittu(m) „Wahrheit, Gerechtigkeit“, Tochter des Sonnengottes.
Melchisedek ist kanaanitischer Priesterkönig. Dass der Stadtbeherrscher gleichzeitig Priester ist, dürfte in Kanaan nicht ungewöhnlich gewesen sein. (Man vergleiche die Salzburger Erzbischöfe, die ebenfalls geistliches und weltliches Oberhaupt in Personalunion waren.) Im Israel der Königszeit war es aber wohl verpönt. So wird 1Sam 13,7b-14 das Königtum von Saul (zum ersten Mal) genommen, weil er in Abwesenheit Samuels unter Zeitdruck selbst das Brandopfer dargebracht hat.
Melchisedek ist Priester von אֵל עֶלְיֹון ʾel
ʿæljôn „oberster, höchster Gott“. Diese Bezeichnung wird im AT gelegentlich
für den Gott Israels gebraucht. In V.22 setzt Abram ihn mit JHWH gleich.
Vielleicht liegt hier aber so etwas wie eine „interpretatio Hebraica“ vor,
denn die Bezeichnung El-Eljon ist reichlich unspezifisch. Die
Cultural Backgrounds Study Bible (s.o.)
wagt daher die (für ein konservatives Kommentarwerk mutige) Behauptung:
Since El Elyon can designate a Canaanite god, we have no reason to think
of Melchizedek as a worshiper of Yahweh or even as monotheistic. It is Abram
who identifies El Elyon as Yahweh.
Geschichtlich betrachtet ist El ein alter kanaanäischer Gottesname, dem offenbar Epitheta hinzugesetzt wurden, um bestimmte Erscheinungsweisen der Gottheit zu beschreiben: neben ʾel ʿæljôn gibt es im AT z.B. אֵל שַׁדַּי ʾel šaddaj (unerklärt, meist übersetzt als „allmächtiger Gott“) (Gen 17,1), אֵל עֹולָם ʾel ʿôlām „ewiger Gott“ (Gen 21,33), אֵל רֳאִי ʾel rŏʾî „Gott des Sehens“ (d.h. der alles sieht oder auch der sich sehen lässt, jedenfalls zu unterscheiden vom folgenden רֹאִי roʾî „mich sehend, der mich sieht“) (Gen 16,13), אֵל אֱלֹהֵי יִשְׂרָאֵל ʾel ʾælohê jiśrāʾel „Gott Gott-Israels“ (Gen 33,20), אֵל בֵּית־אֵל „Gott des Gotteshauses, Gott von Bethel“ (Gen 35,7). Vgl. hierzu die zahlreichen Erscheinungsweisen des griech. Zeus, etwa als Ζεὺς ξείνιος „gastfreundlicher Zeus“ (d.h. Schützer des Gastrechts), Ζεὺς ὅρκιος „eidlicher Z.“ (d.h. Beschützer des Eides), Ζεὺς χθόνιος „unterirdischer Z.“ (d.h. Gott der Unterwelt), Ζεὺς Λυκαῖος „lykäischer Z.“ (d.h. des Lykaion-Gebirges in Arkadien), Ζεὺς Ἄμμων Z. gleichgesetzt mit dem ägypt. Gott Amun, u.v.a.m.
Den Umstand, dass wir von Melchisedeks Herkunft nichts erfahren, interpretiert Hebr 7,3 nach frühjüdischer Auslegungspraxis so, dass er ἀπάτωρ ἀμήτωρ ἀγενεαλόγητος „vaterlos, mutterlos, stammbaumlos“ sei (d.h. wohl, dass niemand wusste, woher er stammt). Darin ist er eine Präfiguration des Messias (ἀφωμοιωμένος δὲ τῷ υἱῷ τοῦ θεοῦ „ähnlich geworden dem Sohn Gottes“), von dem zumindest gewisse jüdische Kreise Ähnliches erwarteten (Joh 7,27: „wenn aber der Messias kommt, weiß keiner, wo er her ist“).
