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Warum wir glauben, was wir glauben


Zu den spannendsten Fragen gehört meines Erachtens:

  1. Woher wissen wir, was wir wissen?
  2. Warum glauben wir, was wir glauben?

Vor allem die zweite Frage muss man sich immer und immer wieder stellen. Wie bin ich zu dieser Überzeugung gelangt? Sind die Argumente, die dafür sprechen, wirklich so überzeugend? Oder gibt es andere Gründe, warum ich an dieser Überzeugung festhalte? Welche Konsequenzen hätte es denn, wenn ich sie aufgebe? Hätte ich den Mut, diese Konsequenzen zu tragen?

Ich möchte ein paar Aspekte aufzeigen, wie wir zu unseren Ansichten und Glaubensüberzeugungen gelangen.

Umwelt

Die meisten Araber (so vermute ich) haben mehr oder weniger islamische Überzeugungen und Ansichten, weil sie in einer moslemisch geprägten Kultur aufgewachsen sind und leben. Wäre ich in Saudi-Arabien geboren und aufgewachsen, wäre ich vermutlich nicht Protestant, sondern Wahabit. Wir übernehmen die Ansichten unserer Kultur, unseres Zeitgeistes. Ich wäre wohl nicht Christ geworden, wäre ich nicht in einer christlich geprägten Kultur aufgewachsen. Aber ich hege wahrscheinlich auch viele Ansichten, die nicht spezifisch christlich sind, sondern spezifisch abendländisch, z.B. die Betonung des Intellekts oder den modernen Individualismus.

Biographie

Was wir glauben, hängt oft mit unserem Charakter und unserer Lebensgeschichte, Erfahrungen (Leid), Menschen (Vorbilder, abschreckende Beispiele), Büchern usw. zusammen. Sehr schön beschreibt z.B. der evangelische Theologe Heinz Zahrnt in seinem Buch Warum ich glaube den biographisch bedingten Wandel seines Bibelverständnisses im Laufe seines Lebens.

Die Phasen in meinem Leben, in denen tiefer Glaubenszweifel an mir nagte, korrelierten mit einer leidvollen äußeren Situation. Dieser biographischen Relativität unserer Glaubensüberzeugungen können wir nicht entkommen, wir können sie uns nur bewusst machen.

Wunschdenken

„Was wir wollen, glauben wir gerne“ wussten schon die Römer. Wir neigen dazu, Dinge leicht zu glauben, die uns ins Konzept passen. Ein Gutteil unserer Überzeugungen beruht auf wishful thinking, insbes. das Bild, das wir von uns selbst haben. (George Bush sen. sagte nach Beendigung des Golfkrieges mit Tränen in den Augen: „Americans are people who care!“)

Dass die Seelenwanderungslehre in unseren Breiten so viele Anhänger hat, obwohl sie unserer christlich-abendländischen Kultur (abgesehen von einem Intermezzo bei Platon) fremd ist, beruht m.E. auf Wunschdenken. Vielleicht ist das mit meinem Glauben an die Auferstehung nicht anders. Vielleicht ist das aber auch mit dem Glauben, dass mit dem Tod alles vorbei ist, genauso.

Funktionale Überzeugungen

Manche unserer Ansichten, haben wir nicht weil, sondern damit. D.h. diese Überzeugungen haben eine Funktion in unserem Leben, sie sollen uns z.B. vor Konflikten schützen. Der Fundamentalismus kann so eine vor Konflikten schützende, angstabwehrende Überzeugung sein. Der Glaube an das jüngste Gericht kann vorgeschoben werden, um Konflikten mit anderen Menschen auszuweichen. Stollberg, Seelsorge durch die Gruppe, schreibt dazu:

Die rationalisierende Schutzfunktion der Theologie als eines Denksystems, welches ein gutes Gewissen verschaffen soll, wird in der therapeutischen Seelsorgegruppe entlarvt und unmöglich gemacht, indem die biographische Relativität scheinbar noch so objektiv und objektivierend wirkender theologischer Aussagen der Mitglieder erkannt wird. (S. 191)

Damit ist das, was man glaubt, noch nicht als falsch erwiesen. Aber wenn man erkannt hat, warum es für einen so wichtig ist, kann man ihm zumindest einen anderen Stellenwert geben - oder es auch gänzlich in Frage stellen.

Leugnen ist bequemer

Ein Sonderfall funktionaler Überzeugungen ist das Leugnen unbequemer Fakten, deren Anerkennung eine Änderung des eigenen Verhaltens nötig machen würde. Besonders deutlich wird dies beim vom Menschen verursachte Klimawandel. Es ist halt bequemer, man leugnet den Wandel („schneit eh“) oder die menschliche Verursachung („Klimaschwankungen hat es immer gegeben“). Dann muss man sich keine Gedanken über notwendige Änderungen des Lebensstils machen und kann weiterleben wie bisher. Ein anderes Motiv könnte sein, dass das Anerkennen dazu führen würde, dass man sich um die Zukunft Sorgen machen müsste. Denn das Thema ist angstbesetzt. Verdrängung also.

