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Gog und Magog


Ehre, wem Ehre gebührt: der englischsprachige Wikipedia-Artikel Gog and Magog ist sehr ausführlich und nennt viele Texte, die ich vorher nicht kannte. Aber leider verweist er hauptsächlich auf Sekundärliteratur statt auf Ausgaben der genannten Primärquellen. Die große Stärke des Artikels ist die umfassende Darstellung, die den Verästelungen des Motivs in Literatur und Religion nachgeht. Ich beschränke mich hier hauptsächlich auf Bibel und Koran, sowie ein paar Dinge, die mir bemerkenswert erscheinen oder mein Interesse erregt haben. Dafür versuche ich, Primärquellen zu zitieren oder darauf zu verlinken.

Altes Testament


Ausschnitt aus der Karte The ancient world and the descendants of Noah[1]. Einige Völker sind wahrscheinlich zu weit im Norden angesiedelt, Magog ist nach der Angabe des Josephus ins Skythengebiet gesetzt.– Quelle: Archive.org.– Lizenz: gemeinfrei.– Bearbeitung: etwas gedreht, beschnitten, Beschriftungen entfernt oder „verdichtet“, eingefärbt.

Ez 38 und 39 enthält die Prophezeiung eines endzeitlichen Kampfes des Feindes aus dem Norden gegen das aus dem Exil und der Diaspora zurückgekehrte Israel: Gog aus dem Land Magog, der Fürst von Rosch, Meschech und Tubal, wird mit seinem Heer, zu dem auch Truppen aus Gomer und Beth-Togarma (38,6) und Söldner (oder Bundesgenossen?) aus Persien, Kusch (Nubien? Kassiten?) und Put (Libyen? Eritrea?) (38,5) gehören werden, gegen Israel ziehen und dort, auf den Bergen Israels (39,4), durch ein göttliches Strafgericht vernichtet werden.

Haupt bemerkt hierzu, ein Land Rosch gebe es nicht, hebr. נְשִׂיא רֹאשׁ neśîʾ rôš bedeute vielmehr „chief prince“, so wie כֹּהֵן הָרֹאשׁ kohen hā-rôš „chief priest, Oberpriester“ heißt.[2] Winckler versteht ראשׁ als „Oberhaupt, Anführer, Fürst“ und streicht נשׂיא als Glosse.[7] (Aber warum sollte rôš erklärungsbedürftig geworden sein?)

Delitzsch und Meyer denken bei Gog an den Lyderkönig Gyges (reg. ca. 680-644). Nach Meyer „ist dies Zukunftsbild nach dem Vorbilde der grossen Skytheninvasion entworfen“.[3] Delitzsch bringt aber auch Gâgu von Saḫi, „den mächtigen Beherrscher eines kriegerischen Gebirgsvolkes nicht allzuweit nördlich von Assyrien“, ins Spiel, dessen Söhne Assurbanipal (reg. ca. 668-631/627) besiegt und gefangengenommen hatte.[4] Auch Streck setzt Gâgi und den atl. Gog in Beziehung.[8]

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass Hesekiel etwas von Gâgu von Saḫi wusste? Daher vermutet Haupt, Gog sei als Appellativ zu verstehen, und verweist dafür auf Bezeichnungen wie Großmogul „Herrscher des indischen Mogulreiches“ (engl. Mogul < pers. مغول muġûl „Mongole“) und Großtürke „Herrscher des Osmanischen Reichs“[2] und andererseits auf die Amarna-Tafel 1, Z. 38 bei Knudtzon, wo der Begriff mâtuga-ga-ia „Gagäer“ genannt ist, der meist im Sinne von „Barbar, Nordländer“ verstanden wird[9]. (Dem widerspricht allerdings Weber im Anmerkungsband, er vermutet einen alten Namen für Karkemiš und damit einen definierten geographischen Begriff[10] – was aber kein Widerspruch zur herkömmlichen Auffassung sein muss. Vgl. Appellativische Verwendung von Einwohnerbezeichnungen.)

Winckler hat's wie immer im Urin.[6] Für den Panbabylonier ist Ez 38-39 „das weltschöpfungsepos der Babylonier“, in welchem Tiamat die Stelle des Angreifers einnimmt. „Eine richtige auslegerseele“ hat diesen Mythos dann umgemodelt in einen endzeitlichen Kampf gegen Israel, „ein bussprediger“ hat noch die Partie ab 39,22 hinzugefügt. Gog ist niemand anderer als Alexander der Große. Der Text ist entstanden zwischen der Schlacht am Granikos (Mai 334 v.Chr.) und der Schlacht am Issos (Nov. 333 v.Chr.), in dieser Zeit hätten die Eliten Israels noch zu den Persern gehalten. Für seine zahlreichen Ad-hoc-Behauptungen braucht Winckler keine Argumente, es ist ja evident „für den, der sehen will“, nur für „einen vom dogma besessenen“ liegt es nicht auf der Hand. Doch die feindselige Diktion Wincklers verrät, dass ihm selber klar ist, dass er hier argumentativ auf tönernen Füßen steht.