שָׁלֵם šālem wird meist mit Jerusalem gleichgesetzt[1], so schon Ps 76,3: „Und in Salem war (oder entstand) seine (= Gottes) Hütte, und seine Wohnung in Zion“. So auch Ios. ant.Iud. 1,180 (s.o.): „Solyma (Salem) nun aber nannte man später Hierosolyma (Jerusalem)“. Hier wird daher auch das Schawetal zu suchen sein[2][3], das V.17 erwähnt wird. Das Adj. šālem bedeutet „unversehrt, heil, friedlich“, das Subst. šālôm „Unversehrtheit, Wohlergehen, Frieden“. Daher kann Hebr 7,2 behaupten, βασιλεὺς Σαλήμ (so die griech. Wiedergabe der LXX) „König von Salem“ bedeute so viel wie βασιλεὺς εἰρήνης „König des Friedens“. Das ist natürlich eine theologische Deutung, keine historische Erklärung.
Zwar nennt Ri 19,10 die Stadt יְבוּס jebûs, und mehrmals (z.B. Jos 15,63; 2Sam 5,6) erfahren wir, dass seine Bewohner Jebusiter waren. Aber der Name Jebus war, wenn er wirklich gebräuchlich war, wohl eine (abwertende?) Bezeichnung der eingewanderten Israeliten. In den Amarnabriefen (14. Jh. v.Chr.) heißt die Stadt Urusalim (ú-ru-sa-lim)[4].
Der engl. Wikipedia-Art. behauptet[5], William F. Albright lese statt „König von Salem“ mit dem samaritanischen Pentateuch מלך שלמו „König seines Friedens“ (soll heißen: „mit ihm verbündeter König“). Doch finde ich in August Galls Ausgabe des samaritanischen Pentateuchs von 1914[6] keinen Hinweis auf eine solche Lesart. Handelt es sich vielleicht um eine Konjektur? (Stefan Schorchs Ausgabe der Genesis von 2021 war mir leider nicht zugänglich.)
Der hebr. Text von Gen 33,18 וַיָּבֹא יַעֲקֹב שָׁלֵם עִיר שְׁכֶם wird meist verstanden als: „und Jakob kam unversehrt (šālem) zur Stadt Sichem“. Doch Hugo Winckler paraphrasiert[7]: „er kam nach Salem, der stadt Sichems“. Auch die LXX gibt die Passage so wieder: εἰς Σαλημ πόλιν Σικιμων[8] „nach Salem, der Stadt von Sikima (= Sichem)“. Daraus entstand eine Tradition, die Salem mit Sichem gleichsetzt. Diese ist Bild geworden in der Mosaikkarte von Madaba, auf der einem Ort folgende Legende beigesetzt ist[9]: Συχεμ ἡ ϗ Σικιμα ϗ Σαλημ „Sychem, das auch Sikima und Salēm (heißt)“.
Eine andere Lokalisierung verdankt sich
Joh 3,23, wo
gesagt wird, „auch Johannes taufte, in Ainon, nahe von Salim (ἐν
Αἰνὼν ἐγγὺς τοῦ Σαλίμ (Σαλείμ)), weil dort viel Wasser war“.
Auch dieser Ort findet sich auf der Karte von
Madaba[10]:
Αἰνων ἡ ἐγγὺς τοῦ Σαλημ [ἡ ϗ] Σα[λουμιας] „Ainōn, das
nahe bei Salēm (ist) [und auch] Sa[lumias] (heißt)“.
Allerdings kennt die Karte von Madaba auch ein Ainon auf
der Ostseite des Jordans[11]:
Αἰνων ἔνθα νῦν ὁ Σαπσαφας „Ainōn, wo jetzt Sapsaphas
(liegt)“; auf der anderen Jordanseite liegt[12]:
Βεθαβαρα τὸ τοῦ ἁγίου Ἰωάννου τοῦ βαπτίσματος „Bethabara,
der (Ort) der Taufe des heiligen Johannes“. Bethabara (oder eher Ainon) ist
wahrscheinlich das Joh 1,28
genannte „Bethanien jenseits des Jordans, wo Johannes taufte“.
Nestle/Aland25 schreiben noch Σαλίμ, die
UBS3 (= Text von NA26) hat Σαλείμ.
Σαλείμ und Σαλίμ sind nur
itazistische Schreibvarianten für Σαλημ. In ntl. Zeit
wurden alle drei salim ausgesprochen.
Hieronymus bestreitet (epist. 73,7f[13]) explizit, dass es sich bei Salem um Jerusalem handelt, vielmehr sei es ein Ort nahe Sichem. Allerdings ist seine Begründung für mich nicht nachvollziehbar.
