Michael Neuhold Homepage
Startseite >
Etymologica Selecta >
Paris liegt an der Seine
Paris liegt an der Seine
„Kalkutta liegt am Ganges, [...], doch dass ich so verliebt bin, das liegt
an Madeleine“ sang weiland Vico Torriani 1960. Diese Seite ist Ende 2011
entstanden. Ich habe sie im Zuge der Beschäftigung mit Salzburger Ortsnamen
kelt. Provenienz Ende 2013 / Anfang 2014 wieder durchgesehen, aktualisiert und
erweitert. Ein Teil der Literatur, auf die ich bei der Überarbeitung gestoßen
bin, war mir leider nicht zugänglich. An gedruckten Quellen nenne ich:
- Pokorny, Julius: Indogerm. etymolog. Wörterbuch.- Bern, München: Francke, 1959.
- s. Etymologica
Selecta: Quellen
-
- Holder, Alfred: Alt-celtischer Sprachschatz.- Leipzig: Teubner, 1896-1913.
- s. Etymologica
Selecta: Quellen
- Zeuß,
Johann Kaspar: Grammatica Celtica.- Bd. 1.- Weidmann: Leipzig, 1853.
Google Books.
- 2.
Aufl. Berlin: Weidmann, 1871. Archive.org.
- d'Arbois
de Jubainville, Henri: Les premiers habitants de l'Europe.- Bd. 2.-
Paris: Thorin & fils, 1894. Gallica.
- 1. Aufl. 1877 habe ich nicht gefunden.
- Loth,
Joseph: Les mots latins dans les langues brittoniques.- Paris: Bouillon,
1892. Archive.org.
- Loth,
Joseph: „Sequana. Sequani“. Revue celtique, 15 (1894) 98f. Archive.org.
- Dottin,
Georges: La langue gauloise. Grammaire, textes et glossaire.- Paris:
Klincksieck, 1920. Archive.org.
- O'Rahilly, Thomas F[rancis]: Early Irish History and Mythology.- Dublin:
Dublin Inst. f. Adv. Studies, 1946.
- Obwohl ein Standardwerk, schwer aufzutreiben.
- Delamarre, Xavier: Dictionnaire de la langue gauloise. Une approche
linguistique du vieux-celtique continental.- 2., durchges. u. erw. Aufl.-
Paris: Éditions Errance, 2003.
- Leider nur über höchstwahrscheinlich illegale Downloadangebote erreichbar.
Gerade bei einem Nachschlagewerk wäre die Möglichkeit einer Online-Abfrage
wünschenswert.
- Jung, Edmond: „Réflexions sur le nom Sequana“, in: Revue des
Études Latines, 47 (1969) 434-461.
- In der örtl. Universität verfügbar, hier wäre aber ein Online-Angebot ein
Desiderat.
- Keune,
Johann Baptist: Art. Icauna. Paulys Realencyclop. d. class.
Altertumswiss., IX,1 (1914) Sp. 819. PNG-Bild, Archive.org.
Der Name der frz. Haupstadt Paris geht auf das lat. Lutecia
Parisiorum „Lutecia der Parisier“ zurück (zur frühen Entwicklung des
Namens der Stadt s. meine Seite
Lutetia, Paris),
die Parisii waren der gall. Stamm, der in und um Lutecia wohnte.
Die Stadt liegt an der Seine, deren Name auf lat.-gall.
Sequana zurückgeht. So weit so gut.
Es ist naheliegend anzunehmen, dass beide Namen kelt. Herkunft sind. Sie
geben jedoch Probleme auf:
- Idg. anlautendes p- ist im Kelt. (über den Weg p- >
f- [> h-?] > ∅) verlorengegangen (vgl. air.
athir = lat. pater „Vater“).
- Dafür hat eine Gruppe von kelt. Sprachen (zu der auch das Festlandkelt.
gehört) sekundäres p aus dem Labiovelar ku̯
entwickelt (vgl. gall. epo- = lat. equus „Pferd“ in
Eigennamen wie Epona, Eporedorix).
Parisii
Da also das anlautende p- von Parisii
aus ku̯- entstanden sein muss, werden als mögliche Wurzeln
dafür vorgeschlagen:
- Kelt. *ku̯er- „tun, machen“
(mkymr. peri „machen, bewirken“, paraf „ich mache“,
mbret. paras „er machte“),
idg. *ku̯er- ds. (Pokorny S. 641),
also „Macher, Bewirker“ o.ä.
