Michael Neuhold
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Vom mythischen zum historischen Denken. Ein paar Beobachtungen
Schon seit meiner Jugend beschäftigte mich die Frage, ob und wie man zwischen historischem Bericht und mythischer oder legendärer Erzählung, zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden könne. Vor allem im Hinblick auf die Erzählungen der Bibel schien mir diese Fragestellung wichtig. Daher war es naheliegend, dass ich meine Dissertation diesem Thema widmen wollte. Ihr Titel sollte lauten: Vom mythischen zum historischen Denken von Homer bis Herodot. Der betreuende Professor verlangte, das Thema auszuweiten: … von Homer bis Thukydides – was sachlich absolut gerechtfertigt war. Doch ist das natürlich kein Thema für eine Dissertation, sondern eher für eine Habilitation. Ich habe es leider nicht besser gewusst und bin ins offene Messer gelaufen. (Dass mein Professor, dem das doch klar sein musste, mir von einem solchen Thema nicht dringend abgeraten hat, kann ich nachträglich nur so interpretieren, dass er an einer erfolgreichen Dissertation meinerseits nicht wirklich interessiert war. Warum auch immer.) Als für mich die Erkenntnis unausweichlich wurde, dass ich mit diesem Thema zu keinem Ende kommen würde, habe ich ein neues Thema gewählt. Doch die zeitliche Inanspruchnahme durch Beruf und Familie und der Mangel an dissertationswürdigen wissenschaftlichen Erkenntnissen haben dem Projekt Dissertation schließlich den Todesstoß versetzt. Acta est fabula. Möge auch diese Episode ins Dunkel der Geschichte hinsinken.
Doch die Frage als solche beschäftigt mich nach wie vor von Zeit zu Zeit. Und während der Materialsuche für meine Dissertation und der Lektüre Homers hat sich doch die eine oder andere Beobachtung ergeben. Klar ist, dass die obengestellte Frage nach der Unterscheidung von Fakt und Fiktion nicht mit ein paar Miszellen zu beantworten ist. Wahrscheinlich hätte auch meine Dissertation sie gar nicht beantworten können. Und so habe ich nicht mehr zu bieten als ein paar Streiflichter. Die folgenden Miszellen beruhen teils auf eigener Beobachtung, vieles davon ist Wiedergabe von Angelesenem, ohne dass ich heute in allen Fällen die Quelle nennen könnte.
Mythos, Sage, Legende, Fabel, Märchen - alles Begriffe für fiktionale Erzählungen, die gerne durcheinandergeworfen werden. Daher hier zunächst eine begriffliche Unterscheidung.
Gerade Definitionen oder Feststellungen zum Mythos findet man zuhauf, doch sind diese nicht selten von einer Art gegenwartsskeptischer Mythosverklärung umflort. Karl Kerényi etwa bezeichnet den Mythos als „nicht abgeschlossene Bearbeitung der Wirklichkeit“, deren Wesen die Spontaneität sei [1]. Wenn es um die homerischen Texte geht, bevorzuge ich daher den Begriff Epos.
Geschichtsschreibung hängt – wie der Name schon besagt – mit Schreiben zusammen; wo es keine Schrift gibt, kann keine Geschichtsschreibung entstehen. (Umgekehrt führt das Vorhandensein der Schrift aber nicht automatisch zur Entstehung von Historiographie.) Ohne die Schrift führt die mündliche Weitergabe (das Weitersagen) von Vergangenem zur Sage: die historischen Zusammenhänge werden werden vernachlässigt und vergessen und die erzählte Begebenheit steht schließlich in einem scheinbar geschichtslosen Raum. (Sie ist aber praktisch immer geographisch lokalisierbar – im Gegensatz etwa zum Märchen.)
Obwohl Homer sich wahrscheinlich der Schrift schon bedient hat, wirkte er noch in einer cultura orale. An seinem Werk kann man jenes durch Mündlichkeit bedingte Verhältnis zur Vergangenheit ablesen, das auch zur Entstehung jener Sagen geführt hat, die Homer erzählt.