Meschech und Tubal sind nach Delitzsch[5] und Meyer[3] die bei Hdt. 3,94,2; 7,78[11] genannten Móschoi und Tibarēnoí, die wohl in der Landschaft Pontus, am Südostufer des Schwarzen Meeres, zu verorten sind; Gomer (keilinschriftl. gimir, griech. Kimmérioi) ist wohl in der Gegend von Kappadokien zu suchen, Beth-Togarma vielleicht weiter östlich im südwestlichen Armenien. In dieser Region ist vermutlich auch אֶרֶץ הַמָּגֹוג ʾæræṣ ham-māgôg „das Land ham-Magog“ (oder wie die LXX versteht „das Land des Magog“) (38,2) bzw. einfach מָגֹוג māgôg ohne Artikel (39,6) zu suchen.

Der Name Magog kommt auch in der Völkertafel (Gen 10) als Sohn Japhets vor (Gen 10,2). Er wird u.a. als ass. mât Gûgi „Land des Gug“ gedeutet. Delitzsch erklärt: „Das Land scheint nach einem gewaltigen Herrscher des Nordens benannt und der Landesname selbst frei erfunden und rein ideell zu fein; wahrscheinlich repräsentiert er ganz allgemein die Völker nördlich von Assyrien […].“[4] Für Haupt gibt es auch kein Land Magog. Er hält den Namen in Ez 38,2 für eine Interpolation aus der Völkertafel. Und dort und in Ez 39,6 sei es eine Korruptel aus Gôg.[2] Flavius Josephus identifiziert Magog in seinen Jüdischen Altertümern 1,123 (Kap. 6)[12] mit den Skythen. Aber ich halte es für fraglich, dass die Israeliten in der 1. Hälfte des 1. Jt. v.Chr. etwas von den Völkern jenseits des Kaukasus wussten.

Die LXX hat in Ez 38,2 στήρισον τὸ πρόσωπόν σου ἐπὶ Γωγ καὶ τὴν γῆν τοῦ Μαγωγ „richte dein Antlitz fest auf Gog und das Land des Magog“. Weiter kommt der Name Magog nicht vor, denn in Ez 39,6 heißt es καὶ ἀποστελῶ πῦρ ἐπὶ Γωγ „und ich werde Feuer senden auf Gog“ (im masoret. Text steht stattdessen Magog). Dafür hat die LXX in Num 24,7 (Weissagung Bileams) καὶ ὑψωθήσεται ἢ Γωγ βασιλεία αὐτοῦ „und sein Königreich wird erhöht werden über Gog“, während der masoret. Text liest וְיָרֹם מֵאֲגַג מַלְכֹּו „und sein König wird höher sein als Agag“ (wer immer hier mit Agag gemeint ist, wohl kaum der Amalekiterkönig aus 1Sam 15).

Eine eigenartige Geschichte ist Am 7,1. Der masoret. Text lautet: וְהִנֵּה יֹוצֵר גֹּבַי בִּתְחִלַּת עֲלֹות הַלָּקֶשׁ וְהִנֵּה־לֶקֶשׁ אַחַר גִּזֵּי הַמֶּלֶךְ „und siehe, er formte einen Heuschreckenschwarm am Beginn des Aufgehens des Grummet; und siehe Grummet (war) nach der Mahd des Königs“. (Die erste Ernte und die erste Mahd gehören dem König. Wenn die zweite Ernte, die den Bauern gehört, von Heuschrecken vernichtet wird, können sie kaum überleben.) Die LXX aber sagt […] καὶ ἰδοὺ ἐπιγονὴ ἀκρίδων ἐρχομένη ἑωθινή, καὶ ἰδοὺ βροῦχος εἷς, Γωγ ὁ βασιλεύς „und siehe, ein Nachwuchs von Heuschrecken, kommend am Morgen (od. aus dem Osten), und siehe, eine Larve, Gog, der König“. Gog ein König der Heuschrecken? Griech. βροῦχος broúkhos bezeichnet die flügellose Larve (Nymphe) der Heuschrecke. Amos ist älter als Hesekiel. Doch scheint mir das Bild von den Heerscharen Gogs als Heuschreckenschwarm sekundär, mithin müsste der Text bei Ez älter sein als der bei Am. Vermutlich ist also dem masoret. Text des Am der Vorzug zu geben.