7. Salem autem non, ut Josephus et nostri omnes arbitrantur, est Jerusalem, nomen ex Graeco Hebraicoque compositum, quod absurdum esse, peregrinae linguae mixtura demonstrat: sed oppidum juxta Scythopolim, quod usque hodie appellatur Salem, et ostenditur ibi palatium Melchisedech, ex magnitudine ruinarum veteris operis ostendens magnificentiam: de quo in posteriore quoque parte Geneseos scriptum est. Venit Jacob in Socoth, id est, in tabernacula, et fecit sibi ibi domos atque tentoria, et transivit in Salem civitatem regionis Sichem, quae est in terra Chanaan. Salem aber ist nicht, wie Josephus und alle Unsrigen glauben, Jerusalem, [und ist nicht?] ein aus dem Griechischen und Hebräischen zusammengesetzter Name; dass das ungereimt ist, zeigt die Mischung der fremden Sprache. Sondern eine Ortschaft nahe Skythopolis (Beth Schean), die bis heute Salem genannt wird, und dort wird der Palast des Melchisedek gezeigt, der aufgrund der Größe der Ruinen die Pracht eines alten (Bau-)Werks zeigt. Worüber auch an einer späteren Stelle der Genesis geschrieben worden ist. Jakob kam nach Sukkot, das heißt zu den „Hütten“, und machte sich dort Häuser und Zelte, und er ging hinüber nach Salem, einer Stadt des Gebietes von Sichem, das im Land Kanaan ist. (Gen 33,17f). 8. Considerandum quoque est, quod Abrahae a caede hostium reverteni – quos persecutus est usque Dan, quae hodie Paneas appellatur – non devia Jerusalem, sed oppidum metropoleos Sichem in itinere fuerit: de quo in Evangelio quoque legimus: Erat autem Joannes baptizans in Ennon juxta Salim, quia aquae erant multae ibi. Nec refert, utrum Salem an Salim nominetur, cum vocalibus in medio litteris perraro utantur Hebraei, et pro voluntate lectorum ac varietate regionum eadem verba diversis sonis atque accentibus proferantur. Man muss auch in Betracht ziehen, dass für den vom Niederhauen der Feinde zurückkehrenden Abraham – die er bis nach Dan verfolgt hat, das heute Paneas genannt wird – nicht das abwegige Jerusalem, sondern eine Ortschaft der Mutterstadt Sichem auf dem Weg lag: worüber wir auch im Evangelium lesen: Johannes aber taufte in Ainon, nahe Salim, weil dort viele Wasser waren. (Joh 3,23) Es spielt auch keine Rolle, ob es Salem oder Salim benannt wird, da die Hebräer in der (Wort-)Mitte sehr selten Vokalbuchstaben gebrauchen und nach dem Wollen der Leser und der Verschiedenheit der Gebiete dieselben Wörter mit unterschiedlichen Lauten und Betonungen hervorgebracht werden.
Dass der Name Jerusalem „aus dem Griechischen und Hebräischen zusammengesetzt“ sei (gemeint wohl gr. Hiero- „heilig“ und hebr. Salem „unversehrt, Friede“) ist eine seltsame Behauptung. Oder will Hieronymus auch diese Ansicht kritisieren? Auch der Behauptung, Jerusalem liege nicht auf dem Rückweg von Dan (nach Hebron), Sichem aber schon, wird von den neuzeitlichen Auslegern widersprochen. Die sog. Bergstraße nach Hebron (wo Abram zu dieser Zeit lebte) führte sowohl an Sichem als auch an Jerusalem vorbei.
In seiner Übersetzung von Eusebius' Onomastikon (onomast. 152,4ff[13]) verweist Hieronymus auf ein Dorf namens Salumias, 8 Meilen von Skythopolis entfernt, das auch nach Josephus das Salem Melchisedeks gewesen sein soll.
Salem civitas Sicimorum quae est Sychem. sed et alia villa ostenditur usque in praesentem diem iuxta Aeliam contra occidentalem plagam hoc nomine. in octavo quoque lapide a Scythopoli in campo vicus Salumias appellatur. Iosefus vero Salem esse affirmat in qua regnavit Melchisedec, quae postea dicta est Solyma, et ad extremum Ierosolymae nomen accepit. Salem, Stadt von Sikima, das Sichem ist. Aber auch ein anderes Dorf wird bis auf den heutigen Tag nahe Aelia (= Jerusalem) gegen den westlichen Himmelsstrich zu unter diesem Namen gezeigt. Auch am achten Meilenstein von Skythopolis wird ein Dorf in der Ebene Salumias genannt. Josephus aber bestätigt, dass es das Salem ist, in dem Melchisedek geherrscht hat, welches später Solyma geheißen worden ist und schließlich den Namen Ierosolyma bekommen hat.
