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Das Reich der Mitte
Startpunkt war die Frage, woher die Bezeichnung Apfelsine für die süße Orange stammt.
Es gibt zu dem Thema einen Wikipedia-Art. Names of China, der zwar alle möglichen und unmöglichen Namen für China auflistet, aber kaum Entwicklungslinien erkennbar werden lässt.
Die Chinesen nannten ihr Land seit alters 中國 (simpl. 中国) zhōng guó [ʈʂʊŋ ɡ̊u̯ɔ] „Mitte-Reich/-Staat(en), Reich/Staat(en) der Mitte, mittleres Reich, zentrale Staaten“1). Sich selbst bezeichneten sie meist als 漢 hàn [xan] (nach der Han-Dynastie, 206 v.Chr.-220 n.Chr.), zu Zeiten auch als 唐 táng [tʰɑŋ] (nach der Tang-Dynastie, 618-907 n.Chr.). Andere (historische) Bezeichnungen sind 夏 xià [ɕi̯a] „groß(artig)“ oder nach der gleichnamigen Dynastie (ca. 2200-1800 v.Chr., Historizität umstritten) und 華 (simpl. 华) huá „prächtig, berühmt“, auch kombiniert 華夏 (simpl. 华夏) huá xià „prächtig (und) groß“, und in Zusammensetzungen wie 中華 (simpl. 中华) zhōng huá „Hua-Reich, prächtige Mitte“.
Die Bezeichnung Reich der Mitte kann auch im Sinne von Kernstaaten im Ggs. zu den Vasallenländern verstanden werden. Aber wahrscheinlicher scheint mir, dass derselbe Ethnozentrismus dahintersteckt, wie er sich auch in der österr. Bundeshymne ausdrückt: “Heiß umfehdet, wild umstritten, | liegst dem Erdteil du inmitten [...]“ – wir sind in der Mitte, die anderen sind (dr)außen um uns herum, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell.
Die chin. Bezeichnung zhōng guó haben einige ostasiat. Sprachen übernommen: vietnam. Trung Quốc, korean. 중국 jung guk, japan. Kanji 中国 / Hiragana ちゅうごく chūgoku, u.a.
Die älteste abendländ. Bezeichnung für die Chinesen ist griech. Σῆρες Sḗres (Sg. ὁ Σήρ, Gen. Σηρός, auch Bezeichnung der Seidenraupe, Name der Hauptstadt Σήρα Sḗra), lat. Sēres (Sg. Sēr, Gen. Sēris) „Seidenleute“2). Dies kommt von chin. 絲 (simpl. 丝) sī [sɯ] „Seide“. (Die griech.-lat. Wortform, korean. sir, sil, mongol. sirkek zeigen, dass im Hochchin. ein Auslautkons. ausgefallen sein muss.) Das lat. Adj. dazu lautet Sēricus „chinesisch; seiden“, davon (regio) Serica „chin. Gebiet, China“.
Seit dem 2. Jh. n.Chr. beginnt sich im Griech. die Bezeichnung Σῖναι Sínai (Pl. Σινῶν) od. Σῖνοι Sínoi (Name der Hauptstadt Σῖναι oder Θῖναι Thínai) einzubürgern3). Dieses stammt vermutlich vom Königreich 秦 qín [tɕʰin] (andere Schreibungen Ch'in, Ts'in, 306-207 v.Chr.), dem westlichsten und lange Zeit mächtigsten der sieben Königreiche Chinas. Aus ihm ging die Qin-Dynastie hervor, die zwar nur kurz herrschte (221-207 v.Chr.), aber zum ersten Mal ganz China zu einem Reich geeint hatte und wesentliche Akzente für die weitere Geschichte setzte (Schaffung einer effizienten Verwaltung, Bau der Chinesischen Mauer, Vereinheitlichung von Währung, Maßen und Schrift).
