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Einleitung ins Markusevangelium


Die Beschäftigung mit diesem Thema ist im Rahmen eines Hausbibelkreises entstanden. Ich bin kein Theologe, sondern theologisch interessierter Laie; als Philologe ist mir natürlich der Umgang mit antiken Texten nicht fremd.

Die Sekundärliteratur, auf die ich mich im folgenden beziehe:

Für den Text des griech. NT habe ich benutzt:

Spoiler

Um die conclusio vorwegzunehmen: die Tradition, daß Johannes Markus der Verfasser des MkEv ist, dürfte einigermaßen zuverlässig sein. Über Ort und Zeit der Abfassung wissen wir nichts Genaues; Rom oder Syrien, vor oder nach 70: nichts kann eindeutig ausgeschlossen werden. Der sog. lange Mk-Schluß ist höchstwahrscheinlich unecht.

Weltanschauliche Vorentscheidung

Die Einleitungswissenschaft beschäftigt sich mit der Frage der Entstehung der biblischen Schriften: Zeit und Ort der Abfassung, Urheber, Zielpublikum, Quellen, Überarbeitungen usw. Es ist klar, daß bei diesen Fragen viel auf dem Spiel steht: Sind die Evangelien frühe Augenzeugenberichte aus der Feder der Apostel selber? Oder sind sie späte Kompilationen von schriftlich oder mündlich umlaufenden Legenden, verfasst von Epigonen, die Jesus nur vom Hörensagen kannten?

Genau zwischen diesen beiden Positionen wogt ein Richtungsstreit. Es geht um nicht weniger als um die Frage, welchen Anspruch an Glaubwürdigkeit die Evangelien erheben können. Sind sie Augenzeugenberichte, dann kann man das, was sie über Jesus erzählen, nicht so ohne weiteres als Kerygma[1] abtun. Sind sie es nicht, dann kann man nicht mehr unbedarft an Jesus als Erlöser der Welt glauben. Soviel steht offenbar auf dem Spiel, daß sich hochintelligente Menschen zu kuriosen Zirkelschlüssen und blamablen Fehlurteilen oder apodiktischen Behauptungen und tertullianischem „credo quia absurdum“ hinreißen lassen.

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft. Jeder, der beginnt Wissenschaft zu betreiben, hat für sich schon weltanschauliche Vorentscheidungen getroffen: ob es einen persönlichen Gott gibt, der zu uns Menschen spricht, oder nicht; ob es Wunder gibt oder nicht; ob eine Auferstehung Jesu denkbar ist oder nicht. Praktisch alle wissenschaftlichen Untersuchungen untermauern daher nur, was der Wissenschaftler schon vorher gewußt hat. Das Ergebnis steht von vornherein fest und alle Argumente führen zu diesem Ziel.

Dieser Voreingenommenheit kann man vermutlich nicht entkommen. Man kann sie sich nur bewußt machen und in der Diskussion die Karten von vornherein auf den Tisch legen (über die ethische Qualität des Denkens s. Warum wir glauben, was wir glauben.) Das will ich hiermit tun: Ich möchte, daß das, was die Evv über Jesus berichten, wahr ist; nicht wahr in einem „höheren“ Sinn, sondern einfach historisch wahr. Daher halte ich die radikale Skepsis der akademischen Theologie für falsch. Daher glaube ich: wenn es keine reale geschichtliche Erfahrung der Jünger mit Jesus gab, gab es auch keine begründete heilsgeschichtliche Erkenntnis der Jünger über Jesus. Hat Jesus nicht Brot vermehrt, konnte er auch schwerlich als Brot der Welt erkannt werden. Ist Jesus nicht wirklich auferstanden, gab es keinen Grund, ihn für die Auferstehung und das Leben zu halten. Ohne Geschichte keine Heilsgeschichte.

Wer andersherum argumentiert - weil Argument X und Argument Y, darum glaube ich (nicht) an die historische Zuverlässigkeit der Evv - lügt sich in 9 von 10 Fällen ins eigene Hemd.