  1. Hurlbut, Jesse R.; Vincent, John H.: Bible Atlas. A manual of Biblical geography and history.– Rev. ed. Chicago: Rand, McNally & Co., 1910. S. 24
  2. The book of the Prophet Ezekiel. Crit. ed. of the Hebrew text. Hrsg. v. C. H. Toy.– Leipzig: Hinrichs, 1899. (The sacred books of The Old Testament, T. 12) S. 99
  3. Meyer, Eduard: Geschichte des Alterthums. Bd. 1.– Stuttgart: Cotta, 1884. § 464 = S. 557f
  4. Delitzsch, Friedrich: Wo lag das Paradies? Eine bibl.-assyriolog. Studie.– Leipzig: Hinrichs, 1881. S. 246f (Magog)
  5. – " –. S. 250f (Tubal und Meschech)
  6. Winckler, Hugo: Altorientalische Forschungen. 2. Reihe, Bd. 1.– Leipzig: Pfeiffer, 1898. S. 160-171
  7. – " –. S. 166
  8. Streck, Maximilian: „Das Gebiet der heutigen Landschaften Armenien, Kurdistân und Westpersien nach den babylonisch-assyrischen Keilinschriften“, Zeitschr. f. Assyriologie u. verwandte Gebiete 15 (1900), S. 321
  9. Knudtzon, J[ørgen] A[lexander] (Hrsg.): Die El-Amarna-Tafeln. M. Einl. u. Erl. hrsg. v. ~. 1. Teil: Die Texte.– Leipzig: Hinrichs, 1915. (Vorderasiat. Bibl., Bd. 2/1) S. 63
  10. [Weber, Otto:] Die El-Amarna-Tafeln. M. Einl. u. Erl. hrsg. v. J. A. Knudtzon. Anmerkungen u. Register bearb. v. ~ u. Erich Ebeling. 2. Teil: Anmerkungen u. Register.– Leipzig: Hinrichs, 1915. (Vorderasiat. Bibl., Bd. 2/2) S. 1015
  11. Herodotus. With an Engl. transl. by A[lfred] D[enis] Godley. (The Loeb Classical Library)
    Bd. 2.– London: Heinemann, 1921, repr. 1928. S. 122f (3,94)
    Bd. 3.– London: Heinemann, 1922, repr. 1938. S. 386f (7,78)
  12. Josephus. With an Engl. transl. by H[enry] St. J[ohn] Thackeray. Bd. 4: Jewish antiquities, books I-IV.– London: Heinemann, 1930. Ndr. 1961. (The Loeb Class. Libr.) S. 58-61

Jüdische Literatur

Das vermutlich aus dem 2. Jh. v.Chr. stammende Buch der Jubiläen, eine Paraphrase der atl. Bücher Gen und Ex, nennt Gog und Magog bei der Aufteilung der Erde unter die Söhne und Nachkommen Noahs, aber nicht zusammen. (Vom hebr. Original sind in Qumran etliche Fragmente ans Tageslicht gekommen, daneben gibt es ein paar Bruchstücke griech. und lat. Übersetzungen. Nur auf Äthiopisch ist das Werk vollständig erhalten, da es der äthiopisch-orthodoxen Kirche und den äthiopischen Juden als kanonisch gilt.)
7,19[1][4][7]: Magog (äth. ማጉግ māgūg) wird in der Aufzählung der Söhne Japhets genannt;
8,25[2][5][8]: Japhets Gebiet erstreckt sich nach Nordosten zum Gebiet Gogs (ጎግ gōg);
9,8[3][6][9]: Japhet teilt Magog (ማጎግ māgōg) Gebiete im Norden als Land zu.

Die sog. Sibyllinischen Orakel nennen im 3. Buch, das jüdischen Ursprungs ist und ebenfalls auf das 2. Jh. v.Chr. zurückgeht, Gog und Magog nebeneinander und scheinen sie als Namen zusammengehörender oder benachbarter Völker zu verstehen. Aus Gog aus Magog ist Gog und Magog geworden:

Raschi erwähnt Gog in seinem Kommentar zu Jes 18,4f[15][16].