Nach Kiepert3a) ist der Name Seres über zentralasiat. Händler zu den Griechen gelangt, Sinai dagegen (über Vermittlung der indischen Form, s.u.) durch Seeverkehr an die Südostküste Chinas. Kiepert verortet die Hauptstadt Thinai „mit einiger Wahrscheinlichkeit“ am Gelben Fluss (Huáng Hé), wo die alte Hauptstadt 洛陽 (simpl. 洛阳) Luòyáng [lwɔjɑŋ] lag. Sera ist ihm identisch mit dem heutigen 西安市 Xī'ān Shì [ɕiˀanʂɯ] „westliche friedliche Stadt“ (meist Xi'an geschrieben, früher Sianfu, Si-ngan-fu, histor. 長安 Cháng'ān, Tschan-ngan-fu [ʈ͡ʂʰɑŋˀan] „langer Friede“), der ersten Hauptstadt des Kaiserreichs China.
Erst im Nlat. findet man Sinae „Chinesen, China“4), dazu das Adj. Sinensis „chinesisch“. (Ich konnte nicht herausfinden, woher das lat. Wort stammt. Es läge nahe anzunehmen, dass es sich um eine Übernahme von griech. Σῖναι handelt. Aber wegen der späten Bezeugung muss wohl eher von einer Übernahme aus dem Pers. oder It. ausgegangen werden.) Diese Form lebt in Fremdwörtern wie Sinologie (Chinakunde) weiter. Sie steckt aber auch in niederl. Appelsina, neuer Appelsien oder Sinaasappel, von dem das dt. Wort Apfelsine (schwed. Apelsin, russ. апельси́н apʲelʲsʲin) herkommt.
Dieselbe Wurzel liegt auch der modernen Bezeichnung der meisten idg. Sprachen zugrunde: dt., engl., niederl. China, frz. Chine, it. Cina, schwed., norw., dän. Kina, tschech. Čína, serb. Кина, ngriech. Κίνα, usw. Sie findet sich erstmals in Marco Polos Reisebeschreibung in der Form Cin5). Polo (bzw. sein Koautor oder Ghostwriter Rustichello da Pisa) hat dieses Wort angeblich aus pers. چین Čin (č ~ [tʃ]), das seinerseits von Sanskrit चीन cīna [tji:na, t͡ʃi:na] stammt (das sagt z.B. Etymology Online s.v. china).
Auch Turksprachen und semit. Sprachen gebrauchen dieses Wort: türk. Çin (ç =[tʃ]), aserbaidsch. چین Čin; arab. الصين ʾal-Ṣīn, hebr. סין Sîn.
Neben dieser fast ubiquitären Namensform gibt es noch eine zweite, russ. und bulgar. Китай Kʲitaj, slowen. Kitajska, uigur. (eine Turksprache) خىتاي Ḫitaj. Sie stammt vom Namen des Volks der Kitan (chin. 契丹 Qìdān [tɕʰitan]) bzw. (Kara-)Kitai (od. Chitai), die im 10. Jh. ein Reich in Nordchina gründeten und nach ihrer Unterwerfung durch die Dschurdschen im 12. Jh. ein weiteres westl. der Mongolei (Kirgisien, Turkmenistan). Auch dieser Name wurde vor allem durch Marco Polos Reisebericht in der Form Catai bekannt; so nennt er das Land, das er bereist hat6), so findet man es z.B. auch bei Ariost (vor Vokal Cataio)7) (im Dt. und Engl. wird es meist Cathay geschrieben). Doch war lange Zeit nicht klar, dass es sich dabei um China handelte, denn der damalige Herrscher von Catai war der Mongole Kublai Khan.
1) Der folgende chin. Text stammt aus: Kracke, Arthur: „Chinesisch als Gegenbild zu indogermanischen Sprachen“. Der Altsprachliche Unterricht 4.5 (1960) 26-57 (bietet auch eine dt. Übers.). Die Quelle konnte ich nicht ermitteln. Es gibt einen inhaltlich ähnlichen, aber nicht wortidenten Text im Hòu Hànshū (beim Chinese Text Project, dazu gibt es auch eine engl. Übersetzung).