Methodik

Ein Problem in der Diskussion ist, daß gar nicht über die Methoden diskutiert wird. Es wird meist so getan, als seien diese unstreitig. Vielleicht ist vielen Theologen gar nicht klar, daß über das Methodeninventar selbst verhandelt werden muß.

In einer Gerichtsverhandlung gibt es drei Arten von Beweisen. Bei Einleitungsfragen gibt es genau dieselben drei Kriterien:

Die Gewichtung dieser drei Kriterien ist zwischen den beiden Parteien wiederum umstritten: Die Partei derer, die möchten, daß die Evangelien Augenzeugenberichte sind (nennen wir sie Apologeten), beruft sich meist auf die ersten beiden. Diejenigen, die möchten, daß die Evangelien nur Legenden, bloßes Kerygma sind (nennen wir sie Kritiker), bestreiten meist die Richtigkeit von Selbstzeugnis (Pseudepigraphie) oder äußerer Bezeugung und argumentieren vor allem mit Indizien (Sprache, Stil, inhaltliche Widersprüche usw.).

Friedrich BLASS in seinem schon angejahrten, aber meines Erachtens noch immer gültigen Artikel im Handbuch der class. Altertumswissenschaften im Abschnitt „Kritik des Echten und Unechten“ (S. 289ff) gewichtet so:

  1. Äußere Bezeugung
  2. Innere Gründe
    1. historische
    2. sprachliche
    3. misslichere (technische, Gedanke, Inhalt)

Kritik geht nach BLASS immer von einem Anstoß aus, indem wir entweder etwas nicht verstehen oder zwar verstehen, aber eine Inkongruenz empfinden, und wir in beiden Fällen meinen, daß der Anstoß nicht in unserer mangelnden Kenntnis begründet ist (S. 249). Ein Zweifeln um des Zweifeln willens hat mit wissenschaftlicher Kritik nichts zu tun.

„Am höchsten an Beweiskraft stehen natürlich die eigenen Bezeugungen des Autors, der sich ja oftmals auf andere Schriften von sich bezieht.“ (S. 290) BLASS meint wohl Selbstbezeugungen der Art „wie ich bereits in meinem Buch XY geschrieben habe“. Hingegen konnte ich keine Bewertung der Art „Thukydides von Athen hat dies verfaßt“ finden. (Wenn ich von Selbstzeugnis rede, meine ich immer diese letztere Art.)

„Die gewichtigsten fremden Zeugnisse aber sind die aus solcher Nähe und persönlichen Bekanntschaft, dass ein Irrtum ausgeschlossen erscheint“ (S. 290). „[...] so hat andererseits ein Verhör von noch so vielen späten Zeugen [...] noch keine übergrosse Beweiskraft im positiven Sinne“ (S. 291). Es muß sich also um eine zeitgenössische Bezeugung handeln von jemand, dem wir ein Wissen in der Sache zutrauen können. Liegt eine solche vor, ist das Argumentieren mit inneren Indizien methodisch fragwürdig: „[...] so sieht man daraus, wie misslich es mit den inneren Gründen überhaupt bestellt ist. Es gibt ja aber Mittel, sich der stärksten äusseren Zeugnisse zu entledigen, freilich keine erlaubten Mittel.“ (S. 290)

„Unter diesen [Anstössen auf Grund innerer Kriterien] scheinen die historischen besondere Beweiskraft zu haben, weil sie von subjektiver Schätzung am unabhängigsten sind; demnächst die sprachlichen; mit den anderen steht es misslicher.“ (S. 291). Historische Indizien sind Anachronismen, d.h. Dinge, von denen ein Autor keine Kenntnis gehabt haben konnte, weil sie später passiert sind, oder das Voraussetzen von Verhältnissen, die zur Zeit des vorgeblichen Verfassers gar nicht mehr existiert haben.