- Diese Deutung ist alt und findet sich bereits in Zeuß' Grammatikbuch
(1. Aufl. S. 97, 2. Aufl. S. 82):
- peri (infin. verbi param, paraf,
efficio, unde nomen Parisii, Parisi, efficaces, strenui) –
als Bsp. für Ablaut im Kymr.
- peri (Infinitiv des Verbs param, paraf „machen, bewirken“,
wovon der Name Parisii, Parisi „wirksam, tatkräftig“)
- Ähnlich d'Arbois de Jubainville (Habitants 2. Aufl. S. 284):
- Parisii tient lieu de *Qarisii et
dérive d'un thème verbal *qari- qui explique à la fois le verbe
irlandais cuiriu «je pose, j'effectue», et le verbe gallois
peri «être cause de quelque chose». Les Parisii seraient
des gens «dont les actes produisent des effets».
- Parisii steht für *Qarisii und stammt von einem verbalen
Thema *qari-, das zugleich das irische Verb cuiriu „ich
stelle, führe aus“ erklärt, und das kymrische Verb peri „Ursache
von etwas sein“. Die Parisii wären Leute, „deren Handlungen
Wirkungen hervorbringen“.
(d.h. die Wirksamen, Tatkräftigen, Erfolgreichen?)
- Beides wird von Holder in seinem Sprachschatz unter dem Lemma
Păr-īs-ĭī (Bd. 2, Sp. 932) zitiert:
- nach Zeuß ‛efficaces, strenui’, ‛die tatkräftigen,
tapfern’, nach d'Arbois de Jubainville ‛des gens dont les actes produisent
des effets’,
für *Quăr-īsĭī, abgeleitet vom verbalstamm *qari- *qariu,
air. cuirim ‛ich setze, stelle, lege, schicke, lade ein’,
cy. peri, infin. des verb param, paraf ‛würke’ und
suffix -īs-ĭo-
- In dieselbe Kerbe schlägt Dottin (S. 277):
- parisio-, thème de nom de peuple; cf. gall.
par- «faire».
- parisio-: Volksnamenthema; vgl. kymr. par-
„machen“.
- Vermutl. von derselben Wurzel, aber verstanden im Sinne von „Arbeiter,
Handwerker“, beim
engl.
Wikipedia-Art. Paris (Stand 4. Jan. 2014):
- It is believed that the name of the Parisii tribe comes
from the Celtic Gallic word parisio, meaning "the working
people" or "the craftsmen".
- Man glaubt, dass der Name des Stammes der Parisii von dem
keltischen gallischen Wort parisio kommt, das „die Arbeitsleute“
oder „die Handwerker“ bedeutet.
- O'Rahilly (S. 147-48) stellt den etymolog. verwandten Namen des Stammes der
Quariates (Plin. nat. 3,35) zwar zur selben Wurzel, aber versteht
ihn als Ableitung zu einer Gottheit, deren Name „Former, Macher“ o.ä.
bedeutet.
- O'Rahillys Werk war mir nicht zugänglich, den Hinweis darauf
verdanke ich der Seite
Parisi.
Encyclopédie Merikavel über den britann. Stamm der Parisi – s.
Wikipedia-Art.
Parisi (Yorkshire).
S. auch Wikipedia-Art.
Quariates.
- Joseph Loth (Mots latins, S. 195) betrachtet das
Verb peri als Entlehnung aus lat. păr-io „hervorbringen,
gebären“. Dessen Wurzel ist idg. *per- ds. (Pokorny S. 818), zu dem
neben der lat. Wortfamilie um părio, -ĕre und părāre
„bereiten, verschaffen“ einige Wörter für Tierjunge gehören, u.a. die heute
ungebräuchlichen nhd. Farre (junger Stier) u. Färse (Kuh,
die noch nicht gekalbt hat). Allerdings ist Loth mit dieser Ansicht ziemlich
allein geblieben.
- Kelt. *ku̯ari̯o- „Kessel“
(air. coire,
mkymr. peir,
akorn. per,
viell. auch it. pai[u]olo alle ds.),
idg. *ku̯eru- „Schüssel, Schale“ (Pokorny S. 642),
also wohl „Kesselleute“ (d.i. „Kesselkultleute“? oder „Kesselmacher“?).