至桓帝時大秦王安敦遣使自日南徼外. | Zhì huán dì shí dà-qín wáng ān-dūn qiǎn shǐ zì rì-nán jiào wài. | Schließlich, zur Zeit des Kaisers Huan (10. Kaiser d. Han-Dyn., reg. 146-167), schickte der König von Ta-Tchin (das imperium Romanum), An-Tun (M. Aurelius Antoninus, reg. 161-180), Gesandte durch Ri-Nan (heute in Vietnam, s. Wikipedia-Art. Rinan), außerhalb der Grenze (näml. des Partherreiches; die Parther bemühten sich, die direkte Verbindung zwischen Rom und China zu blockieren, um ihren Profit als Zwischenhändler im Seidenhandel nicht zu verlieren). |
乃得通漢. | Nǎi dé tōng hàn. | Dadurch bekamen sie Verbindung mit den Han (Chinesen, Han-Dynastie). |
大秦者歐洲古時名國也. | Dà-qín zhě ōu-zhōu gǔ shí míng guó yě. | Ta-Tchin (das imperium Romanum) war auf dem Ou-Kontinent (Europa) in alter Zeit ein berühmtes Reich. |
歐洲通中國自此始. | Ōu-zhōu tōng zhōng guó zì cǐ shǐ. | Die Verbindung des Ou-Kontinents (Europa) mit dem Reich der Mitte (China) hat seitdem begonnen. |
Es ist bemerkenswert, dass im chin. Namen des Röm. Reiches genau jenes Wort qín steckt, von dem vermutl. unser Wort China herkommt.
2) z.B.:
Verg.georg. 2,21 | velleraque ut foliis depectant tenuia Seres | und wie die Serer feine Wolle von den Blättern abkämmen |
Ov.am. 1,14,6 | vela colorati qualia Seres habent | wie die Stoffe, die die dunkelhäutigen Serer haben |
Strab. 11,11,1 | καὶ δὴ καὶ μέχρι Σηρῶν καὶ Φρυνῶν ἐξέτεινον τὴν ἀρχήν | und so haben sie auch die Herrschaft bis zu den Serern und Phrynern ausgedehnt |
Strab. 15,1,34 | καὶ γὰρ τοὺς Σῆρας ἔτι τούτων μακροβιωτέρους τινές φασι | denn manche sagen, dass die Serer noch langlebiger als dies(e) sind |
3)
Stellenbelege:
s.v. Σῖναι.
Pape, W[ilhelm]: Wörterbuch der griech. Eigennamen. Neu bearb. v. Gustav
Eduard Benseler. Bd. 2: Λ-Ω.- 3. Aufl. Braunschweig: Vieweg u. Sohn, 1875.
Buchscan, Archive.org.
Ich zitiere als Bsp. Ptol.geogr. 1,17,5:
καὶ ὅτι ὑπέρκειται τῶν Σινῶν ἥ τε τῶν Σηρῶν χώρα καὶ ἡ μητρόπολις | und dass das Land und die Hauptstadt der Serer nördlich der Siner liegt |
Ptolemäus unterscheidet also zwischen Σῆρες und Σῖναι. Letztere sind wohl in Südchina anzusiedeln.
3a) Kiepert, Heinrich: Lehrbuch der alten Geographie.- Berlin: Reimer, 1878. S. 43f. Archive.org.
4) s.v. SINÆ. Hofmann, Johann Jacob: Lexicon Universale [...].- Leiden, 1698. Buchscan, Uni Mannheim.
5) Afrz. Text (der als der ursprünglichste gilt) nach: Voyage de Marc Pol. In: Recueil de voyages et de mémoires. Hrsg. v. d. Société de géographie. Bd. 1.- Paris: Éverat, 1824. S. 186f. Google Books. Eine dt. Übers., allerdings einer anderen Textfassung (nämlich der von G. B. Ramusio, 1559, S. 50, Google Books): Die Reisen des Venezianers Marco Polo im 13. Jh. Dt. m. e. Komm. v. August Bürck.- 2. unveränd. Ausg.- Leipzig: Teubner, 1855. S. 512f. Archive.org.