„Wer nun diese Erklärung beseitigt [daß eine Schrift von dem Autor stammt, unter dessen Namen sie überliefert ist], ist verpflichtet, eine glaubhafte andere an die Stelle zu setzen. Glaubhaft aber ist nichts, was ausserhalb des gewöhnlichen und bekannten Laufes der Dinge liegt.“ (S. 294) Damit sollen kuriose Hypothesen wie anonyme Genies, die andere Autoren perfekt zu imitieren vermochten, oder abstruse Geschichten wie die von der Entstehung des Buches Mormon (die Mormonen mögen mir verzeihen) aus dem Diskurs ferngehalten werden.

Die Methodendiskussion ist nicht abgeschlossen und BLASSens Erkenntnisse sind kein thukydideischer „Besitz für immer“. Aber die Diskussion muß geführt werden.

Verfasser

Selbstzeugnis

Der Verfasser des MkEv (wir nennen ihn der Einfachheit halber Mk) spricht in seinem Werk nirgends von sich selbst, daher erfahren wir auch seinen Namen nicht. Die meisten Apologeten verstehen die Episode Mk 14,51f so, daß der Verfasser hier von sich selbst erzählt (z.B. RIENECKER 17). Doch ist dies nur eine Mutmaßung und auch so erfahren wir keinen Namen.

Äußere Bezeugung

Daß das MkEv Markus zugeschrieben wurde, beruht auf einer Nachricht des Papias (Bischof von Hierapolis, gest. 169). Papias schrieb um 130 (?) fünf Bücher Λογίων κυριακῶν ἐξηγήσεις (Auslegungen von Herrenworten), ein Werk, das nicht mehr erhalten ist, aber von Eusebius (ca. 260-340, Bischof von Caesarea) ausgiebig zitiert wird. Darin sagt Papias:

καὶ τοῦθ' ὁ πρεσβύτερος ἔλεγεν· Und dies sagte der Presbyter (Älteste):
Μᾶρκος μὲν ἑρμηνευτὴς Πέτρου γενόμενος, ὅσα ἐμνημόνευσεν, ἀκριβῶς ἔγραψεν, Markus, nachdem er Dolmetscher des Petrus geworden war, schrieb alles, woran er sich erinnerte (oder: was er (Petrus) berichtete), genau nieder,
οὐ μέντοι τάξει τὰ ὑπὸ τοῦ κυρίου ἢ λεχθέντα ἢ πραχθέντα. nicht jedoch der Reihe nach, was vom Herrn entweder gesagt oder getan worden war.
οὔτε γὰρ ἤκουσεν τοῦ κυρίου οὔτε παρηκολούθησεν αὐτῷ, ὕστερον δέ, ὡς ἔφην, Πέτρῳ· Denn er hatte den Herrn weder gehört noch war er ihm nachgefolgt, später aber, wie gesagt, dem Petrus;
ὃς πρὸς τὰς χρείας ἐποιεῖτο τὰς διδασκαλίας, ἀλλ' οὐχ ὥσπερ σύνταξιν τῶν κυριακῶν ποιούμενος λογίων, dieser richtete seine Lehren auf die (jeweiligen) Bedürfnisse aus, nicht als ob er eine Zusammenstellung der Aussprüche des Herrn machte,
ὥστε οὐδὲν ἥμαρτεν Μᾶρκος οὕτως ἔνια γράψας ὡς ἀπεμνημόνευσεν. sodaß Markus keinen Fehler machte, wenn er auf diese Weise manches niederschrieb, wie er sich erinnerte (oder: wie er (Petrus) berichtet hatte).
ἑνὸς γὰρ ἐποιήσατο πρόνοιαν, τοῦ μηδὲν ὧν ἤκουσεν παραλιπεῖν ἢ ψεύσασθαί τι ἐν αὐτοῖς. Denn er wandte seine Fürsorge dem einen zu, nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder darin etwas zu lügen (d.h. Falsches zu berichten).

Eusebius, Historia Ecclesiastica (HE) 3,39,15; griech. Text nach: Schriften des Urchristentums, Bd. 3: Papiasfragmente, Hirt des Hermas. Eingel., hrsg., übertragen u. erläutert v. Ulrich H. J. KÖRTNER u. Martin LEUTZSCH.- Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges., 1998; unveränd. Nachdruck 2004. Beim Namen Markus habe ich der von NESTLE-ALAND gewohnten Schreibung mit Zirkumflex den Vorzug gegeben, KÖRTNER schreibt Μάρκος Zwei Akzentfehler habe ich stillschweigend korrigiert.

