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Paris liegt an der Seine


„Kalkutta liegt am Ganges, [...], doch dass ich so verliebt bin, das liegt an Madeleine“ sang weiland Vico Torriani 1960. Diese Seite ist Ende 2011 entstanden. Ich habe sie im Zuge der Beschäftigung mit Salzburger Ortsnamen kelt. Provenienz Ende 2013 / Anfang 2014 wieder durchgesehen, aktualisiert und erweitert. Ein Teil der Literatur, auf die ich bei der Überarbeitung gestoßen bin, war mir leider nicht zugänglich. An gedruckten Quellen nenne ich:

Pokorny, Julius: Indogerm. etymolog. Wörterbuch.- Bern, München: Francke, 1959.
s.  Etymologica Selecta: Quellen
Holder, Alfred: Alt-celtischer Sprachschatz.- Leipzig: Teubner, 1896-1913.
s.  Etymologica Selecta: Quellen
 Zeuß, Johann Kaspar: Grammatica Celtica.- Bd. 1.- Weidmann: Leipzig, 1853. Google Books.
 2. Aufl. Berlin: Weidmann, 1871. Archive.org.
 d'Arbois de Jubainville, Henri: Les premiers habitants de l'Europe.- Bd. 2.- Paris: Thorin & fils, 1894. Gallica.
1. Aufl. 1877 habe ich nicht gefunden.
 Loth, Joseph: Les mots latins dans les langues brittoniques.- Paris: Bouillon, 1892. Archive.org.
 Loth, Joseph: „Sequana. Sequani“. Revue celtique, 15 (1894) 98f. Archive.org.
 Dottin, Georges: La langue gauloise. Grammaire, textes et glossaire.- Paris: Klincksieck, 1920. Archive.org.
O'Rahilly, Thomas F[rancis]: Early Irish History and Mythology.- Dublin: Dublin Inst. f. Adv. Studies, 1946.
Obwohl ein Standardwerk, schwer aufzutreiben.
Delamarre, Xavier: Dictionnaire de la langue gauloise. Une approche linguistique du vieux-celtique continental.- 2., durchges. u. erw. Aufl.- Paris: Éditions Errance, 2003.
Leider nur über höchstwahrscheinlich illegale Downloadangebote erreichbar. Gerade bei einem Nachschlagewerk wäre die Möglichkeit einer Online-Abfrage wünschenswert.
Jung, Edmond: „Réflexions sur le nom Sequana“, in: Revue des Études Latines, 47 (1969) 434-461.
In der örtl. Universität verfügbar, hier wäre aber ein Online-Angebot ein Desiderat.
 Keune, Johann Baptist: Art. Icauna. Paulys Realencyclop. d. class. Altertumswiss., IX,1 (1914) Sp. 819. PNG-Bild, Archive.org.

Der Name der frz. Haupstadt Paris geht auf das lat. Lutecia Parisiorum „Lutecia der Parisier“ zurück (zur frühen Entwicklung des Namens der Stadt s. meine Seite  Lutetia, Paris), die Parisii waren der gall. Stamm, der in und um Lutecia wohnte. Die Stadt liegt an der Seine, deren Name auf lat.-gall. Sequana zurückgeht. So weit so gut.

Es ist naheliegend anzunehmen, dass beide Namen kelt. Herkunft sind. Sie geben jedoch Probleme auf:

Parisii

Da also das anlautende p- von Parisii aus k- entstanden sein muss, werden als mögliche Wurzeln dafür vorgeschlagen:

  1. Kelt. *ker- „tun, machen“ (mkymr. peri „machen, bewirken“, paraf „ich mache“, mbret. paras „er machte“), idg. *ker- ds. (Pokorny S. 641), also „Macher, Bewirker“ o.ä.
    Diese Deutung ist alt und findet sich bereits in Zeuß' Grammatikbuch (1. Aufl. S. 97, 2. Aufl. S. 82):
    peri (infin. verbi param, paraf, efficio, unde nomen Parisii, Parisi, efficaces, strenui) – als Bsp. für Ablaut im Kymr.
    peri (Infinitiv des Verbs param, paraf „machen, bewirken“, wovon der Name Parisii, Parisi „wirksam, tatkräftig“)
    Ähnlich d'Arbois de Jubainville (Habitants 2. Aufl. S. 284):
    Parisii tient lieu de *Qarisii et dérive d'un thème verbal *qari- qui explique à la fois le verbe irlandais cuiriu «je pose, j'effectue», et le verbe gallois peri «être cause de quelque chose». Les Parisii seraient des gens «dont les actes produisent des effets».
    Parisii steht für *Qarisii und stammt von einem verbalen Thema *qari-, das zugleich das irische Verb cuiriu „ich stelle, führe aus“ erklärt, und das kymrische Verb peri „Ursache von etwas sein“. Die Parisii wären Leute, „deren Handlungen Wirkungen hervorbringen“. (d.h. die Wirksamen, Tatkräftigen, Erfolgreichen?)
    Beides wird von Holder in seinem Sprachschatz unter dem Lemma Păr-īs-ĭī (Bd. 2, Sp. 932) zitiert:
    nach Zeuß ‛efficaces, strenui’, ‛die tatkräftigen, tapfern’, nach d'Arbois de Jubainville ‛des gens dont les actes produisent des effets’, für *Quăr-īsĭī, abgeleitet vom verbalstamm *qari- *qariu, air. cuirim ‛ich setze, stelle, lege, schicke, lade ein’, cy. peri, infin. des verb param, paraf ‛würke’ und suffix -īs-ĭo-
    In dieselbe Kerbe schlägt Dottin (S. 277):
    parisio-, thème de nom de peuple; cf. gall. par- «faire».
    parisio-: Volksnamenthema; vgl. kymr. par- „machen“.
    Vermutl. von derselben Wurzel, aber verstanden im Sinne von „Arbeiter, Handwerker“, beim  engl. Wikipedia-Art. Paris (Stand 4. Jan. 2014):
    It is believed that the name of the Parisii tribe comes from the Celtic Gallic word parisio, meaning "the working people" or "the craftsmen".
    Man glaubt, dass der Name des Stammes der Parisii von dem keltischen gallischen Wort parisio kommt, das „die Arbeitsleute“ oder „die Handwerker“ bedeutet.
    O'Rahilly (S. 147-48) stellt den etymolog. verwandten Namen des Stammes der Quariates (Plin. nat. 3,35) zwar zur selben Wurzel, aber versteht ihn als Ableitung zu einer Gottheit, deren Name „Former, Macher“ o.ä. bedeutet.
    O'Rahillys Werk war mir nicht zugänglich, den Hinweis darauf verdanke ich der Seite  Parisi. Encyclopédie Merikavel über den britann. Stamm der Parisi – s.  Wikipedia-Art. Parisi (Yorkshire).
    S. auch  Wikipedia-Art. Quariates.
    Joseph Loth (Mots latins, S. 195) betrachtet das Verb peri als Entlehnung aus lat. păr-io „hervorbringen, gebären“. Dessen Wurzel ist idg. *per- ds. (Pokorny S. 818), zu dem neben der lat. Wortfamilie um părio, -ĕre und părāre „bereiten, verschaffen“ einige Wörter für Tierjunge gehören, u.a. die heute ungebräuchlichen nhd. Farre (junger Stier) u. Färse (Kuh, die noch nicht gekalbt hat). Allerdings ist Loth mit dieser Ansicht ziemlich allein geblieben.