- Diese Deutung teilt Delamarres Gallisch-Wörterbuch unter dem Stichwort
pario- mit:
- pario-, ‘chaudron’ [...] le *pario- était une
chaudronnerie en métal et non une poterie. Cf. aussi les ethniques
Parisi(i) en France (> Paris) et en GB et
Quariates (Htes-Alpes > Queyras), ces derniers
avec préservation sporadique du kw et suffixe
-ati-, à comprendre ‘Ceux du chaudron’ (on sait l'importance du
chaudron dans les récits de mythologie irlandaise), UKI 165;
- pario- „Kessel“ [...] der *pario- war ein Geschirr
aus Metall und kein Tongefäß. Vgl. auch die Volksnamen Parisi(i) in
Frankreich (> Paris) und in GB und Quariates (Departement
Hautes-Alpes, > Queyras), diese letzteren mit sporadischer
Bewahrung des ku̯ und Suffix -ati-, zu verstehen
als „die des Kessels“ [Kesselleute], (man kennt die Bedeutung des Kessels in
den Erzählungen der irischen Mythologie), UKI 165;
- UKI = Pokorny, Julius: Zur Urgeschichte der Kelten und
Illyrier.- Halle a.d.Saale: Niemeyer, 1938. (Sonderdr. aus: Zeitschrift f.
celtische Philologie 20 (1936) 315-352, 489-522 u. 21 (1938) 55-166).
Konnte ich im Netz nicht auftreiben.
René Goscinny hat in seinen Asterixgeschichten die
Kesselliebe der Kelten fleißig persifliert; man denke an den Kesselverbrauch
der beiden Druiden im Kampf der Häuptlinge oder den bereits im
Titel genannten Kessel in Asterix und der Kupferkessel (frz. Orig.
Astérix et le chaudron). Aus Gründen des Urheberrechtes getraue ich
mich aber nicht, entsprechende Beispiele online zu stellen.
- So auch der Eintrag im
frz.
Wiktionary s.v. Parisii (Stand 4. Jan. 2014) unter Verweis auf
Delamarres Wörterbuch. Während Delamarre aber wohl kultische Beziehung zum
Kessel im Sinn hatte („Kesselkultleute“ o.ä., vgl. den
Wikipedia-Art.
Keltischer Kesselkult, Stand 11. Jan. 2014), fasst Wikipedia
die Beziehung eher in prosaisch-handwerklichem Sinn:
- Ethnonyme gaulois signifiant peut-être «ceux du
chaudron» ou «ceux (qui font) des chaudrons» *pario («chaudron»)
[...].
- Gallischer Volksname, der vielleicht „die des Kessels“ oder
„die Kessel machen“ bedeutet - *pario „Kessel“.
-
- Auf nägypt. br, kopt. ⲃⲁⲁⲣⲉ „Schiff, Barke“, griech. βᾶρις, lat.
bāris dass. führt das
Online
Etymology Dictionary s.v. Paris es zurück:
- The tribal name is of unknown origin, but traditionally
derived from a Celtic par "boat" (cf. Gk. baris; see
barge) [...].
- Der Stammesname ist von unbekannter Herkunft, wird aber
traditionellerweise von einem keltischen par „Boot“ abgeleitet.
- Also ein Fremdwort ägypt. Herkunft, aus dem Lat. übernommen?
Aber p- aus b-? Ich kann ein solches Wort bei Matasović
nicht finden, „Boot“ heißt ir. bád, „Schiff“ long.
Und was heißt traditionally? Niemand sonst vertritt diese Deutung.
Sequana
Kelt. Seku̯ana hätte lautgesetzl. zu
gall. Sepana werden müssen.
Daher müsste man annehmen, dass die lat. Schreibung qu keinen
Labiovelar wiedergibt, sondern die Lautfolge /k-u/, wobei an der
Stelle des Bindestrichs ein kurzer Vokal gestanden haben könnte):
*Secuana < *Secau(a)na – was immer es bedeutet haben mag.
(Caes.Gall. 1,1 Sēquăna; Strabo Geogr. 4,3,2 [=C. 192] Σηκοάνας;
CIL 13,2863 [=S. 438] Secuan[ae] für die Flussgottheit.)