(ἀπο)μνημονεύω bedeutet sich erinnern; (seine Erinnerung mitteilen =) überliefern, erzählen, berichten. Die Übersetzung hängt hier davon ab, wer als Subjekt zu denken ist: Markus oder Petrus.

Obwohl nicht ganz klar ist, was davon der Presbyter gesagt hat und was Kommentar des Papias oder des Eusebius ist und gegen welchen Vorwurf Mk hier in Schutz genommen werden soll (denn die Abfolge der Ereignisse ist bei Mk durchaus planvoll), steht zumindest soviel fest: Papias hat das MkEv dem Markus, Dolmetscher des Petrus, zugeschrieben.

Beide Parteien sind sich weitgehend einig darüber, daß hier der Jerusalemer Johannes Markus gemeint ist, der Paulus und Barnabas auf der ersten Missionsreise anfangs begleitete (Apg 13,5.13), später aber der Anlaß für eine Trennung der beiden war (Apg 15,36-41). In den ntl. Briefen taucht er sowohl als Mitarbeiter des Paulus (Kol 4,10; Phlm 24; 2Tim 4,11) als auch des Petrus (1Petr 5,13) auf.

Papias war laut Eusebius HE 3,39,2-4 kein Apostelschüler mehr. Er hat aber noch den Presbyter Johannes gehört (dessen Gleichsetzung mit dem Apostel Johannes umstritten ist, Eusebius HE 3,39,5f nimmt zwei Personen dieses Namens an). Papias ist also gut eine Generationen von der Abfassung des MkEv entfernt. Damit ist er nicht mehr als unmittelbarer Zeitgenosse der Abfassung zu betrachten und sein Zeugnis ist nicht unumstößlich.

Zwei Dinge lassen sich zugunsten der Glaubwürdigkeit des Papias anführen:

Für die Apologeten ist die Papiasnotiz das wesentliche Argument dafür, im MkEv einen Augenzeugenbericht, nämlich den des Apostels Petrus zu sehen (RIENECKER 18f). Die Kritiker kommen auf Grund innerer Indizien zu dem lapidaren Ergebnis: „ist die Papiasnotiz [...] historisch wertlos“ (VIELHAUER 261), „der Verfasser ist uns daher unbekannt“ (KÜMMEL 69).

Indizien

Argumente der Apologeten

Das MkEv lasse eine gewisse Nähe zur Person des Simon Petrus erkennen: das öffentliche Wirken Jesu beginnt mit der Berufung des Petrus und Andreas (1,16-18); die Heilung der Schwiegermutter des Petrus ist Jesu erste Krankenheilung (1,29-31); eine Äußerung der Jünger (Mt 21,20) wird explizit dem Petrus zugeschrieben (11,21); auch das Umgekehrte findet sich: Mt 15,15 vs. Mk 7,17; der zweite Hahnenschrei nach der Verleugung Jesu durch Petrus steht nur bei Mk (14,72); von den Jüngern, die während Jesu Gebet in Gethsemane schlafen, wird bei Mk nur Petrus gerügt (14,37; vgl. Mt 26,40; Lk 22,46); das vielsagende „und Petrus“ (16,7).

KÜMMEL hält dem entgegen, solche Stellen können nicht „die Behauptung begründen, diese Angaben könnten allein auf die Erzählung des Petrus zurückgehen, da nichts dagegen spricht, daß das alles einfach aus der Tradition übernommen ist“ (S. 66). Allerdings soll ja nicht behauptet werden, daß für diese Stellen allein Petrus als Informationsquelle in Frage kommt. Vielmehr soll gezeigt werden, daß Petrus im MkEv eine geringfügig prominentere Rolle spielt als in den anderen Evv. Was könnte es auch geben, das in einem Ev steht und das nicht einfach aus der Tradition übernommen sein kann? Diese Forderung als Kriterium der Glaubwürdikeit der Papiasnotiz ist schon theoretisch unerfüllbar.