  2. Kelt. *kari̯o- „Kessel“ (air. coire, mkymr. peir, akorn. per, viell. auch it. pai[u]olo alle ds.), idg. *keru- „Schüssel, Schale“ (Pokorny S. 642), also wohl „Kesselleute“ (d.i. „Kesselkultleute“? oder „Kesselmacher“?).
    Diese Deutung teilt Delamarres Gallisch-Wörterbuch unter dem Stichwort pario- mit:
    pario-, ‘chaudron’ [...] le *pario- était une chaudronnerie en métal et non une poterie. Cf. aussi les ethniques Parisi(i) en France (> Paris) et en GB et Quariates (Htes-Alpes > Queyras), ces derniers avec préservation sporadique du kw et suffixe -ati-, à comprendre ‘Ceux du chaudron’ (on sait l'importance du chaudron dans les récits de mythologie irlandaise), UKI 165;
    pario- „Kessel“ [...] der *pario- war ein Geschirr aus Metall und kein Tongefäß. Vgl. auch die Volksnamen Parisi(i) in Frankreich (> Paris) und in GB und Quariates (Departement Hautes-Alpes, > Queyras), diese letzteren mit sporadischer Bewahrung des k und Suffix -ati-, zu verstehen als „die des Kessels“ [Kesselleute], (man kennt die Bedeutung des Kessels in den Erzählungen der irischen Mythologie), UKI 165;
    UKI = Pokorny, Julius: Zur Urgeschichte der Kelten und Illyrier.- Halle a.d.Saale: Niemeyer, 1938. (Sonderdr. aus: Zeitschrift f. celtische Philologie 20 (1936) 315-352, 489-522 u. 21 (1938) 55-166). Konnte ich im Netz nicht auftreiben.
    René Goscinny hat in seinen Asterixgeschichten die Kesselliebe der Kelten fleißig persifliert; man denke an den Kesselverbrauch der beiden Druiden im Kampf der Häuptlinge oder den bereits im Titel genannten Kessel in Asterix und der Kupferkessel (frz. Orig. Astérix et le chaudron). Aus Gründen des Urheberrechtes getraue ich mich aber nicht, entsprechende Beispiele online zu stellen.
    So auch der Eintrag im  frz. Wiktionary s.v. Parisii (Stand 4. Jan. 2014) unter Verweis auf Delamarres Wörterbuch. Während Delamarre aber wohl kultische Beziehung zum Kessel im Sinn hatte („Kesselkultleute“ o.ä., vgl. den  Wikipedia-Art. Keltischer Kesselkult, Stand 11. Jan. 2014), fasst Wikipedia die Beziehung eher in prosaisch-handwerklichem Sinn:
    Ethnonyme gaulois signifiant peut-être «ceux du chaudron» ou «ceux (qui font) des chaudrons» *pario («chaudron») [...].
    Gallischer Volksname, der vielleicht „die des Kessels“ oder „die Kessel machen“ bedeutet - *pario „Kessel“.
  3. Auf nägypt. br, kopt. ⲃⲁⲁⲣⲉ „Schiff, Barke“, griech. βᾶρις, lat. bāris dass. führt das  Online Etymology Dictionary s.v. Paris es zurück:
    The tribal name is of unknown origin, but traditionally derived from a Celtic par "boat" (cf. Gk. baris; see barge) [...].
    Der Stammesname ist von unbekannter Herkunft, wird aber traditionellerweise von einem keltischen par „Boot“ abgeleitet.
    Also ein Fremdwort ägypt. Herkunft, aus dem Lat. übernommen? Aber p- aus b-? Ich kann ein solches Wort bei Matasović nicht finden, „Boot“ heißt ir. bád, „Schiff“ long. Und was heißt traditionally? Niemand sonst vertritt diese Deutung.