Bruno Snell postuliert in der 3. Aufl. seines Buches Die Entdeckung des Geistes im Kapitel Die Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins [2] für die griechische Geistesgeschichte eine Entstehung des historischen Bewusstseins, das er so definiert: „die Vorstellung von der Kontinuität der Zeit und von der Einheit des Vergangenen, von dem Sinn des Geschehenen, von der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart, von dem ursächlichen Zusammenhang der Ereignisse und manches andere“ (S. 203). Im mythischen Denken hingegen stehen Vergangenheit und Gegenwart selbständig-unverknüpft nebeneinander, seien nicht eingebaut in einen sinnvollen Zeitablauf.
Doch welcher Mensch hat dieses Bewusstsein, das Snell geschichtlich nennt, nicht? Welchem Menschen ist die Kontinuität der Zeit – und sei es nur in Form der Kontinuität der Generationenfolge nicht bewusst? Welcher Mensch weiß nicht um die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart? Ohne Bewusstsein der Kausalität könnten Menschen gar nicht zielgerichtet handeln. Ich hege den Verdacht, dass Snell hier geschichtliches Bewusstsein und modernes linerares Zeit- und Geschichtsverständnis gleichsetzt. Dort wo Menschen letzeres nicht haben, wird ihnen auch ersteres abgesprochen [3]. Ich behaupte: Menschen hatten immer geschichtliches Bewusstsein. Was ihnen in schriftlosen Kulturen fehlte, waren zuverlässige Nachrichten über die Vergangenheit. Die Informationslücken wurden unter Zuhilfenahme der Phantasie gefüllt.
Hermann Strasburger zeigt auf [4], dass viele Eigenheiten der späteren griechischen Geschichtsschreibung bereits bei Homer vorgebildet sind: „Das Prinzip der stofflichen Selektion auf das Bedeutende hin, sowie die Akzentuierung des Aitiologischen und Paradeigmatischen verbindet die Dichter von Ilias und Odyssee mit Herodot und Thukydides. Die Dichter sind auch bereits deren Vorgänger in der allmählichen Verschiebung der Ursachendeutung aus dem göttlichen in den menschlichen Bereich.“ (S. 36)
Natürlich war der homerische Sänger kein Historiograph. Seine Aufgabe war nicht zu zeigen, wie es wirklich war (oder etwas dergleichen). Er hatte ein Publikum zu unterhalten. Dass Götter maßgeblichen Anteil am Geschehen haben, beweist nicht, dass die Menschen dieser Zeit kein Geschichtsbewusstsein hatten. Sie hatten vielleicht kein Interesse an Geschichte im modernen Sinn, oder sie hatten ein anderes Verständnis vom Geschichtsverlauf. Aber ein „mythisches Denken“ ist bei Homer nicht nachweisbar.
Für die 4. Aufl. seines Buches (1975) hat Snell das betreffende Kapitel neu geschrieben und oben zitierte Definition weggelassen. Offenbar ist ihm bewusst geworden, dass es eben doch komplizierter ist – und dass „und manches andere“ wenig hilfreich ist. Stattdessen hebt er in der aktuellen Aufl. 2009 auf die historische Methode Herodots ab, auf die Unterscheidung „zwischen dem, was er selber gesehen, von dem, was er von Augenzeugen erfahren hat, und dem, was er nur vom Hörensagen kennt“ (S. 139). Der epische Dichter bezieht sein Wissen von der Inspiration durch die Musen (die Stoffe hat er aus der Sagenüberlieferung), der Historiker bezieht es aus seiner ἱστορία historía „Nachforschung, Erkundigung“ (zur Wurzel *ϝιδ- „wissen“, vgl. οἶδα „ich weiß“, ἵστωρ „wissend, kundig“).
Geschichtliches Bewusstsein wird somit definiert einerseits als ein Interesse an Geschichte, das versucht, etwas über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Dieses Interesse besteht, weil der Mensch der Überzeugung ist, dass die Vergangenheit die Ursache für die Gegenwart ist. „Die Griechen haben ihr Geschichtsbewusstsein gewonnen, da sie glaubten, nach einer Zeit des Glanzes hätten sie eine dunkle Zeit der Strafe zu durchleben gehabt.“ (Snell S. 146). Soll heißen: sie empfanden ihre Gegenwart als inferior im Gegensatz zur glorreichen Zeit der epischen Helden, die an den Burgruinen von Mykene oder Tiryns noch ablesbar schien, und sie waren der Überzeugung, dass dieser Unterschied historische Ursachen gehabt habe.