CIL 13,
T. 1, Fasc. 1 bei Arachne;
CIL 13,2863
bei der EDCS.
Strabon
Geogr., 4. Buch bei Wikisource.
Delamarre geht aber davon aus, dass idg. Labiovelar im Gall. mancherorts
erhalten geblieben ist, z.B. im Namen der Quariates (s. den oben
zitierten Ausschnitt des Lemmas pario-) oder in zwei Wörtern des
Kalenders von Coligny, dem Monatsnamen equos und dem unerklärten
Wort quimon, was nach Delamarre ein Archaismus sein könnte (s.
Stichwort equos.) Zu Sequana äußert er sich offenbar nicht.
-
- In seiner Miszelle Sequana. Sequani zerlegt Loth den Namen in
Seco-vana, Secu-vana, das lat. Sequana ergeben musste. Die
beiden Bestandteile sind:
idg. *sek- „schneiden“ (davon
kymr. hesg „Riedgras, Schilf mit schneidenden Blättern“, Pokorny S. 895)
und kelt. *gu̯ano- „(er)schlagen“ (davon
kymr. gwanu „treffen, verletzen“),
idg. *gu̯hen- ds. (Pokorny S. 491-93):
- Je ferai remarquer seulement que les langues brittoniques
possèdent une racine sec- qui signifie couper: gallois hesg,
armor. hesc, irl. sescenn, sorte de glaïeul à bords coupants,
= sec-sco; hesken, scie. Quant à -wana, on pourrait
le rapprocher du gallois gwanu, percer, pénétrer à travers.
- Ich werde lediglich darauf aufmerksam machen, dass die
britannischen Sprachen eine Wurzel sec- besitzen, die „schneiden“
bedeutet: walisisch [=kymr.] hesg, breton. hesc, ir.
sescenn, Art Gladiole mit schneidenden Rändern, = sec-sco-;
hesken „Säge“.
Was -wana betrifft, könnte man es zu walisisch gwanu
„durchbohren, durchdringen“ stellen.
- Was aber soll der Name bedeuten? Der zweite Bestandteil
passt schlecht zu einem Flussnamen. Unschärfen in der Wortbedeutung
(hesc ist keine Gladiole, air. sescenn bedeutet „Sumpf“
und kommt nach Pokorny von *sek- „abrinnen“) sind wohl dem Alter
des Aufsatzes geschuldet.
-
Holder und Pokorny stellen es zu idg. *seiku̯- „ausgießen,
rinnen“ (Pokorny S. 893f), davon nhd. seihen u. (ver-)siegen,
lat. siccus „trocken“ (ausrinnen = trocknen). Pokorny stellt auch den
Flussnamen Sèvre < *Siparis hierher.
Einige Wörter des Germ. sind laut Pokorny von einer Wurzel *seik-
(ohne Labial) gebildet, z.B. Iterativbildg. sickern.
Das kelt. Wort für „trocken“ *sisku̯o- (air. sesc
„trocken“, mkymr. hysb u. mbret. hesp ds.) ist nach
Matasovic thematisiert aus idg. *si-sk-u(-o)-, dies ein redupl. Adj.
v. idg. *sek- „abrinnen, versiegen“ (Pokorny S. 894). Pokorny
unterscheidet also zwischen *seiku̯-/seik- und
sek-.
- Holder schreibt s.v. Sēqu-ă-nā (Bd. 2, Sp. 1505):
- mit primitivem qu = urcelt. ku̯ (sonst
gall. u. britt. p, ir. c), nach d'Arbois de Jubainville
ligurisch, für *Seiq-ănā namen einer quelle,
[...]
cf. deutsch seichen, seihen,
gr. [σ]ἰκ-μά[δ]-ς, feuchtigkeit, (σ)ἰκμαῖος,
asl. seknati fließen,
ai. siñcáti ausgießen,
√ sēq = seiq u. suffix -ănā wie in Rod-ăno-s.
- Wem es nicht geläufig ist: nhd. seichen (bayer.
etwa [sɔɑxn] ausgesprochen) bedeutet „urinieren“, seihen hingegen
„durch ein Sieb gießen, filtrieren“.
-
- Jung verbreitet sich in seinen Réflexions über alle möglichen
Aspekte des Namens (neben Wurzel und Suffix auch Geschlecht, Betonung,
Vokallängen u.a.m.). Er leitet ihn von *Sek-(o)w-on-a
ab, wobei *sek-/seik- mit der genannten Wurzel identisch ist.