Sequana

Kelt. Sekana hätte lautgesetzl. zu gall. Sepana werden müssen. Daher müsste man annehmen, dass die lat. Schreibung qu keinen Labiovelar wiedergibt, sondern die Lautfolge /k-u/, wobei an der Stelle des Bindestrichs ein kurzer Vokal gestanden haben könnte): *Secuana < *Secau(a)na – was immer es bedeutet haben mag. (Caes.Gall. 1,1 Sēquăna; Strabo Geogr. 4,3,2 [=C. 192] Σηκοάνας; CIL 13,2863 [=S. 438] Secuan[ae] für die Flussgottheit.)
 CIL 13, T. 1, Fasc. 1 bei Arachne;  CIL 13,2863 bei der EDCS.
 Strabon Geogr., 4. Buch bei Wikisource.

Delamarre geht aber davon aus, dass idg. Labiovelar im Gall. mancherorts erhalten geblieben ist, z.B. im Namen der Quariates (s. den oben zitierten Ausschnitt des Lemmas pario-) oder in zwei Wörtern des Kalenders von Coligny, dem Monatsnamen equos und dem unerklärten Wort quimon, was nach Delamarre ein Archaismus sein könnte (s. Stichwort equos.) Zu Sequana äußert er sich offenbar nicht.

  1. In seiner Miszelle Sequana. Sequani zerlegt Loth den Namen in Seco-vana, Secu-vana, das lat. Sequana ergeben musste. Die beiden Bestandteile sind: idg. *sek- „schneiden“ (davon kymr. hesg „Riedgras, Schilf mit schneidenden Blättern“, Pokorny S. 895) und kelt. *gano- „(er)schlagen“ (davon kymr. gwanu „treffen, verletzen“), idg. *gu̯hen- ds. (Pokorny S. 491-93):
    Je ferai remarquer seulement que les langues brittoniques possèdent une racine sec- qui signifie couper: gallois hesg, armor. hesc, irl. sescenn, sorte de glaïeul à bords coupants, = sec-sco; hesken, scie. Quant à -wana, on pourrait le rapprocher du gallois gwanu, percer, pénétrer à travers.
    Ich werde lediglich darauf aufmerksam machen, dass die britannischen Sprachen eine Wurzel sec- besitzen, die „schneiden“ bedeutet: walisisch [=kymr.] hesg, breton. hesc, ir. sescenn, Art Gladiole mit schneidenden Rändern, = sec-sco-; hesken „Säge“. Was -wana betrifft, könnte man es zu walisisch gwanu „durchbohren, durchdringen“ stellen.
    Was aber soll der Name bedeuten? Der zweite Bestandteil passt schlecht zu einem Flussnamen. Unschärfen in der Wortbedeutung (hesc ist keine Gladiole, air. sescenn bedeutet „Sumpf“ und kommt nach Pokorny von *sek- „abrinnen“) sind wohl dem Alter des Aufsatzes geschuldet.
  2. Holder und Pokorny stellen es zu idg. *seik- „ausgießen, rinnen“ (Pokorny S. 893f), davon nhd. seihen u. (ver-)siegen, lat. siccus „trocken“ (ausrinnen = trocknen). Pokorny stellt auch den Flussnamen Sèvre < *Siparis hierher. Einige Wörter des Germ. sind laut Pokorny von einer Wurzel *seik- (ohne Labial) gebildet, z.B. Iterativbildg. sickern.
    Das kelt. Wort für „trocken“ *sisko- (air. sesc „trocken“, mkymr. hysb u. mbret. hesp ds.) ist nach Matasovic thematisiert aus idg. *si-sk-u(-o)-, dies ein redupl. Adj. v. idg. *sek- „abrinnen, versiegen“ (Pokorny S. 894). Pokorny unterscheidet also zwischen *seik-/seik- und sek-.