Nach Walter Otto ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Geschichtsschreibung, „daß überhaupt Geschichte geschehen ist“ [5], dass sich etwas ereignet hat, das im Bewusstsein der Menschen „von einmaliger Größe und Bedeutung ist“ (S. xvii). So hat sich Herodot die Frage gestellt, wieso es zum Perserkrieg kam. Und seine Antwort ist eine Fülle geschichtlicher Ereignisse, die bis in die Zeit der Sagen zurückreichen. Der Konflikt zwischen Griechen und „Barbaren“ hat eine lange Vorgeschichte.
Das Beispiel Herodots ist durchaus instruktiv. Er beginnt bei den frühesten Nachrichten zum „Ost-West-Konflikt“, die er hat: den Frauenraubgeschichten des Mythos und der Sage (Io, Europa, Medea, Helena). Dann setzt er wieder ein mit den frühesten historisch erreichbaren Kämpfen, dem Lyderkönig Kroisos, der die Griechenstädte Kleinasiens unterwarf und tributpflichtig machte (Mitte 6. Jh.). (Dazwischen liegen Jahrhunderte, in denen es entweder keine Zusammenstöße gab oder über die Herodot keine Nachrichten vorlagen.) Die Zeit hat keine Brüche, und die Zeit des Mythos ist für Herodot nicht qualitativ anders als die eigene Zeit.
Andererseits ist Geschichtsbewusstsein die Erkenntnis, dass geschichtliche Erkenntnis nicht in den Schoß fällt, sondern dass man sich um Informationen bemühen muss, Nachrichten sammeln, sie bewerten, sie gegeneinander abwägen muss. Ein Autor, der einfach nur das Überlieferte ungefiltert weitergibt, hat noch kein historiographisches Bewusstsein. Er unterscheidet sich nur wenig vom Aoiden. Zwischen Aoiden und Historikern stehen die sog. Logographen, wie Hekataios von Milet. Hekataios war schon klar, dass die Überlieferungen (die lógoi) der Griechen „vielfältig und lächerlich“ waren, und er nimmt für sich so etwas wie eine kritische Darstellung („ich schreibe dies, wie es mir wahr zu sein scheint“) in Anspruch (Genealogiai, B. 1, FGH frg. 332). Damit führt er das Prinzip der Plausibilität in die Beurteilung der Überlieferung ein. Doch eine historische Methode ist das allein noch nicht.
Der Unterschied zwischen Homer und Herodot, zwischen dem Aoiden und dem Historiker ist also keiner des Verständnisses von Zeit oder Kausalität, sondern der Methode der Informationsbeschaffung: Verlassen auf die Überlieferung und die Inspiration hier, Nachforschung und Augenzeugenschaft da.
Sage kommt von (Weiter-)Sagen (ἀγορεῦσαι Il. 12,176 [6]). In Homers Fall geschah dies in Form von Singen (Il. 1,1 ἄειδε). Das Gegenstück dazu ist Hören (κλύειν). Das Ziel und Ergebnis der Gesänge Homers ist nicht geschichtliche Wahrheit, sondern κλέος „Ruhm“. Dem entspricht, dass die Grundbauform homerischer Epik, wie Tilman Krischer [7] festgestellt hat, die Aristie ist. Das Handeln homerischer Helden ist von dem Bewusstsein bestimmt, dass es Gegenstand mündlicher Überlieferung werden wird.
Hektor fordert Aias, da ihr Zweikampf wegen Einbruch der Dunkelheit abgebrochen werden muss, zum Austausch von Geschenken aus, mit der Begründung:
(Il. 7,300-302)
ὄφρα τις ὧδ’ εἴπῃσιν Ἀχαιῶν τε Τρώων τε· damit einer der Achaier und Troer so sprechen wird: ἠμὲν ἐμαρνάσθην ἔριδος πέρι θυμοβόροιο, die beiden kämpften aus herzverzehrendem Streit, ἦδ’ αὖτ’ ἐν φιλότητι διέτμαγεν ἀρθμήσαντε. und sie trennten sich wieder in Liebe verbunden.