Wieder ist unklar, worauf Hieronymus hinauswill. Denn Josephus identifiziert zweifelsohne Salem mit der Davidssstadt. Und wann wäre das Salem bei Skythopolis jemals Ieorosolyma genannt worden? Oder macht sich Hieronymus (bzw. Eusebius) hier doch für Jerusalem als Stadt Melchisedeks stark?
Aus dem noch erhaltenen Text von Eusebius' Onomastikon (onomast. 40ff[14]) erfahren wir, dass dieses Salem mit dem Joh 3,23 genannten identisch ist.
Αἰνών. »ἐγγὺς τοῦ Σαλείμ«, ἔνθα ἐβάπτιζεν Ἰωάννης, ὡς ἐν τῷ κατὰ Ἰωάννην Εὐαγγελίῳ. καὶ δείκνυται εἰς ἔτι νῦν ὁ τόπος ἀπὸ ηʹ σημείων Σκυθοπόλεως πρὸς νότον πλησίον Σαλεὶμ καὶ τοῦ Ιορδάνου. Ainon. »Nahe von Salim«, wo Johannes taufte, wie im Evangelium nach Johannes (geschrieben). Und bis jetzt noch wird der Ort gezeigt, acht Meilensteine von Skythopolis nach Süden hin nahe Salim und dem Jordan.
Wir haben also im Wesentlichen drei Lokalisierungen:
Einen nachvollziehbaren Sinn bekommt die Geschichte aber nur, wenn man sie in Jerusalem verortet (s. den folgenden Abschnitt).
Melchisedek bringt Brot und Wein heraus. Ios. ant.Iud. 1,181 (s.o.) interpretiert dies als eine Bewirtung (ξένια): „dieser Melchisedek gewährte dem Heer Abrams gastliche Bewirtung und bot eine große Menge an Lebensmitteln dar“. So paraphrasiert August Dillmann: „Dorthin brachte Melkiṣedeḳ […] Lebensmittel für Abr. und dessen Leute heraus“. Doch warum erfolgt diese Bewirtung heraußen vor der Stadt? Es dürfte sich doch eher um ein Ritual handeln. Otto Procksch wird wohl das Richtige treffen, wenn er sagt: „Mit Speise und Trank begegnet man dem hungrigen Flüchtling (cf. Jes. 21, 14), aber auch dem siegreichen Helden, dem statt Wassers der Wein zukommt. Es ist hier ein Akt der Verehrung und edeln Sitte.“
In der christlichen Ikonographie werden Brot und Wein nicht selten (z.B. in zwei Mosaiken in Ravenna) als eine Opferhandlung dargestellt, die wohl bewusst wie eine Eucharistie aussieht.
Warum ist Melchisedek überhaupt an Abram interessiert? Betrachtet er ihn als militärisch ernstzunehmenden Player im Ringen um die Macht? Soll man annehmen, dass Melchisedek der Landesherr von Mamre, Aner und Eschkol (der Verbündeten Abrams im Kampf gegen die mesopotamischen Könige) war, sein Herrschaftsbereich sich also bis nach Hebron erstreckte? Oder was sonst hat er mit Abrams siegreichem Feldzug zu schaffen?
Wer gibt wem was? Allgemein wird der Satz so verstanden, dass Abram dem Melchisedek den Zehnten von der ganzen Beute gibt. So versteht es wohl Hebr 7,4: δεκάτην […] ἐκ τῶν ἀκροθινίων „den Zehnten von den Erstlingen“ (d.h. von den besten Beutestücken); so auf jeden Fall Josephus: τὴν δεκάτην τῆς λείας „den Zehnten der Beute“. Doch das steht in Spannung zu V. 23, wo Abram dem König von Sodom schwört, dass er nicht einmal einen Schuhriemen von der Beute für sich nehmen werde. Also ist vielleicht doch gemeint: von all seinem persönlichen Besitz.