Allerdings war sie nach Jung im Kelt. rein velar, das -w- ist für
ihn ein Suffix.
- Du moment qu'on a reconnu que le groupe -qu-
contient un élément suffixal qui semble facultatif et que sēqu- est
un degré vocalique de la racine *si-k-, avec un suffixe -no
marquant la qualité et susceptible de former des adjectifs verbaux,
Sequana est «la rivière (ou la source) qui s'écoule finement,
presque s'égouttant» [...]
- Von dem Moment an, da man erkannt hat, dass die Gruppe
-qu- ein Suffixelement enthält, das fakultativ scheint, und dass
sēqu- eine vokalische Stufe der Wurzel *si-k- ist, mit
einem Suffix -no, das die Qualität bezeichnet und verbale Adjektive
bilden kann, ist Sequana „der Fluss (oder die Quelle), der dünn
(ab)fließt, fast tropfend“ [...]
- Un élément -w- est attesté encore ailleurs en
toponymie gauloise. L'élément a été ajouté à une racine attestée par ailleurs
en celtique dans *nantuo supposé par Nantuates (>
Nantua) à côté de nanto- «vallée»; ou à un thème attesté par
ailleurs en indoeuropéen dans Genaua «bouche» > Genève, Gênes;
cf. breton genou, à côté de latin gena, cf. γενύς [sic!],
got. kinnus.
- Ein Element -w- ist noch anderswo in den gallischen
Ortsnamen bezeugt. Das Element ist zu einer Wurzel hinzugefügt worden, die
außerdem bezeugt ist im Kelt. in *nantuo, vorausgesetzt von
Nantuates [kelt. Stamm im Wallis] (> Nantua [frz. Gemeinde im
Jura]) neben nanto- „Tal“; oder zu einem Thema, das außerdem im
Indogerman. bezeugt ist in [lat.] Gĕnăva „Mündung“ > Genève
[Genf, Stadt u. Kanton i.d. Schweiz], Gênes [< lat. Gĕnŭa, ital.
Genova, Hst. der ital. Region Ligurien]; vgl. bret. genou [„Wange“],
neben lat. gena [„Wange, Backe“], vgl. γένυς [„Kinn(backen)“], got.
kinnus [„Wange“].
-
- Nantuates: Wie die einzelsprachl. Belege bei Matasović (S.
283) zeigen, lautet der Wortstamm im Kelt. *nanto- ohne -u-.
Der Name des kelt. Volkes enthält also wohl tatsächl. ein Ableitungssuffix.
Genava: Schlechtes Beispiel, denn das -w- gehört zur Wurzel idg.
*g̑enu- „Kinn(backe)“, wie die Auflistung der einzelsprachl. Formen
bei Pokorny (S. 381f) deutlich macht. Lat. gena < *genus
ist Analogiebildung zu māla „Kinnlade“ (auch zur Vermeidung von
ident. Formen v. lat. genū „Knie“?); das -u- ist erhalten
im Adj. genu-īnus „zur Backe gehörig“ (genuīnus
dēns „Backenzahn“). Die Ortsnamen Genua und Genava
stellt Pokorny allerdings zur homonymen Wurzel idg. *g̑enu- „Knie“
(S. 380f) (die Walde/Hoffmann aber mit „Kinn“ zusammenführen möchte).
- Den Hinweis auf Jungs Aufsatz verdanke ich einer frz.
Dissertation:
Beck,
Noemie: Goddesses in Celtic Religion – Cult and Mythology. A
Comparative Study of Ancient Ireland, Britain and Gaul.- Diss. Univ. Lyon 2,
2009. Kap. 4.II.B.1.b. Etymology of her [the Seine's] name. Univ. Lumière
Lyon 2. Die Autorin führt noch weitere Literatur an, die die mir leider
nicht zugänglich war:
- Jung, Edmond: „Encore Sequana“, in: Revue Internationale
d’Onomastique, 25 (1973) 283-293.
- Hamp, Eric P(ratt): „Varia 1: IE *sek- ‘to lose
healthy moisture’“, in: Études celtiques 17 (1980), 165.
- Lacroix, Jacques: Les noms d'origine gauloise. (Bd. 3:) La
Gaule des dieux.- Paris: Éditions Errance, 2007. S. 49-50.