Helena spricht in ihrer Aufforderung an Hektor, Platz zu nehmen, von sich und Paris als
(Il. 6,357f.)
οἷσιν επὶ Ζεὺς θῆκε κακὸν μόρον, ὡς καὶ ὀπίσσω welchen Zeus ein schlimmes Geschick auferlegte, damit wir auch später ἀνθρώποισι πελώμεθ’ ἀοίδιμοι ἐσσομένοισι. bei den künftigen Menschen besungen sein werden.
Zeus erlegt also Menschen ein schweres Geschick auf, damit künftige Generationen Stoff zum Singen haben. So entsteht Sage: ein bewegendes Ereignis oder Schicksal wird mündlich weitergesagt, in homerischer Zeit vor allem im Lied.
Neben dem Schicksal und den ruhmreichen Taten tradierte die mündliche Überlieferung noch ein anderes, für geschichtslose Kulturen wesentliches Element. Nestor redet von Peleus, als
(Il. 7,127f.)
ὅς ποτέ μ’ εἰρόμενος μέγ’ ἐγήθεεν ᾧ ἐνὶ οἴκῳ, der mich einst mit großer Freude befragte in seinem Haus, πάντων Ἀργείων ἐρέων γενεήν τε τόκον τε. forschend nach Geschlecht und Nachkommenschaft aller Argeier.
γενεή „Herkunft, Geschlecht, Heimat“ und τόκος „Kinder, Nachkommen“, d.h. Familiengeschichte, Stammbäume, Ahnenreihen, Geschlechtsregister sind die wohl naheliegendsten Informationen über die Vergangenheit, die hier keiner so authentisch weitergeben konnte, wie der die dritte Generation herrschende Greis Nestor.
„Was sind Geschichten und wozu werden sie erzählt?“ – auf diese Frage antwortet Hermann Lübbe in dem gleichnamigen Aufsatz etwa folgendermaßen: Geschichten werden über Zusammenhänge erzählt, die man „nur historisch erklären“ kann, über funktionslos gewordene Relikte. Es sind „Geschichten der Umbildung funktionaler Zusammenhänge, über die sie [die funktionslos gewordenen Elemente] zu Relikten wurden“ [8].
Auch das Erzählen in homerischer Zeit entzündete sich wohl u.a. an materiellen Überbleibseln der Vergangenheit, deren Existenz nur „historisch“ erklärt werden konnte. In Il. 7 fordert Hektor die Achaier zum Zweikampf auf. Sollte er besiegt werden, solle der Sieger ihm die Rüstung abziehen, seinen Leichnam aber den Troern zur Bestattung zurückgeben; sollte Hektor siegen, wolle er die Rüstung des unterlegenen Gegners im Apollontempel aufheben, den Leichnam aber zu den Schiffen zurückgeben,
(Il. 7,85-91)
ὄφρα ἑ ταρχύσωσι κάρη κομόωντες Ἀχαιοί, dass ihn die am Haupt langhaarigen Achaier bestatten σῆμά τε οἱ χεύωσιν ἐπὶ πλατεῖ’ Ἑλλησπόντῳ, und ihm ein Grabmal aufschütten am breiten Hellespont. καί ποτέ τις εἴπῃσι καὶ ὀψιγόνων ἀνθρώπων, Und einst wird einer der nachgeborenen Menschen sagen, νηῒ πολυκλήϊδι πλέων επὶ οἴνοπα πόντον· wenn er auf einem vielruderigen Schiff übers weinfarbene Meer fährt: ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεθνηῶτος, Dies ist das Mal eines Mannes, der schon lange tot ist, ὅν ποτ’ ἀριστεύοντα κατέκτανε φαίδιμος Ἕκτωρ. den einst der strahlende Hektor tötete, als er sich auszeichnete. ὥς ποτέ τις ἐρέει· τὸ δ’ ἐμὸν κλέος οὔ ποτ’ ὀλεῖται. So wird einst einer sagen; mein Ruhm aber wird niemals untergehen.