Viele Ausleger nehmen an, die Geschichte sei als Rechtfertigung für die Tempelsteuer (Num 18,21. 24) gedacht, indem sie auf Abra(ha)m zurückgeführt wird, der dem Priester von Salem den Zehnten gibt. Procksch: „Wenn Abram dem Priesterfürsten von Jerusalem zehntet, so geschieht vorbildlich, was Abrams Same dem Priesterfürsten von Jerusalem tun soll. […] In Malkiṣedeḳ ist der Hohepriester typisch vorgebildet, auf den nach dem Exil die fürstlichen Insignien übergingen (Sach 3, 8. 6, 9 ff.), der im Namen Jahves den Zehnten empfing (Lev 27, 30 ff.).“
Theologisch bedeutsam wird die Episode durch Ps 110,4, wo Gott dem König zuspricht:
JHWH hat geschworen und er bereut es nicht: du (bist) Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks.
דִּבְרָה dibrâ heißt „Anliegen, Sache“ (Hi 5,8), עַל־דִּבְרַת ʿal-dibrat bedeutet „wegen“ (Pred 3,18; 8,2). Versteht man das -î in ʿal-dibrātî als Personalsuffix, würde die Wendung „wegen mir, um meinetwillen“ bedeuten. Melchisedek könnte dann asyndetische Weiterführung des mit „du“ begonnenen Nominalsatzes sein: „(du bist) um meinetwillen Melchisedek“. Aber welchen Sinn hat das? Wegen der antiken Versionen (z.B. LXX κατὰ τὴν τάξιν Μελχισεδεκ „nach der Ordnung/Klasse Melchisedeks“) fasst man das -î als Chireq compaginis; Melchisedek ist dann der Gen. zu ʿal-dibrātî, das hier soviel heißen müsste wie „nach Art von, wie“.
Der Psalmen-Targum[1][2] versteht malkî-ṣædeæq nicht als Eigennamen, sondern übersetzt es als „gerechter König“ (und macht aus dem Priester einen Rabbi): דאנת מתמני לרבא לעלמא דאתי בגין זכותא דהויתא מלך זכי „dass du eingesetzt worden bist zum Lehrer für die kommende Welt wegen der Tugend, dass du ein gerechter König warst“[3]. So hat es auch der Tanakh des Jewish Publication Service (JPS) übersetzt: „You are a priest forever, a rightful king by My decree.“[4]. Zunz/Sachs[5] und die Übersetzung des JPS von 1917[6] bleiben bei der Version der LXX.
Der König hatte in Israel keine reguläre priesterliche Funktion. Priester mussten Aaroniten (aus dem Stamm Levi) sein (Ex 28,1). Die Könige in Jerusalem waren Davididen (aus dem Stamm Juda), konnten also schon von daher nicht Priester sein. „Nach der Weise Melchisedeks“ bedeutet also: nicht nach der Weise Aarons und seiner Söhne, sondern wie Melchisedek, der auch zugleich König und Priester war, unmittelbar von Gott eingesetzt. Dieses Priestertum findet aber darüber hinaus keine Erwähnung im AT.
Der Hebräerbrief nimmt auf diesen Psalm mehrmals Bezug (Hebr 5,6 .10; 6,20; 7), sieht er doch in Ps 110,4 einen prophetischen Hinweis auf Jesus. Dieser ist in einzigartiger Weise ein Hoherpriester geworden, aber eben ein Priester nach der Weise Melchisedeks. Hebr 7 stellt dem aaronitischen Priestertum des alten Bundes dieses Priestertum Jesu gegenüber. Für Hebr ist das aaronitische Priestertum durch Jesus überflüssig geworden.
Die Wirkungsgeschichte und literarischen Verästelungen der Melchisedek-Gestalt im außerbiblischen jüdischen Schrifttum und in der frühchristlichen und patristischen Literatur ist im WiBiLex-Artikel (s.o.) detailliert nachgezeichnet. Hier nur ein paar Hinweise.