161 S. 186f |
Or voz lairon de ce, e retorneron à nostre matiere. Or sachiés que ceste mer là où est ceste isle s'apelle le mer de Cin, qe vaut à dir le mer qui est encontre le Mangi: car je voz di qe en langajes de celz de cest ysles vaut à dire Mangi, quant il dient Cin qe est à levant, et a selonc que les sajes pedot dit, e le sajes mariner qe hi najent et que bien sevent la vérité, sept mille et quatre mille et quarante huit ysles, lesquelz s'abitent les plusors. | Jetzt lassen wir euch davon und kehren zu unserem Thema zurück. Jetzt wisst, dass dieses Meer dort, wo diese Insel (Zipungu, d.i. Japan) ist, das Meer von Cin (China) heißt, was bedeutet: das Meer, das gegenüber von Mangi (Südchina) liegt. Denn ich sage euch, dass es in der Sprache der (Bewohner) dieser Insel Mangi bedeutet, wenn sie Cin, das im Osten liegt sagen, und nach dem, was die erfahrenen Fischer sagen und die erfahrenen Seeleute, die dort segeln und die die Wahrheit gut kennen, <gibt es> 7448 Inseln, von denen die meisten bewohnt sind. |
161 S. 187,19 |
Et sachiés que ceste contrée est loinge de Indie grandisme quantité de voie. Et encore vos di que por qe je voz ai dit que ceste mer est apellé le mer de Cin, si voil-je que voz sachiés qe ce est le mer Osiane, mès l'en dit come diroit le mer d'Engletere e le mer de Rocelle, ausi dit l'en en celle contrée le mer de Cin e le mer de Indie e le tel mer; mès toutes foies tuit cesti nonz sunt dou mer Osiane. | Und wisst, dass diese Gegend eine große Wegstrecke von Indien entfernt ist. Und noch einmal sage ich euch, was ich euch gesagt habe, dass dieses Meer das Meer von Cin genannt wird, so will ich, dass ihr wisst, dass dies der Ozean ist, aber man sagt, wie man das Meer von England sagen würde und das Meer von Rocelle, so sagt man in dieser Gegend das Meer von Cin und das Meer von Indien und das so-und-so Meer; aber jedesmal sind alle diese Namen die des Ozeans. |
sept mille et quatre mille: Die HS B.N. 1116 (Bibliothèque nationale de France) hat: vij. et. iiij. &xlviii. ysles. Über den ersten beiden Zahlen steht das gleiche Zahlzeichen (das vermutlich CIↃ darstellen soll). Das kann nur ein Versehen des Schreibers sein.
Mangi kommt von chin. 蠻子 (simpl. 蛮子) mánzi „Barbar, Wilder (aus dem Süden); Südchina“. Bei Marco Polo bezeichnet es das Reich der Südl. Song-Dynastie, das von Kublai Khan unterworfen wurde (s. Kap. 139 Comant le gran Kan conquiste la provence dou Mangi „Wie der Großkhan die Provinz von Mangi erobert“). Was Marco Polo wohl sagen will, ist, dass Cin ein anderer Name für Mangi ist.
6) Z.B. (die Kapitelzahlen beziehen sich auf die bereits genannte Ausg. der Soc. de géogr.):
101 S. 101 |
Et encore sachiés que la greingnor partie des jens de la provence dou Catay boivent un tel vin con je voz divisera. | Und wisst noch, dass der Großteil der Leute der Provinz von Cathay einen derartigen Wein trinken, wie ich euch darlegen werde. |
104 S. 117 |
Or voz ai dit de ce, et adonc nos diron d'autre et nos partiron de la cité de Canbalu, et entreron dedenz le Catai por conter des grant chouse et riches que hi sunt. | Jetzt habe ich euch davon gesagt, und nun reden wir von anderem und verlassen wir die Stadt Canbalu (mongol. Khanbalik „Stadt des Khans“ = Peking, s. Art. Cambaluc der 11. Aufl. der Enc. Brit.) und treten ein in Cathay, um die großartigen und reichen Dinge, die dort sind, zu erzählen. |
132 S. 149 |
Cianglu est encore une mout grant cité ver midi, est au grant Kan et de la provence dou grant Catai. | Cianglu ist noch eine sehr große Stadt im Süden, sie gehört dem Großkhan und zur Provinz des großen Cathay. |
152 S. 173,8 |
[...] et ausi se fait por toute le provence dou Mangi et de cele dou Catai. | [...] und so macht man es in der ganzen Provinz von Mangi (Südchina) und der von Cathay. |
7) Ludovico Ariosto, Orlando furioso. z.B.:
8,43 | [...] il genitor mio Galafrone,|ch’in India del Cataio era gran Cane. | [...] meinen Vater Galafrone,|der in Indien Großkhan von Cathay war. |
19,17 | questa [...] Angelica era,| del gran Can del Catai la figlia altiera. | dies war Angelica,|des Großkhans von Cathay stolze Tochter. |
Ariost verortet Cathay also auf dem indischen Subkontinent.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 17. Nov. 2022