Aus unerfindlichen Gründen findet man gerade zu diesem Wort im Netz einige
mehr oder weniger haltlose Etymologien:
- engl.
Wikipedia-Art. Seine:
- [...] a Latinisation of the Gaulish (Celtic) Sicauna,
which is argued to mean "weird cat". [...] Another proposal has it that
Sequana is the Latin version of Gaulish Issicauna Lower-Icauna,
which would be the diminutive of Icauna, which was the Gaulish name
of the Yonne River.
- [...] eine Latinisierung des gallischen (keltischen)
Sicauna, von dem behauptet wird, dass es „seltsame Katze“ bedeutet.
[...] Ein anderer Vorschlag besagt, dass Sequana die lat. Version
des gall. Issicauna „Unter-Icauna“ ist, das ein Deminutiv von
Icauna wäre, das der gall. Name des Flusses Yonne war.
- Über „weird cat“ braucht man – auch mangels einer
Quellenangabe – nicht ernstlich nachzudenken. (Wie kommt so ein Quatsch
überhaupt in die Wikipedia?) Issicauna ist vermutl. zu denken als
Zusammensetzung aus kelt. *fissu- „unter“ (air. ís, kymr.
breton. is ds.) und dem Flussnamen Icauna (literar. erst
nachröm. belegt, die Weihestele CIL 13,2921 existiert nicht mehr). Diese
Deutung verschiebt das Problem aber nur: was steckt etymolog. hinter
Icauna? (S. Keunes RE-Art. Icauna.)
-
CIL 13,2921
bei der EDCS.
- BonjourLaFrance:
The Seine River:
- The name Sicauna is made up of Celtic sakw,
which means "sacred" and comes from the Proto-Indo-European root *sak-
(which also gave Latin sacer and sanctus [...]) and from a
Celtic (or more probably Pre-Indo-European) suffix -onna which means
"source, river", and which can be found in the name of many rivers of western
Europe (such as the Garonne or the Dordogne).
- Der Name Sicauna ist gebildet aus kelt. sakw,
das „heilig“ bedeutet und von der protoindogerman. Wurzel *sak-
kommt (die auch lat. sacer und sanctus [...] ergeben hat)
und einem kelt. (oder wahrscheinlicher vorindogerman.) Suffix -onna,
das „Quelle, Fluss“ bedeutet und das man in den Namen vieler Flüsse Westeuropas
(wie der Garonne oder der Dordogne) finden kann.
- Idg. *sak-(ro-) (Pokorny S. 878) lebt im Kelt. fort
in den Wörtern mkymr. mbret. hagr „hässlich“, korn. hager
ds. (ursprl. „bösen, höllischen Gottheiten heilig“?); *sakw finde
ich nirgends und halte es aus lautlichen Gründen für eher unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist auch, dass -(n)na in den meisten Fällen ein
Ableitungssuffix ist, wie wir es auch in Namen von Gottheiten (Vindonnus,
Cernunnos, Epŏna, Matrŏna), Bergen (Cebenna mons), Städten (Vienna), Völkern
(Eburōnes, Senŏnes, Santŏnes), Personen (Bratronos) und also auch Flüssen
(Garunna, Matrŏna, Rhodănus) finden (gall. Namen mit n-Suffix, s. Dottin S.
111f u. Jung S. 443f).
- Pieume: La déesse Sequana (forum cancoillotte.net):
- Le mot Sequana viendrait du celte "Squan" qui signifie
"semblable à un serpent". Faut-il y voir un lien avec la Vouivre, le serpent
ailé ou dragon qui hantait les sources de nos régions?
- Das Wort Sequana käme vom keltischen Squan,
das „einer Schlange ähnlich“ bedeutet. Muss man eine Verbindung mit der
Vouivre sehen, der geflügelten Schlange oder dem Drachen, der die Quellen
unserer Gebiete heimsucht?
- Noch so ein pseudokelt. Wort, für das ich keinen Beleg finden
kann. Überdies bezieht es der Schreiber offenbar nicht auf den Fluss, sondern
auf die Flussgöttin, die aber nicht nur die Funktion einer Gewässergottheit
hat, sondern anscheinend auch die eines mythischen Drachen. Alles zusammen
sehr von den bei Hydronymen sonst beobachteten Usancen abweichend.