  1. መጽሐፈ፡ ኩፋሌ፡ or The Ethiopic version of the Hebrew book of Jubilees. Hrsg. v. R[obert] H[enry] Charles.– Oxford: Clarendon, 1895. (Anecdota Oxoniensia) S. 27 (7,19)
  2. – " –. S. 33 (8,25)
  3. – " –. S. 34 (9,8)
  4. Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Übers. u. hrsg. v. Emil Kautzsch. Bd. 2.– Tübingen: Mohr (Siebeck), 1900. Ndr. 1921.
    Buch der Jubiläen, übers. v. Enno Littmann: S. 53 (7,19)
  5. – " –. S. 56 (8,25)
  6. – " –. S. 57 (9,8)
  7. Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel. Übers. u. erl. v. Paul Rießler.– Augsburg: Filser, 1928. S. 559 (Jub. 7,19)
  8. – " –. S. 564 (8,25)
  9. – " –. S. 566 (9,8)
  10. Die Oracula Sibyllina. Hrsg. v. Joh[hannes] Geffcken.– Leipzig: Hinrichs, 1902. (D. griech. christl. Schriftst. d. ersten 3 Jh.) S. 64 (3,319f)
  11. – " –. S. 75 (3,512)
  12. Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Übers. u. hrsg. v. Emil Kautzsch. Bd. 2.– Tübingen: Mohr (Siebeck), 1900. Ndr. 1921.
    Sibyllin. Orakel, übers. v. Friedrich Blass: S. 191 (3,319f)
  13. – " –. S. 195 (3,512)
  14. Christians Allies of Gog and Magog (Diskussion darüber, wen Raschi mit Esau meint)
  15. Rashi on Isaiah 18:4 (liest gwg)
  16. Jes 18,4 (Raschitext liest ʿśw)
  17. Grossman, Avraham: „The Commentary of Rashi on Isaiah and the Jewish-Christian Debate“, Studies in Medieval Jewish Intellectual and Social History. FS Robert Chazan. Hrsg. v. David Engel, Lawrence H. Schiffman, Elliot R. Wolfson. Leiden: Brill, 2012. S. 54

Neues Testament


Sur les hautes de tere sont montez,/ Et les chastels de seinz sont environez („Auf die Höhen der Erde stiegen sie,/ und die Festungen der Heiligen umringten sie“, Offb 20,9a). Miniatur in einer anglo-normannischen Versfassung der Apokalypse (Toulouse ms. 815, fol. 49v[1], 13. Jh.). Der Hrsg. des Textes weist auf die gewundenen Nasen der Angreifer und sagt, dies sei die gewöhnliche Nasenform von Dämonen in der englischen Kunst des 13. und 14. Jh.[2].– Quelle: Wikimedia.– Urheber: Bibliothèque municipale de Toulouse.– Lizenz: gemeinfrei.– Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt, Text am oberen Rand weggeschnitten, unscharf maskiert.

Offb 20,1-6 prophezeit, dass der Satan für 1000 Jahre gefesselt wird, dass die um Christi willen Enthaupteten auferstehen und dass sie 1000 Jahre mit Christus herrschen werden (das Tausendjährige Reiche, Millenium). Offb 20,7-8 sagt weiter vorher: „Und wenn die tausend Jahre zu Ende sind, wird der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen werden; und er wird ausziehen, die Völker an den vier Ecken der Erde irrezuführen, den Gog und Magog, sie zu versammeln zum Krieg, deren Zahl wie der Sand des Meeres ist.“ Sie werden das Heerlager der Heiligen (d.h. der treuen Gläubigen) und die geliebte Stadt (Jerusalem) umzingeln, aber Feuer wird vom Himmel fallen und sie verzehren.

Der Seher greift den grundlegenden Gedanken aus Hes 38-39 auf: nach einer Friedenszeit kommt es zu einem letzten Aufbäumen aller gottfeindlichen Kräfte. Aber sie werden von Gott schlussendlich vernichtet. Durch Namedropping wird auf die Quelle verwiesen. Wer oder was der Gog und Magog sein soll, wird uns nicht gesagt. So wie es dasteht, scheint es sich um Volksangehörige im Singular zu handeln („den Österreicher“).

  1. Meyer, Paul: „Version anglo-normande en vers de l'Apocalypse“, Romania 25 (1896), S. 246
  2. – " –. S. 257, Anm. 2

Koran

Der Koran funktioniert online anders als die Bibel. Da nur der arab. Text der Koran ist (eine Übersetzung ist eine Übersetzung, kein Koran), wird praktisch immer der arab. Text mit angezeigt. Daran ist nichts falsch. Ich habe aber keine deutschsprachige Seite gefunden, bei der es möglich ist, auf eine bestimmte Aya (Vers) im laufenden Text zu verlinken. Möglich ist dies z.B. bei quranwow, wo auch vier deutsche Übersetzungen angeboten werden. Ich verlinke daher unten auf das Corpus Coranicum, das die vielgepriesene Übersetzung von Rudi Paret verwendet. Der geschätzte Leser möge selbst zu den nächsten Versen weiterklicken. In den Literaturverweisen verlinke ich auf Buchscans der Ausgaben von Henning und Goldschmidt.

