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Goten, Gotik, Goths
Ich stellte mir die Frage, was die Gotik mit dem Volk der Goten zu tun hat. Als ich dann nach gothic googelte, erhielt ich lauter Bilder mit seltsam gewandeten und geschminkten Menschen – die Goten würden sich im Grab umdrehen.
Die Goten waren ein ostgermanisches Volk, das zur Zeit des Plinius (Gutones) und Tacitus (Gotones) im Weichselgebiet lebte (doch ist die Gleichsetzung von lat. Gutones/Gotones mit dem späteren lat. Gothi umstritten). Nach Jordanes sind sie von Skandinavien aus dorthin gekommen (doch auch das ist umstritten). Im Zuge von Wanderungsbewegungen kamen sie in Konflikt mit den Römern und teilten sich in die Ost- und Westgoten (auch Ostrogoten „Ostgoten“ und Visigoten „edle Goten“ genannt). Nach einigen Scharmützeln im 3. Jh. (gotische Beutezüge auf dem Balkan und in Kleinasien), eroberte schließlich der Westgotenkönig Alarich als erster Germane 410 Rom, und der Ostgote Theoderich begründete nach der Eroberung von Ravenna 493 in Italien ein Gotenreich.
Lat. Gothi (das o normalerweise kurz), griech. Γό(τ)θοι, kommt von got. *Gut-þiuda „Gotenvolk“. Auf Gotisch hießen die Goten wohl *Gutans (𐌲𐌿𐍄𐌰𐌽𐍃). gut- wird meist in Verbindung gebracht mit *giutans „gießen“, doch es gibt auch etliche weitere Erklärungsvorschläge (s. Lehmann, Winfried: A Gothic Etymological Dictionary.- Leiden: Brill, 1986. Google Books, teilweise einsehbar).
Die Goten waren wie alle Germanen in der italienischen Geschichtsschreibung verständlicherweise übel beleumundet. Die Italiener betrachte(te)n alles Germanische als kulturlos und barbarisch. Gotico hat(te) im Italien. daher die Bedeutung barbarisch (vgl. frz. gothisme „Roheit“).
Das bedeutendste Denkmal der gotischen Sprache ist die Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila (4. Jh.), von der noch Teile im Codex Argenteus (ca. um 500 geschrieben) überliefert sind.
Den mittelalterlichen Architekturstil (12. - 15./16. Jh.) mit Kreuzrippengewölben, Spitzbögen, Strebepfeilern, großen Fensterrosetten und Wasserspeiern mit fratzenhaften Gesichtern, der sich an Kathedralen wie der Pariser Notre-Dame, dem Kölner Dom, dem Straßburger Münster oder dem Wiener Stephansdom zeigt, hat der italienische Architekt, Maler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari Mitte des 16. Jh. erstmals als gotisch bezeichnet. Denn die Renaissance idealisierte die klassische Antike und lehnte alles Mittelalterliche ab. Daher empfand sie die gotische Architektur als monströs und hässlich.
In ähnlicher Weise haben die germanischen Vandalen, die 455 Rom plünderten, zum Begriff des Vandalismus Anlass gegeben. Allerdings haben die Vandalen nicht sinnlos zerstört, sondern „nur“ systematisch geraubt. Der Vandalismus ist ein weiteres Beispiel für die Ableitung eines Begriffes von einem Exemplum, das eigentlich nicht passt. So wie die Onanie nach dem alttestamentlichen Onan benannt ist, der aber gar nicht onaniert, sondern Coitus interruptus praktiziert hat.
Im Englischen hat gothic noch eine zusätzliche Bedeutung bekommen durch die gothic novel, den englischen Schauerroman, dessen frühester Vertreter der Roman The Castle of Otranto. A Gothic Story von Horace Walpole (1764) ist. Das Genre blühte bis etwa 1825, sein bekanntester Exponent im deutschsprachigen Raum ist wohl Mary Shelleys Frankenstein (1818). Gotisch wird dieses Genre genannt nach den gruseligen, häufig verfallenden Gemäuern gotischen Stils, in denen diese Romane fast immer spielen, mit versteckten Treppen, unterirdischen Gängen usw.
Von Carl Barks gibt es eine Geschichte (engl. Titel: The Phantom of Notre Duck; dt.: Das Münstermännchen), die im (neu)gotischen Entenhausener Münster (engl. cathedral of Notre Duck) spielt. Die Familie Duck verfolgt ein schwarzgekleidetes Phantom durch eine Kirche, in der es geheime Gänge, Falltüren u.ä. gibt. Der Comic ist zwar keine gothic novel, aber auch in ihm spielt das Gebäude als Schauplatz eine wesentliche Rolle.
Nach ihrer Vorliebe für alles Düstere und Gruselige wird die jugendliche Subkultur, deren Anhänger sich ganz in Schwarz kleiden, sich leichenhaft schminken, sich mit Todessymbolen behängen und düstere Musik hören, als goth(ic) bezeichnet, die Jugendlichen selbst als goths. Im Deutschen sagt man meist Grufti dazu. (Auch ältere Menschen, die sich nicht erst schminken müssen, um so auszusehen, werden despektierlich als Gruftis bezeichnet – wobei für einen 15jährigen selbst ein Twen schon mit einem Bein im Grab steht. Welche Verwendung die ursprünglichere ist, vermag ich nicht zu sagen.)
Mit dem 12. Jh. (dem Beginn der Gotik) entstand aus der karolingischen Minuskel eine Schriftart mit gebrochenen Bögen: die gotische Minuskel. Diese entwickelte sich im 13. Jh. weiter zur Textura, die z.B. auch von Gutenberg für seine Bibeldrucke verwendet wurde. Die italienischen Schreiber, die mit allem „Gotischen“ ein Problem hatten, schufen im 14. Jh. stattdessen die Rotunda, bei der die Brechungen nur angedeutet sind. Im 14./15. Jh. entstand die stärker verschnörkelte Bastarda. Im 15. Jh. wurde aus der Textura die Schwabacher Schrift entwickelt (die u.a. gerne für Drucke der Lutherbibel verwendet wurde), im 16. Jh. aus der Bastarda die Fraktur. Alle diese Schriften werden zusammenfassend als gotische Schrift bezeichnet. Diese darf jedoch nicht verwechselt werden mit der gotischen Schrift im eigentlichen Sinn (d.h. der Schrift der Goten), in der z.B. der Codex Argenteus geschrieben ist.
Ende des 19., Anfang des 20. Jh. wurde die Fraktur in Deutschland mehr und mehr von der Antiqua abgelöst. Bis sie in der NS-Zeit eine Renaissance erfuhr, da man sie als deutsche Schrift ansah. In einem Erlass vom 3. Jän. 1941 bezeichnete Martin Bormann allerdings die gotische Schrift als „Schwabacher Judenlettern“ und ordnete im Auftrag des Führers die Umstellung aller Druckerzeugnisse, Urkunden, Straßenschilder etc. auf Antiqua an. Heute hü, morgen hott.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 3. Jan. 2017