Argumente der Kritiker

Die Argumente der Kritiker in diesem Bereich sind zahlreicher, müssen sie doch die Ablehnung der Papiasnotiz begründen.

Papias habe eine unzutreffende Vorstellung über die Entstehung eines Evangeliums (VIELHAUER 261). Das MkEv könne nicht Wiedergabe der Petruspredigt sein, „weil der Stoff des Mk »das Produkt einer komplizierten, z.T. widerspruchsvollen Überlieferungsgeschichte ist«“ (KÜMMEL 67f, Niederwimmer zitierend).- Das ist ein Zirkelschluß: Ausgehend von der historischen Wertlosigkeit der Papiasnotiz konstruiert man eine komplizierte Überlieferungsgeschichte des Mk-Stoffes, die dann wiederum als Argument gegen den Wert der Papiasnotiz verwendet wird. Hat Papias recht, ist die komplizierte Überlieferungsgeschichte Makulatur.

Mk habe übersehen, daß die Speisung der 5000 und die der 4000 „zwei Varianten derselben Speisungsgeschichte sind“ (KÜMMEL 69).- Hier liegt genau dieselbe Art von Zirkelschluß vor. Geht man davon aus, daß Mk auf einem Augenzeugenbericht beruht, dann gibt es keinen Zweifel, daß Jesus dieses Speisungswunder zweimal vollbracht hat. (Es wird eben immer nur bewiesen, was man schon vorher gewußt hat.)

Mk habe keine persönliche Kenntnis der palästinischen Geographie, wie zahlreiche geographische Fehler belegen (KÜMMEL 69), z.B.: 5,1; 7,31; 10,1.- Die drei von KÜMMEL genannten Beispiele beziehen sich auf galiläische, transjordanische und phönizische Geographie. Das wäre allenfalls ein Argument gegen Petrus als Gewährsmann. In 5,1 liegt auch noch ein Problem mit der handschriftlichen Überlieferung vor, doch wenn die Lesart bei NA stimmt, ist wohl wirklich von einem Fehler des Mk auszugehen. In 7,31 geht es darum, daß Jesus von Tyros aufbricht, durch Sidon kommt und in die Dekapolis gelangt. Sidon liegt aber gar nicht auf dem Weg in die Dekapolis, vorausgesetzt Jesus nahm die diritissima. Das wird aber nicht explizit behauptet. In 10,1 liegt der Fall ähnlich: Jesus kommt nach dem Koinétext von Kapernaum durch Transjordanien nach Judäa, was ein ziemlicher Umweg wäre. Aber NA liest ohnehin anders. Von zahlreichen geographischen Fehlern kann keine Rede sein. Und sowenig der Umstand, daß ich mich in der Steiermark nicht auskenne, beweist, daß ich kein Österreicher bin, so wenig schließen einzelne geographische Fehler einen Palästiner als Autor des MkEv aus.

Mk „schreibt für Heidenchristen mit scharfer Polemik gegen die ungläubigen Juden“ (KÜMMEL 69) (was der Jude Markus nie getan hätte). - Dann können die Werke des Thomas Bernhard nicht von Thomas Bernhard stammen, der bekanntlich Österreicher war; und eine schärfere Polemik gegen die Österreicher als in den Thomas Bernhard zugeschriebenen Werken wird man nicht leicht finden.

Zusammenfassend würde ich sagen, daß die Argumente beider Seiten auf tönernen Füßen stehen. Das ist m.E. ein methodisches Problem. Die Papiasnotiz kann nicht wirklich völlig vom Tisch gewischt werden. Ihre Ablehnung dürfte doch hauptsächlich in den Konsequenzen begründet sein, die sich aus ihrer Annahme ergäben.