Sure 18 (die Höhle), 82 (83)-100[1][3][5] erzählt vom Ḏû’l-qarnain „der mit den zwei Hörnern“, der meist mit Alexander dem Großen identifiziert wird. Der Zweihörnige durchzieht die Welt von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang und trifft schließlich (im äußersten Norden, so darf man vermuten) ein Volk, das ihn bittet, einen Wall zu errichten zwischen ihnen und يأجوج ومأجوج jaʾǧûǧ wa-maʾǧûǧ, die Verderben anrichten im Land. Und so macht er eine eiserne Mauer, die mit Kupfer (? قِطْر qiṭr, Freytag: aes fusile) überzogen ist und die Jaʾǧûǧ und Maʾǧûǧ nicht überschreiten können. Erst am Tag der Verheißung wird Gott die Mauer einebnen und Jaʾǧûǧ und Maʾǧûǧ werden die Erde überfluten. Sure 21 (die Propheten), 96[2][4][6] nimmt auf letzteres Bezug, doch ist der Text etwas unklar.

Arab. fataḥ bedeutet „öffnen, einnehmen, erobern“. Henning versteht offenbar „sie wurden geöffnet = freigelassen“ (aus ihrer Einschließung, Henning übersetzt allerdings aktiv), Goldschmidt „sie wurden erobert = besiegt“. (futiḥat ist 3. Sg. fem. [des Perf. Pass.], wie bisweilen als Präd. zu Kollektiva und Stammesnamen.) Wer kommt von den Höhen herunter? Bei Henning anscheinend Gog und Magog („sie“), bei Goldschmidt wohl die übrigen Menschen („man“); nach Paret sind es (so die Erklärung in Klammern) die Toten zum Gericht.

Die Mehrheit zumindest der westlichen Forscher sieht den Alexanderroman als Quelle dieser Geschichte. In den Handschriften B und M der Rezension β und in der Rezension γ des sog. Pseudo-Kallisthenes findet sich im 3. Buch eine als Kap. 29 gezählte, in den meisten Übersetzungen aber übergangene Erzählung von der Einschließung der unreinen Völker des Nordens durch ein großes unüberwindliches Tor[8]. Die Aufzählung ihrer Namen beginnt in Rezension β mit Magog[9], in Rezension γ mit Goth und Magoth[10]. In der syr. und äthiop. Version ist diese Geschichte breit ausgestaltet. Dort sind ܓܘܿܓ gôg und ܡܵܓܘܿܓ māgôg Könige der ܗܘ̈ܢܵܝܹܐ hûnājê (Hunnen)[11]. (In der äthiop. Fassung wird Alexander auch als Zweigehörnter bezeichnet[12].)

Es gibt mehrere „Barrieren“ im Bereich des Kaspischen Meeres, die die historische Grundlage der Geschichte von den Toren Alexanders sein könnten[13]. Am häufigsten werden genannt der Pass von Derbent mit seiner beeindruckenden sassanidischen Festungsanlage (heute Dagestan, Russland) und die Darielschlucht (die Georgien mit Russland verbindet). Auch die 200 km lange Große Mauer von Gorgan (heute im Iran) wird in Betracht gezogen.

Ausleger, die den Koran wörtlich nehmen, müssen Erklärungen produzieren, warum es diese eiserne Mauer nicht (mehr) gibt, da sie doch erst am Jüngsten Tag beseitigt werden soll. (Davon, dass nach Aya 84 (86) die Sonne in einer schlammigen Quelle untergeht, ganz zu schweigen.)