Denken verpflichtet

In Röm 1,18-32 (insbes. V. 21 und 28) macht Paulus klar, dass Denken auch eine ethische Qualität hat: der Wille zur Erkenntnis muss mit der Bereitschaft, der Erkenntnis zu folgen, d.h. aus ihr die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, einhergehen. Fehlender Erkenntniswille oder fehlende Bereitschaft zu Konsequenzen wird von Paulus Ungerechtigkeit genannt.

Ähnlich 2Thess 2,9-12: Wen nicht die Liebe zur Wahrheit treibt, der betrügt sich selbst und wird betrogen; er wird anfällig für Irrtümer und Verführung. (Auch hier [V. 12] ist Ungerechtigkeit das Gegenteil von Wahrheit.)

Grenzen der Erkenntnisfähigkeit

Nach Eph 4,11-15 sollen die verschiedenen Gaben, die Gott geschenkt hat, den Christen helfen, zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes zu gelangen. Kein Mensch hat alle Wahrheit mit dem Löffel gefressen. Daher kann die volle Erkenntnis nur im Konsens der Gläubigen (consensus fidelium) entstehen. Diese Erkenntnis ist nicht Selbstzweck, sondern dient zu unserer Vervollkommnung: Liebe in Wahrheit, Wahrheit in Liebe (Phil 1,9-11).

1Kor 13,8-12 betont die Vorläufigkeit unserer Erkenntnis und unseres Wissens. Völlige Übereinstimmung der Erkenntnisse ist nicht möglich.

Verschwörungsideologien

In den letzten Jahren (geschrieben Dez. 2021) erregen immer mehr Menschen mediale Aufmerksamkeit, die an Verschwörungsideologien glauben. Warum gibt es eine so große Zahl von Leuten, die an flache Erde, Chemtrails, Reptiloide, Illuminati, eine Kinder entführende Politikerelite, die jüdische Weltverschwörung und an ähnliche Behauptungen glauben, die sich nicht mit Fakten belegen lassen, ja sogar den Fakten widersprechen? Warum leugnen so viele den Holocaust, den Klimawandel, die Coronaepidemie? Ich kann nur mutmaßen.

Könnte es nicht trotz fehlender faktischer Beweise Chemtrails o.ä. geben? Die Frage ist, wie plausibel das ist. Ockhams Rasiermesser: Welche Erklärung kommt mit weniger Annahmen und Axiomen aus? Die flache Erde z.B. muss davon ausgehen, dass es Millionen Menschen gibt, die es besser wissen müssten, aber uns bewusst belügen (Geographen, Geometer, Physiker, Astronomen, Piloten, Astronauten, Jeff Bezos, William Shatner, …). Und nicht einer aus diesem inner circle, der aus dem Nähkästchen plaudert, und sei es nur, um sich wichtig zu machen; nicht einer, der den Betrug auffliegen lässt und erklärt, wer das steuert und wie – und vor allem: wozu. Dazu müssen die Fotos der Erde aus dem Weltraum alle Photoshop-Fakes sein, während es nicht ein einziges Foto der wahren, flachen Gestalt der Erde gibt. Das alles zusammen ist so unglaubwürdig, dass sich jede weitere Diskussion erübrigt. Das kann man eigentlich nur glauben, wenn man intrinsische Gründe dafür hat, es glauben zu wollen.

Eine Überzeugung, an der man festhält, obwohl sie nicht mit Fakten zu belegen ist, ist ein weltanschauliches Axiom. Die jüdische Weltverschwörung oder Chemtrails sind so wenig zu beweisen wie die Existenz Gottes. Obwohl da schon ein prinzipieller Unterschied besteht: die jüdische Weltverschwörung müsste, wenn es sie gibt, mit Fakten beweisbar sein. In den meisten Fällen haben sich aber solche Menschen bewusst dazu entschieden, eine bestimmte Theorie für wahr zu halten und alle Fakten, die dagegen sprechen, zu ignorieren, zu leugnen oder als Fake abzutun. (Man sieht ähnliche Tendenzen auch bei manchen Evangelikalen, wenn es um Fragen der historischen Wahrheit biblischer Berichte geht.)

In vielen Fällen führt diese Überzeugung wohl zu einer Aufwertung des Selbst: man gehört zu einer eingeschworenen Gruppe, man hat überlegenes Wissen, man blickt durch, man hebt sich von der breiten Masse ab. Vielfach ist die Banalität der Realität – dass hinter der nicht abreißenden Serie von Krisen kein Masterplan steckt, sondern einfach nur Zufall und menschliche Ignoranz und Egoismus – schwer zu ertragen. Da erscheint es manchem plausibler, von einem gesteuerten Ablauf auszugehen.

Das Erschreckende ist das Ausmaß der Realitätsverweigerung, das viele Menschen an den Tag legen, die Weigerung, Fakten (oder eben ihr Nichtvorhandensein) anzuerkennen, und die Behauptung „alternativer Fakten“. Obwohl doch klar ist, dass es keine alternativen Fakten gibt; es gibt nur Fakten, alles andere ist Quatsch oder Lüge. Verführung und Lüge erreichen in unserem postfaktischen Zeitalter eine metaphysische Qualität, wie sie Paulus für die Endzeit prognostiziert (s. 2Thess 2,8-12: Gottgesandter Irrtum).

Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 13. Aug. 2022