Zielpublikum

Mk schreibt für Heidenchristen:

Auffällig ist die Verwendung etlicher lateinischer Fachausdrücke (μόδιος 4,21; λεγιών 5,9.15; σπεκουλάτωρ Scharfrichter, Henker 6,27; δηνάριον 6,37; ξέστης = sextarius 7,4; κῆνσος = census 12,14; φραγελλοῦν = flagellare 15,15; κεντυρίων 15,39.44f). Besonders auffallend sind die Worterklärungen λεπτὰ δύο, ὅ ἐστιν κοδράντης (quadrans) 12,42 und αὐλῆς, ὅ ἐστιν πραιτώριον (praetorium, d.i. der Palast des Prokurators) 15,16 und die lateinischen Idiomatismen ῥαπίσμασιν αὐτὸν ἔλαβον (=verberibus eum acceperunt) 14,65 und τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι (=satisfacere) 15,15.

Die Frage ist, ob diese Latinismen in seinem Publikum begründet sind (das dürfte zumindest bei den Worterklärungen der Fall sein) oder weil sie dem Autor näherliegen als die entsprechenden griechischen Ausdrücke. Vermutlich haben sowohl der Autor als sein Publikum in einer lateinischsprachigen Umgebung gelebt. Vielleicht hat aber JÜLICHER recht, der meint (S. 280), daß das einfache Volk auch außhalb Italiens auf dem Gebiet des Militär- und Steuerwesens lateinische Wörter verwendet hat (so wie wir heute ja auch zwanglos viele englische Wörter wie downloaden, chatten, booten, Browser verwenden).

Abfassungsort

Ob Papias etwas über den Abfassungsort des MkEv sagte, geht aus Eusebius (HE 2,15,2) nicht sicher hervor, doch laut Eusebius (HE 6,14,6) sagte Clemens von Alexandrien (150-215), es sei in Rom entstanden. Das paßt zumindest mit den oben gemachten Beobachtungen zu den Latinismen des Mk zusammen. Es könnte aber auch aus der Papiasnotiz (Markus als Begleiter des Petrus) und aus 1Petr 5,13 (Petrus und Markus gemeinsam in Rom) erschlossen sein (doch die Authentizität von 1Petr ist natürlich seinerseits wieder umstritten).

Die Apologeten führen ein weiteres Argument für Rom als Abfassungsort an: Mk 15,21 bezeichnet Simon von Kyrene als Vater des Rufus und Alexander, Rufus aber wird in Röm 16,13 genannt. Aber die Authentizität von Röm 16 ist natürlich umstritten (difficile saturam non scribere).

Die Kritiker hingegen sagen: „Im übrigen aber führt nichts gerade auf Rom, und eine heidenchristliche Gemeinde des Ostens ist viel wahrscheinlicher.“ (KÜMMEL 70). VIELHAUER weiß es noch genauer: „das griechische Syrien“ (S. 347).

Daß nichts auf Rom als Abfassungsort führt, ist naürlich eine Untertreibung. Aber diese Tradition ist unsicherer als die über Mk als Verfasser. Was gerade für Syrien sprechen soll, kann ich nicht erkennen. Geben wir es zu: wir wissen den Abfassungsort nicht.

Abfassungszeit

Der wichtigste Bezugspunkt bei der Datierung der Evv ist die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. Daher suchen die Kritiker fleißig nach Hinweisen auf dieses für die Juden einschneidende Ereignis. Und sie werden fündig: Stellen wie Mt 22,7; 23,38 u.ä. sind nach Ansicht der Kritiker eindeutige Indizien für 70 als terminus post quem.

Interessanterweise scheint die Lage bei Mk nicht eindeutig zu sein. Selbst JÜLICHER hat bei Lektüre von Mk 13 nicht sofort den Eindruck, daß dieses Kapitel erst nach 70 geschrieben sein könne. Dennoch meint auch er, daß Stellen wie die Legende von dem Zerreißen des Tempelvorhangs 15,38 oder das Gleichnis von den bösen Winzern 12,1-22 auf eine Kenntnis der Katastrophe des Jahres 70 hinweisen (JÜLICHER 282, VIELHAUER 347).