  1. Goldschmidt, Lazarus: Der Koran. [El Koran, das heißt die Lesung …. Übertr. durch ~].– Berlin: Brandus, 1916. S. 299f (18,82ff)
  2. – " –. S. 328 (21,96)
  3. Henning, Max: Der Koran. A. d. Arab. übertr. u. m. e. Einl. vers. v. ~.– Leipzig: Reclam, [1901]. S. 299f (18,82ff)
    in etwas modernisierter Sprache als Digitalisat: Achtzehnte Sure - Die Höhle
  4. – " –. S. 326 (21,96)
  5. Surah Kahf with with Translation, Transliteration, and Tafsir (mit engl. Tooltips zum arab. Text)
  6. Surah Al-Anbiya: Translation, Transliteration and Arabic Text
  7. Alexander Romance ("Pseudo-Callisthenes") (griech. Text und engl. Übers.)
  8. Der griechische Alexanderroman Rezension β. Hrsg. v. Leif Bergson.– Stockholm, Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1965. (Acta universitatis Stockholmiensis, Studia Graeca Stockholmiensia, Bd. 3) S. 205-207
  9. Arriani Anabasis et Indica. Hrsg. v. Fr[iedrich] Dübner. Reliqua Arriani, et Scriptorum de rebus Alexandri M. fragmenta, Pseudo-Callisthenis historia fabulosa. Hrsg. v. Karl Müller.– Paris: Didot, 1846. S. 142b-143b
  10. The Greek Alexander romance. Übers., m. e. Einl. und Anm. v. Richard Stoneman.– London: Penguin, 1991. S. 186f (engl. Übers. der Version der Rezension γ)
  11. ܬܫܥܝܬܐ ܕܐܠܟܣܢܕܪܘܤ ܒܪ ܦܝܠܝܦܘܤ ܡܠܟܐ ܕܡܩܕܘܢܝܐ ܀. The history of Alexander the Great being the Syriac version of the Pseudo-Callisthenes. […] Hrsg., übers. u. m. Anm. v. Ernest A[lfred] Wallis Budge.– Cambridge: Univ. Press, 1889. S. 144-158
  12. The life and exploits of Alexander the Great. Being a series of transl. of the Ethiopic histories of Alex. by the Pseudo-Callisth. […], v. E[rnest] A[lfred] Wallis Budge.– London: Clay and sons, 1896. S. 228-241
  13. Gates of Alexander. Wikipedia en

Marco Polo

Im Mittelalter haben Reiseschriftsteller und Kartographen sich immer wieder bemüßigt gefühlt, Gog und Magog geographisch zu verorten. Marco Polo z.B. hat sie in China entdeckt, in der Provinz Senduc mit der Hauptstadt Tenduc (so die afrz. Ausgabe, Kap. 74[1]):

et ce est le leu qe nos apellon de se enostre païs Gogo et Magogo; mès il l'apellent Ung et Mungul, et en cascune de ceste provence avoit une generasion de jens, en Ung estoient les Gog, et en Mungul demoroit les Tartars. Und dies ist der Ort, den wir in unserem Land Gogo und Magogo nennen; aber sie nennen ihn Ung und Mungul, und in jeder dieser Provinzen gab es einen Volksstamm, in Ung waren die Gog, und in Mungul wohnten die Tataren.

Tanduc wird von Yule mit der Blauen Stadt identifiziert[2], heute Hohhot, Hauptstadt der autonomen Region Innere Mongolei in Nordchina. Die Gleichsetzung von Gog/Magog mit Hunnen, Tataren, Mongolen hatte im christlichen Westen Tradition. Diese Tradition war offenbar so stark, dass Polo der schwache Namensklingklang mit Ung/Mungul schon für eine Gleichsetzung reichte. Tatsächlich scheint Ung ein Turkvolk und Mungul eine Gruppe von Mongolen zu bezeichnen. Die Mongolen im heutigen Sinn nennt Polo Ta(r)taren.

Die verlorenen Stämme Israels

Eine eigenartige Gleichsetzung ist die mit den sog. verlorenen Stämmen Israels, d.h. den von den Assyrern deportierten Stämmen des Nordreichs. Tatsächlich gab es mit den Chasaren ein Turkvolk, das im 9. Jh. ein zwar loses, aber großflächiges Reich zwischen und nördlich von Schwarzem Meer und Kaspischem Meer hatte und dessen Oberschicht zum Judentum konvertiert war. Jedenfalls finden sich verschiedentlich Verweise darauf, dass Gog und Magog Juden sein sollen.

Verhängnisvoll war hier laut Gow[3] der Einfluss der Historia Scholastica des französischen Theologen des 12. Jh. Petrus Comestor („Aufesser“, nämlich von Büchern?), einer Mischung aus Paraphrase der Bibel und Weltgeschichte. Das Ereignis, das in 2Kön 17,5f in der Vulgata so beschrieben wird:

et ascendens Samariam obsedit eam tribus annis. und er zog hinauf nach Samaria und belagerte es während dreier Jahre.
anno autem nono Osee cepit rex Assyriorum Samariam. Im neunten Jahr Hoscheas aber eroberte der König der Assyrer Samaria.
et transtulit Israhel in Assyrios Und er deportierte Israel ins Assyrerland,
posuitque eos in Ala et in Habor iuxta fluvium Gozan in civitatibus Medorum. und versetze sie nach Halach und Habor, nahe dem Fluss Gosans, in die Städte der Meder.