Das aram. Genesis-Apokryphon, eine Nacherzählung der Erzvätergeschichten (die Abrahams-Geschichte in 1Q20 = 1QapGen/1QGenAp[1][2]), zwischen dem 3. und 1. Jh. v. Chr. entstanden, ist in der Melchisedek-Episode eine Übersetzung des biblischen Textes mit nur wenigen Ergänzungen. Dazu gehört einerseits: מאכל ומשתה לאברם ולכול אנשא די עמה „(Melchisedek brachte heraus) Speise und Trank dem Abram und allen Menschen, die mit ihm (waren)“ (also eine Verköstigung); und andererseits: מן כול נכסיא די מלך עילם וחברוהי „(Abram gab ihm den Zehnten) von allem Besitz des Königs von Elam und seiner Gefährten“. (Aber da Abram keinen Kriegszug nach Mesopotamien oder Iran unternommen hat, kann letztlich nur die zurückeroberte Kriegsbeute des Königs von Elam gemeint sein).
Die Vision des ʿAmram (4QAmram) ist eine priesterliche Apokalypse aus dem 2. Jh. v.Chr. Darin schaut Amram aus dem Stamm Levi zwei Engel[3], einen Engel der Finsternis, der בליעל Belial (masoret. belijjáʿal „Schlechtigkeit, Verderben“) und מלכי רשע malkî rešaʿ „König der Bosheit“ heißt, und einen Engel des Lichts, dessen Namen מיכאל Michael (wohl der bibl. Erzengel) und מלכי צדק Melchisedek sind. Doch ist der Name Malkiṣedeq wohl nur als Gegensatz zu Malkirešaʿ gedacht (Gerechtigkeit vs. Schlechtigkeit). Ein Bezug zum Priesterkönig von Gen 14 ist nicht erkennbar.
Das sog. Melchisedek-Dokument (11QMelch = 11Q13[4]) ist ein nur fragmentarisch erhaltener hebr. Text aus dem 1. Jh. v.Chr. Er enthält eine auf die Endzeit bezogene Auslegung zu den Bestimmungen des Erlassjahres in Lev 25,13 und Dtn 15,2, verbunden mit Jes 61,1. Melchisedek scheint eine Art endzeitlicher Richter zu sein (der Elohim von Ps 82,1), der am Versöhnungstag des zehnten Erlassjahres Menschen aus der Hand Belials befreien (?) und Belial vernichten wird. Anscheinend wird er auch gleichgesetzt mit dem Friedensboten von Jes 52,7 und dem Gesalbten aus Dan 9,25. Ob diese Gestalt noch etwas mit dem Melchisedek von Gen 14 zu tun hat, ist umstritten.
Manche Theologen projizieren diese Vorstellungen von einem himmlischen
Melchisedek (wie ich glaube, zu Unrecht) auch auf den Hebräerbrief. So sagt
die Cultural Backgrounds Study Bible (s.o.):
The author of Hebrews is not drawing his information on Melchizedek solely
from the OT; he is also interacting with the traditions known to his audience.
Nur: welche Traditionen kannten die Leser des Hebr? Hebr beruft sich nur auf
Gen 14 und mehrmals auf Ps 110,4. Andere Traditionen sind nicht zu erkennen.
Darf man den griechischsprachigen, vermutlich heidenchristlichen Lesern des
Hebr die Kenntnis der hermetischen hebr. und aram. Texte von Qumran zutrauen?
Ich habe da starke Zweifel.
Das Slawische Henochbuch (auch als 2. Henoch bezeichnet) ist die kirchenslaw. Übersetzung einer ursprl. auf Griech. geschriebenen, nicht mehr erhaltenen, apokalyptischen Schrift, vermutlich des 1. Jh. n.Chr. Es enthält fünf Kapitel[1][2], die in den Ausgaben entweder ganz fehlen oder als Anhang (mit eigener Kapitelzählung, Kap. 1-5 = 2Hen 69-73) geführt werden. Darin geht es um die pränoachitischen Priester Methusalem und Nir und um einen vaterlos gezeugten mysteriösen Knaben von Nirs Frau, einen Melchisedek. Dieser trägt bereits das Siegel des Priestertums und wird von Nir und Noah in priesterliche Gewänder gekleidet. Nach 40 Tagen wird er vom Erzengel Michael vor der Sintflut in das Paradies entrückt. Michael aber verkündet dem Nir, dass nach zwölf Generationen ein anderer Melchisedek Priester werden wird in Salem nach dem Bilde des Melchisedek-Knaben. Und nach weiteren zwölf Priestergenerationen wird der große Führer kommen (d.h. vermutlich Christus). Diese reichlich verworrene Geschichte mag das Ergebnis einer christlichen Überarbeitung einer an sich schon merkwürdigen jüdischen Erzählung sein.