KÜMMEL legt sich bezüglich der Frage, ob vor oder nach 70, nicht fest, sagt aber auch: „Eine frühe Entstehung ist unwahrscheinlich, weil die Entwicklung der evangelischen Tradition schon weit fortgeschritten ist und Mk 13 doch wohl zum mindesten die drohende Nähe des jüdischen Krieges spüren läßt.“ (S. 70).

Das Dräuen der Katastrophe war aber vielleicht schon zu Jesu Lebzeiten spürbar. Und die Apokalyptik, der Jesus in mancher Hinsicht nahe stand, brauchte nicht unbedingt einen konkreten politischen Anlaß, um das Ende nahen zu sehen. Man lese zum Vergleich, moderne christliche Endzeitliteratur, die seit Jahrzehnten Harmageddon vor der Tür stehen sieht. (Und vielleicht hat sie ja Recht.)

Die (wie KÜMMEL wohl vorraussetzt: jahrzehntelange) „Entwicklung der evangelischen Tradition“ ist der bereits bekannte Zirkelschluß. Wir wissen nicht, wie diese Entwicklung ausgesehen hat und wie lange sie gedauert hat. Aber wenn Mk z.B. schon um 40 entstanden ist, dann war nicht allzu viel Zeit für eine solche. Bevor man sie als Argument verwenden kann, muß man sie erst beweisen.

Die meisten Apologeten gehen davon aus, daß das MkEv in Rom entstanden ist. Da laut Clemens (Bischof von Rom) Petrus unter Nero 64 in Rom den Märtyrertod gestorben ist, kommen als spätestes Datum wohl die 60er-Jahre in Betracht (Mk kann sein Ev auch erst nach Petri Tod veröffentlicht haben).

Bezüglich der relativen Chronologie der synoptischen Evangelien zueinander gilt die Priorität des MkEv als ausgemacht. Auch viele Apologeten akzeptieren inzwischen die Ansicht, daß Mt und Lk das MkEv gekannt und benutzt haben (und nicht etwa Mk eine Zusammenfassung von Mt und Lk ist). Das wesentliche Argument dafür ist, daß „Markus und Matthäus manchmal in der Anordnung gegenüber Lukas übereinstimmen, und Markus und Lukas noch häufiger gegenüber Matthäus, während Matthäus und Lukas niemals in ihrer gemeinsamen Anordnung gegenüber Markus übereinstimmen“ (BRUCE 32).

Wir stochern im Nebel. Theoretisch ist jedes Datum zwischen Pfingsten und der Entstehung der anderen synoptischen Evv möglich.

Markusschluß

Der Mk-Schluß, der heute in unseren Bibeln steht (Mk 16,9-20), fehlt in einigen der ältesten Handschriften (z.B. Sinaiticus und Vaticanus). Eusebius und Hieronymus bezeugen, daß er sich nur in wenigen der Handschriften ihrer Zeit findet (dennoch hat Hieronymus ihn in seine lat. Übersetzung aufgenommen). Kirchenväter wie Tertullian, Clemens von Alexandrien oder Origines haben ihn anscheinend nicht gekannt.

Handschriftlich findet sich Mk 16,9-20 zuerst im Alexandrinus, im Ephraemi Rescriptus und im Freerianus (alle 5. Jh), von da an in den meisten späteren Majuskelhandschriften, der Koiné, dem textus receptus, auch in der sog. Itala und den meisten syrischen Übersetzungen. Doch muß der Schluß wesentlich älter sein, denn schon Irenäus und Tatian (2. Hälfte des 2. Jh.) kennen ihn, vielleicht sogar schon Justin.

In einigen Handschriften findet sich ein anderer, kürzerer Schluß. Der Freerianus hat nach 16,14 einige zusätzliche Zeilen Text, das sog. Freer-Logion. Es gibt also irgendein Problem mit der Überlieferung des Mk-Schlusses.