    Holder schreibt s.v. Sēqu-ă-nā (Bd. 2, Sp. 1505):
    mit primitivem qu = urcelt. ku̯ (sonst gall. u. britt. p, ir. c), nach d'Arbois de Jubainville ligurisch, für *Seiq-ănā namen einer quelle, [...] cf. deutsch seichen, seihen, gr. [σ]ἰκ-μά[δ]-ς, feuchtigkeit, (σ)ἰκμαῖος, asl. seknati fließen, ai. siñcáti ausgießen, √ sēq = seiq u. suffix -ănā wie in Rod-ăno-s.
    Wem es nicht geläufig ist: nhd. seichen (bayer. etwa [sɔɑxn] ausgesprochen) bedeutet „urinieren“, seihen hingegen „durch ein Sieb gießen, filtrieren“.
  3. Jung verbreitet sich in seinen Réflexions über alle möglichen Aspekte des Namens (neben Wurzel und Suffix auch Geschlecht, Betonung, Vokallängen u.a.m.). Er leitet ihn von *Sek-(o)w-on-a ab, wobei *sek-/seik- mit der genannten Wurzel identisch ist. Allerdings war sie nach Jung im Kelt. rein velar, das -w- ist für ihn ein Suffix.
    Du moment qu'on a reconnu que le groupe -qu- contient un élément suffixal qui semble facultatif et que sēqu- est un degré vocalique de la racine *si-k-, avec un suffixe -no marquant la qualité et susceptible de former des adjectifs verbaux, Sequana est «la rivière (ou la source) qui s'écoule finement, presque s'égouttant» [...]
    Von dem Moment an, da man erkannt hat, dass die Gruppe -qu- ein Suffixelement enthält, das fakultativ scheint, und dass sēqu- eine vokalische Stufe der Wurzel *si-k- ist, mit einem Suffix -no, das die Qualität bezeichnet und verbale Adjektive bilden kann, ist Sequana „der Fluss (oder die Quelle), der dünn (ab)fließt, fast tropfend“ [...]
    Un élément -w- est attesté encore ailleurs en toponymie gauloise. L'élément a été ajouté à une racine attestée par ailleurs en celtique dans *nantuo supposé par Nantuates (> Nantua) à côté de nanto- «vallée»; ou à un thème attesté par ailleurs en indoeuropéen dans Genaua «bouche» > Genève, Gênes; cf. breton genou, à côté de latin gena, cf. γενύς [sic!], got. kinnus.
    Ein Element -w- ist noch anderswo in den gallischen Ortsnamen bezeugt. Das Element ist zu einer Wurzel hinzugefügt worden, die außerdem bezeugt ist im Kelt. in *nantuo, vorausgesetzt von Nantuates [kelt. Stamm im Wallis] (> Nantua [frz. Gemeinde im Jura]) neben nanto- „Tal“; oder zu einem Thema, das außerdem im Indogerman. bezeugt ist in [lat.] Gĕnăva „Mündung“ > Genève [Genf, Stadt u. Kanton i.d. Schweiz], Gênes [< lat. Gĕnŭa, ital. Genova, Hst. der ital. Region Ligurien]; vgl. bret. genou [„Wange“], neben lat. gena [„Wange, Backe“], vgl. γένυς [„Kinn(backen)“], got. kinnus [„Wange“].
    Nantuates: Wie die einzelsprachl. Belege bei Matasović (S. 283) zeigen, lautet der Wortstamm im Kelt. *nanto- ohne -u-. Der Name des kelt. Volkes enthält also wohl tatsächl. ein Ableitungssuffix.
    Genava: Schlechtes Beispiel, denn das -w- gehört zur Wurzel idg. *g̑enu- „Kinn(backe)“, wie die Auflistung der einzelsprachl. Formen bei Pokorny (S. 381f) deutlich macht. Lat. gena < *genus ist Analogiebildung zu māla „Kinnlade“ (auch zur Vermeidung von ident. Formen v. lat. genū „Knie“?); das -u- ist erhalten im Adj. genu-īnus „zur Backe gehörig“ (genuīnus dēns „Backenzahn“). Die Ortsnamen Genua und Genava stellt Pokorny allerdings zur homonymen Wurzel idg. *g̑enu- „Knie“ (S. 380f) (die Walde/Hoffmann aber mit „Kinn“ zusammenführen möchte).
    Den Hinweis auf Jungs Aufsatz verdanke ich einer frz. Dissertation:
     Beck, Noemie: Goddesses in Celtic Religion – Cult and Mythology. A Comparative Study of Ancient Ireland, Britain and Gaul.- Diss. Univ. Lyon 2, 2009. Kap. 4.II.B.1.b. Etymology of her [the Seine's] name. Univ. Lumière Lyon 2. Die Autorin führt noch weitere Literatur an, die die mir leider nicht zugänglich war:
    Jung, Edmond: „Encore Sequana“, in: Revue Internationale d’Onomastique, 25 (1973) 283-293.
    Hamp, Eric P(ratt): „Varia 1: IE *sek- ‘to lose healthy moisture’“, in: Études celtiques 17 (1980), 165.
    Lacroix, Jacques: Les noms d'origine gauloise. (Bd. 3:) La Gaule des dieux.- Paris: Éditions Errance, 2007. S. 49-50.