In der gnostischen Schrift namens Pistis Sophia, die nur noch in einer koptischen Version vorliegt (das griech. Original stammt wohl aus dem 2. oder 3. Jh.), ist ⲙⲉⲗϫⲓⲥⲉⲇⲉⲕ melčisedek der ⲡⲁⲣⲁⲗⲏⲙⲡⲧⲱⲣ ⲛ̄ⲟⲩⲟⲉⲓⲛ paralēmptōr ᵉn-ouoein „Empfänger (?) des Lichts“ und ⲣⲉϥⲥⲱⲧⲃ̄ ⲛ̄ⲟⲩⲟⲉⲓⲛ refsōtᵉb ᵉn-ouoein „Reiniger des Lichts“ (zwei der zahllosen gnostischen Titel, die bedeutungsvoll klingen sollen, aber häufig nur Wortgeklingel sind). Er hat eine kosmische Aufgabe: er reinigt das Licht und die Kräfte der Archonten und trägt es zum Lichtschatz (z.B. Kap. 25f.[3][4]), woraus dann Seelen gemacht werden. Später wird er dann ⲍⲟⲣⲟⲕⲟⲑⲟⲣⲁ ⲙⲉⲗϫⲓⲥⲉⲇⲉⲕ zorokothora melčisedek genannt (noch so ein Name). Er ist somit eine Art transzendente Erlösergestalt, kein Mensch.
Ein Zweig der Überlieferung legt Wert darauf, dass Melchisedek kein Kanaaniter (und damit ein Nachkomme Hams) war, sondern ein Nachfahr Sems oder sogar Sem selber. So z.B. eine syrische Legendensammlung des 6. Jh. n.Chr., die mit dem Titel Schatzhöhle zitiert wird[5]. Darin wird erzählt, dass Sem von seinem sterbenden Vater Noah den Auftrag bekommt, den Leichnam Adams (der in der Arche mitgenommen worden war) zum Mittelpunkt der Erde zu bringen (wir ahnen es: es ist das spätere Jerusalem oder noch genauer Golgatha) und dort zu bestatten. Dazu soll er Melchisedech mitnehmen und ihn dann dort wohnen lassen. Melchisedech wird dann eine Art Nasiräer, der dem allerhöchsten Gott Brot und Wein als unblutige Opfer darbringt (Bezold S. 26-29). Später kommen dann zwölf Könige dorthin und bauen dem Melchisedech die Stadt Jerusalem (S. 36). In diesem Zusammenhang wird dem Glauben entgegengetreten, dass Melchisedech kein Mensch gewesen sei, sondern Gott (S. 36f) (wohl eine Spitze gegen gnostische Vorstellungen).
Schon der Targum (Pseudo-)Jonathan setzt in seiner Wiedergabe von Gen 14,18[6] Malkisedek mit Sem gleich: וּמַלְכָּא צַדִיקָא הוּא שֵׁם בַּר נחַ מַלְכָּא דִירוּשְׁלֶם נָפַק „und Malkâ Zadîqâ (d.h. gerechter König), er war Sem, Sohn Noahs, König von Jerusalem, kam heraus“. Ganz ähnlich auch der Targum Neofiti[7].
Im Talmud-Traktat Nedarim 32b[8] wird gesagt, Gott habe das Priestertum von Melchisedek genommen und es auf die Nachkommen Abrahams übertragen. Denn Melchisedek habe zuerst Abram gesegnet, dann erst Gott; dafür habe Abram den Priester gerügt. Darin spiegelt sich, dass im Judentum der biblische Melchisedek keineswegs nur die Lichtgestalt ist, als die ihn das Christentum seit Hebr sieht. Vielleicht auch als Reaktion genau darauf.
Im Judentum spielt Melchisedek letztlich keine Rolle. Vielleicht deshalb kann mit dieser Figur literarisch sehr frei umgegangen werden. Im Christentum ist Melchisedek wichtig als Argument, warum es das aaronitische Priestertum nicht mehr braucht. Auch das Judentum kommt heute ohne aaronitisches Priestertum aus, aber nicht, weil es sich dazu entschieden hat, sondern weil es von den Zeitläuften dazu gezwungen wurde.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 11. Feb. 2023