Auch innere Gründe wurden gegen die Authentizität geltend gemacht:

Doch wenn man diesen Schluß als unecht betrachtet, dann endet Mk mit den Worten καὶ οὐδενὶ οὐδὲν εἶπαν· ἐφοβοῦντο γὰρ und sie sagten niemandem etwas; sie fürchteten sich nämlich. Kann ein Buch so enden? Kann das der vom Verfasser beabsichtigte Schluß sein. Sollte man nicht erwarten, daß die vom Engel angekündigten Erscheinungen des Auferstandenen berichtet wurden? Wo ist also der Schluß? Ging er verloren?

JÜLICHER mag offenbar nicht glauben, daß das letzte Blatt des Ev verloren gegangen ist; er scheint der Ansicht den Vorzug zu geben, daß der Schluß von der frühen Kirche absichtlich beseitigt wurde (S. 288, allerdings drückt sich JÜLICHER wie so oft nur unklar aus), VIELHAUER detto (S. 348). Das halte ich für sehr unwahrscheinlich: wie sollte eine verfolgte Kirche ohne realpolitische Macht es geschafft haben, dem Mk-Schluß erfolgreich ihr „nihil obstat“ zu verweigern? Und wozu hätte das gut sein sollen?

Laut KÜMMEL „neigt man neuerdings in zunehmendem Maß der Anschauung zu, das Mk habe mit 16,8 sein beabsichtigtes Ende erreicht“ (S. 72). Ohne die Argumente dafür zu kennen, kann ich mir schwer vorstellen, daß das MkEv wirklich mit 16,8 geendet haben soll. Das leere Grab als Erweis der Auferstehung ist entschieden zu wenig. Sollte Mk das tatsächlich anders gesehen haben? Die Verse 16,9-20 zeigen, daß auch Christen der frühen Kirche so empfunden haben.

RIENECKER hält den Schluß für echt. Die Handschriftenlage erklärt er damit, daß Markus durch die Christenverfolgung in Rom kurz vor der Fertigstellung des Ev unterbrochen worden sei und Rom verlassen mußte. Später habe er den fehlenden Schluß verfaßt, aber da sei die schlußlose Version bereits verbreitet gewesen (S. 28). Damit sind aber nicht alle Einwände gegen die Echtheit des Schlusses beseitigt. Dieser ist und bleibt ein unorganisches Anhängsel.

Keine dieser Erklärungsmöglichkeiten vermag völlig zu befriedigen.

Aramäische Vorlage

JÜLICHER (S. 280f) und BRUCE (S. 35) räsonnieren über eine mutmaßliche aramäische Vorlage, deren Übersetzung unser griech. MkEv sein soll. JÜLICHERs Ansicht dazu ist nicht recht klar, BRUCE sieht triftige Gründe zugunsten dieser These. Laut VIELHAUER ist es heute allgemein anerkannt, „daß Mk nicht aus dem Aramäischen übersetzt, sondern original griechisch konzipiert ist“ (S. 349). Bei KÜMMEL habe ich dazu nichts finden können, doch liegt mir sein Werk nicht vollständig vor, sondern nur in auszugsweisen Photokopien.

Hebräisch-aramäische Idiomatismen wie καὶ ἐγένετο ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις ἦλθεν Ἰησοῦς (1,9) = ויהי בימים ההם ויבוא ישוע (o.ä.) lassen sich zwanglos mit der semitischen Muttersprache des Autors und seiner Vertrautheit mit der Erzählkunst des AT erklären. Weder in der kirchlichen Tradition noch handschriftlich findet sich eine Spur einer aramäischen Vorlage.


1 Kerygma, griech. Ausrufung, Bekanntmachung, bezeichnet in der Theologie die christliche Botschaft, die christliche Verkündigung vom Messias Jesus, nicht im selten im Gegensatz zur historischen Wahrheit.

2 Wird auch von KÜMMEL 66 zitiert; doch ist es stets als Argument gegen die Glaubwürdigkeit der Papiasnotiz gemeint. Eines der kuriosen Fehlurteile, von denen in der Vorbemerkung die Rede war. Denn gerade Angaben, die aus dem Werk selbst erschlossen sein können, sind verdächtig.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 14. Mai 2016