… gibt Comestor so wieder[4]:

et obsedit Samariam tribus annis, und er belagerte Samaria während dreier Jahre,
et cepit eam anno nono Osee, et sexto Ezechiae, und er eroberte es im neunten Jahr Hoscheas und im sechsten Hiskias,
et transtulit Israel in Assyrios, scilicet septem tribus quae remanserant, und er deportierte Israel ins Assyrerland, nämlich die sieben Stämme, die übriggeblieben waren,
et posuit eos juxta fluvium Gozan ultra montes Medorum et Persarum. und er versetzte sie nahe dem Fluss Gosans, jenseits der Berge der Meder und Perser.

Während er also scheinbar die Bibel zitiert, nimmt Comestor im letzten Satz eine entscheidende inhaltliche Veränderung vor: Die Israeliten werden bei ihm nicht mehr in die Städte der Meder, sondern jenseits der Berge deportiert. Beim Buch Ester hängt Comestor dann einige Kapitel aus dem Alexanderroman an, darunter das folgende[5]:

Itaque cum venisset Alexander ad montes Caspios, miserunt ad eum filii captivitatis decem tribuum. Als Alexander also zum Kaspischen Gebirge gekommen war, sandten zu ihm die Söhne der zehn Stämme der Gefangenschaft –
Ex edicto enim tenebantur egredi non licere, postulantes ab eo egrediendi copiam. aufgrund einer Anordnung nämlich waren sie gebunden, dass es (ihnen) nicht erlaubt war herauszugehen ­– und forderten von ihm die Erlaubnis herauszugehen.
Cumque quaesisset causam captivitatis, accepit eos recessisse aperte a Deo Israel, vitulis aureis immolando, et per prophetas Dei praedictum esse eos a captivitate non redituros. Und als er nach dem Grund der Gefangenschaft gefragt hatte, erfuhr er, dass sie offen vom Gott Israels abgefallen waren, indem sie goldenen Kälbern opferten, und dass durch die Propheten Gottes vorhergesagt worden war, dass sie aus der Gefangenschaft nicht zurückkehren werden.
Tunc respondit, quod arctius eos includeret. Daraufhin antwortete er, dass er sie fester(?) einschließen werde.
Cumque angustia(s) viarum obstrueret molibus bituminatis, videns laborem humanum non sufficere, oravit Deum Israel, ut opus illud compleret. Und als er die Enge der Wege mit Massen von Erdpech versperrte, sah er, dass menschliche Mühe nicht ausreicht, und bat den Gott Israels, dass er jenes Werk vollende.
Et accesserunt ad se invicem praerupta montium, et factus est locus immeabilis. Und die Hänge der Berge rückten aneinander heran, und der Ort wurde unbetretbar.
Ex quo liquido apparet non esse Dei voluntatem, ut exeant. Wodurch es völlig klar ist, dass es nicht Gottes Wille ist, dass sie herausgehen.
Egredientur tamen circa finem mundi, magnam hominum stragem facturi. Sie werden jedoch um das Ende der Welt herum herausgehen, um ein großes Gemetzel der Menschen zu machen.
Et, ut ait Josephus, Deus quid facturus est pro fidelibus suis, si tantum fecit pro infideli? Und, wie Josephus sagt, was wird Gott für seine Gläubigen tun, wenn er so Großes für einen Ungläubigen tat?

Auch hier nimmt Comestor eine wesentliche Änderung vor: die unreinen Völker jenseits des Kaukasus im Alexanderroman werden zu den deportierten Israeliten gemacht. (Von Gog und Magog ist allerdings nicht die Rede.) Von hier ist es nicht mehr weit zur Legende von den Roten Juden[6]. (Nebenbei bemerkt: die deportierten Stämme waren Israeliten, keine Juden.)


Borgia-Karte.– Quelle: Wikimedia.– Urheber: unklar, es handelt sich offenbar um einen Buchscan.– Lizenz: gemeinfrei.– Bearbeitung: geringfügig beschnitten, verkleinert, roten Rahmen hinzugefügt.