Aus unerfindlichen Gründen findet man gerade zu diesem Wort im Netz einige mehr oder weniger haltlose Etymologien:

 engl. Wikipedia-Art. Seine:
[...] a Latinisation of the Gaulish (Celtic) Sicauna, which is argued to mean "weird cat". [...] Another proposal has it that Sequana is the Latin version of Gaulish Issicauna Lower-Icauna, which would be the diminutive of Icauna, which was the Gaulish name of the Yonne River.
[...] eine Latinisierung des gallischen (keltischen) Sicauna, von dem behauptet wird, dass es „seltsame Katze“ bedeutet. [...] Ein anderer Vorschlag besagt, dass Sequana die lat. Version des gall. Issicauna „Unter-Icauna“ ist, das ein Deminutiv von Icauna wäre, das der gall. Name des Flusses Yonne war.
Über „weird cat“ braucht man – auch mangels einer Quellenangabe – nicht ernstlich nachzudenken. (Wie kommt so ein Quatsch überhaupt in die Wikipedia?) Issicauna ist vermutl. zu denken als Zusammensetzung aus kelt. *fissu- „unter“ (air. ís, kymr. breton. is ds.) und dem Flussnamen Icauna (literar. erst nachröm. belegt, die Weihestele CIL 13,2921 existiert nicht mehr). Diese Deutung verschiebt das Problem aber nur: was steckt etymolog. hinter Icauna? (S. Keunes RE-Art. Icauna.)
 CIL 13,2921 bei der EDCS.
 BonjourLaFrance: The Seine River:
The name Sicauna is made up of Celtic sakw, which means "sacred" and comes from the Proto-Indo-European root *sak- (which also gave Latin sacer and sanctus [...]) and from a Celtic (or more probably Pre-Indo-European) suffix -onna which means "source, river", and which can be found in the name of many rivers of western Europe (such as the Garonne or the Dordogne).
Der Name Sicauna ist gebildet aus kelt. sakw, das „heilig“ bedeutet und von der protoindogerman. Wurzel *sak- kommt (die auch lat. sacer und sanctus [...] ergeben hat) und einem kelt. (oder wahrscheinlicher vorindogerman.) Suffix -onna, das „Quelle, Fluss“ bedeutet und das man in den Namen vieler Flüsse Westeuropas (wie der Garonne oder der Dordogne) finden kann.
Idg. *sak-(ro-) (Pokorny S. 878) lebt im Kelt. fort in den Wörtern mkymr. mbret. hagr „hässlich“, korn. hager ds. (ursprl. „bösen, höllischen Gottheiten heilig“?); *sakw finde ich nirgends und halte es aus lautlichen Gründen für eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist auch, dass -(n)na in den meisten Fällen ein Ableitungssuffix ist, wie wir es auch in Namen von Gottheiten (Vindonnus, Cernunnos, Epŏna, Matrŏna), Bergen (Cebenna mons), Städten (Vienna), Völkern (Eburōnes, Senŏnes, Santŏnes), Personen (Bratronos) und also auch Flüssen (Garunna, Matrŏna, Rhodănus) finden (gall. Namen mit n-Suffix, s. Dottin S. 111f u. Jung S. 443f).
 Pieume: La déesse Sequana (forum cancoillotte.net):
Le mot Sequana viendrait du celte "Squan" qui signifie "semblable à un serpent". Faut-il y voir un lien avec la Vouivre, le serpent ailé ou dragon qui hantait les sources de nos régions?
Das Wort Sequana käme vom keltischen Squan, das „einer Schlange ähnlich“ bedeutet. Muss man eine Verbindung mit der Vouivre sehen, der geflügelten Schlange oder dem Drachen, der die Quellen unserer Gebiete heimsucht?
Noch so ein pseudokelt. Wort, für das ich keinen Beleg finden kann. Überdies bezieht es der Schreiber offenbar nicht auf den Fluss, sondern auf die Flussgöttin, die aber nicht nur die Funktion einer Gewässergottheit hat, sondern anscheinend auch die eines mythischen Drachen. Alles zusammen sehr von den bei Hydronymen sonst beobachteten Usancen abweichend.

Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 3. Jan. 2017