Ein Beispiel für die explizite Gleichsetzung von Gog und Magog mit den deportierten Israeliten ist die Borgia-Karte, eine in eine runde Metallscheibe gravierte Weltkarte aus der 1. Hälfte des 15. Jh. Die Karte ist gesüdet, Gog und Magog sind am linken Rand der Scheibe verzeichnet, mithin also im äußersten Osten der Welt. Die Beischriften lauten:

provincia Gog in qua fuerunt Iudei inclusi tempore Artaxerxsis regis Persarum Provinz Gog, in welcher Juden waren, eingeschlossen zur Zeit des Artaxerxes, des Königs der Perser.
Magog in istis duabus sunt gentes magni et gigantes pleni omnium malorum morum. Quos Iudeos Artaxerx(es) rex collexit de omnibus partibus Persarum. Magog, in diesen beiden sind große Stämme und Riesen voll aller bösen Sitten. Diese Juden hat König Artaxerxes aus allen Gebieten der Perser gesammelt.

Nach 2Kön 17,3.6 war es Salmanassar (V.), der das Nordreich erobert und die erste Welle von Deportationen angeordnet hat. Entweder hat der Kartograph Perser mit Assyrern verwechselt oder er verwertet hier eine Legende über Artaxerxes, von der ich nichts weiß. Aus den Israeliten sind jetzt Juden geworden, die am Rande der Welt darauf warten, am Ende der Zeiten die Welt in ein apokalyptisches Chaos zu stürzen.

  1. Voyage de Marc Pol. In: Recueil de voyages et de mémoires. Hrsg. v. d. Société de géographie. Bd. 1.– Paris: Éverat, 1824. S. 75, Z.16-19
  2. The Book of Ser Marco Polo, the Venetian, Concerning the Kingdoms and Marvels of the East. Übers. u. m. Anm. v. Henry Yule. Bd. 1.– 2., überarb. Aufl. London: Murray, 1875. S. 275
  3. Gow, Andrew Colin: The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age. 1200-1600.– Leiden: Brill, 1995. S. 42ff
  4. Petrus Comestor: Historia Scholastica.– Lyon, 1543. 137r.a (2Kön 17)
    als leichter lesbares Digitalisat bei Wikisource: De captivitate decem tribuum
  5. – " –. 169r.b (Ester, die Seitenzahl hat einen Ziffernsturz)
    als leichter lesbares Digitalisat bei Wikisource: De reclusione decem tribuum
  6. Rote Juden. Wikipedia de

London

In England sind Gog und Magog zwei sagenhafte Riesen, die als Beschützer der Stadt (bzw. der City of) London gelten[1][2]. Sie werden als große Figuren aus Weidengeflecht und Pappmaché bei der jährlichen Prozession des Lord Mayor of London[3], einer Art zeremonielles Oberhaupt der City of London, mitgeführt. Ihre hölzernen, mit Blattgold überzogenen Statuen befinden sich auch in der Great Hall der Londoner Guildhall[4].

Die Riesen hießen ursprünglich Corineus und Goëmagot. Corineus war nach Goeffrey von Monmouth der Anführer der Nachfahrer derer, die mit Antenor aus Troja entkommen waren; diese wurden später Cornubienser genannt und bewohnten Cornwall[5][7]. Goëmagot war einer der Riesen, die Britannien bewohnten und unter dem Gefolge des Brutus ein Blutbad anrichteten. In einem Zweikampf tötete Corineus schließlich den Goëmagot[6][8].

Den weiteren Weg der Überlieferung habe ich nicht verfolgt. Irgendwie wurden die beiden Kraftmeier in der Folklore zu Beschützern Londons. Der Name des Corineus ging verloren, der des Goëmagot wurde verballhornt und in zwei Teile geteilt[9]. Der heutige Name beruht also wohl auf volksetymologischer Angleichung an die biblischen Namen, hat aber inhaltlich nichts mit ihnen zu tun.

  1. Gogmagog (giant). Wikipedia en
  2. Williamson, Mark: Gog and Magog (Prayer for London)
  3. Lord Mayor of London. Wikipedia de
  4. Guildhall: Great Hall. A visual guide
  5. Gottfried's von Monmouth Historia Regum Britanniae, mit literar-histor. Einl. u. ausführl. Anm. […]. Hrsg. v. Albert Schulz (Pseudonym: San-Marte).– Halle: Anton, 1854. S. 14 (1,12)
  6. – " –. S. 18f (1,16)
  7. Geoffrey of Monmouth. Übers. v. Sebastian Evans.– London: Dent & Co., 1904. (The Temple Classics) S. 24f (1,12)
  8. – " –. S. 33f (1,16)
  9. Bieling, Hugo: Zu den Sagen von Gog und Magog.– Berlin: Weidmann, 1882. (Wissenschaftl. Beilage zum Programm d. Sophien-Realschule. Ostern 1882)

Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 8. Dez. 2022