Das Erzählen der Geschichte dieses Zweikampfes wird sich am Anblick des σῆμα entzünden. In ihm wird die traditio eines bedeutsamen Geschehens und des κλέος garantiert. Hat sich vielleicht die „Erinnerung“ an den Trojanischen Krieg ebenfalls an solche σήματα (Ruinen, Tels, Grabhügel) geknüpft?
Hierher gehört auch die Geschichte von der verschwundenen Mauer. Die Achaier bauen auf Nestors Rat eine Mauer mit Türmen zum Schutz der Schiffe. Die Götter sehen es, und Poseidon beschwert sich bei Zeus, daß der Ruhm der Menschen sich ausbreiten würde, seine von ihm und Apollon für Laomedon gebaute Mauer werde aber in Vergessenheit geraten. Zeus beruhigt ihn:
(Il. 7,458-463)
σὸν δ’ ἤτοι κλέος ἔσται ὅσον τ’ ἐπικίδναται ἠώς. Dein Ruhm wird sein, soweit sich das Tageslicht ausbreitet. ἄγρει μάν, ὅτ’ ἂν αὖτε κάρη κομόωντες ̓Αχαιοὶ Auf nun, wenn die am Haupte langhaarigen Achaier wieder οἴχωνται σὺν νηυσὶ φίλην ἐς πατρίδα γαῖαν, mit den Schiffen in ihre Heimat wegfahren, τεῖχος ἀναρρήξας τὸ μὲν εἰς ἅλα πᾶν καταχεῦαι, reiß die Mauer nieder und schütte sie zur Gänze ins Meer hinab, αὖτις δ’ ἠϊόνα μεγάλην ψαμάθοισι καλύψαι, bedecke den großen Strand wieder mit Sand, ὥς κέν τοι μέγα τεῖχος ἀμαλδύνηται Ἀχαιῶν. dass dir die große Mauer der Achaier zerstört werde.
Die Zuhörer der homerischen Zeit hätten sich wohl gefragt, ob man von dieser Mauer noch etwas sehen könne. Daher musste der Dichter ihr vollständiges Verschwinden erklären.
Dieses Interesse für (Denk-)Mäler ist kein Spezifikum des homerischen Epos, auch in der griechischen Geschichtsschreibung findet man es. Herodot will von ἔργα μεγάλα καὶ θωμαστά „große und erstaunliche Werke“ erzählen, und sein Geschichtswerk zeigt, dass damit auch Bauwerke bzw. deren Überreste, soweit sie zu seiner Zeit zu sehen waren, gemeint sind. Er will dafür sorgen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, wörtlich: „dass sie nicht ruhmlos (ἀκλεᾶ) werden“.
Auch Xenophons Hellenika knüpfen an diese Erzähltradition an. Xenophon unterlässt es kaum wo mitzuteilen, dass die in einer militärischen Auseinandersetzung obsiegende Partei ein τρόπαιον errichtet hat. Diese Information ist wohl nur selten historisch bedeutsam, aber sie erklärt, woher dieses oder jenes Siegesmal stammt.
In der Ilias finden sich zwei Arten von Berichten über Ereignisse, die vor der Iliashandlung liegen. Zunächst einmal meist kurze Geschichten von Personen oder Gegenständen aus dem Munde des epischen Dichters. Z.B. die Geschichte von der Entstehung des Bogens des Pandaros (Il. 4,105-111). Das ist der Bogen, weil mit ihm jener den Handlungsgang entscheidend beeinflussende Schuss getan wird, der Menelaos und damit die Verträge verletzt. Über einen so wichtigen Gegenstand muss der Dichter ein paar Worte sagen.
Ein moderner Autor würde einen so wichtigen Gegenstand oder Umstand (z.B. die Narbe des Odysseus) schon früher erwähnen, damit er ihn zur Hand hat, wenn er ihn braucht, ohne dem Leser viel erklären zu müssen. Der antike Aoide, der solche Gegenstände meist ad hoc erfand, musste, um sie glaubwürdig zu machen (woher hat Odysseus plötzlich eine solche Narbe?), die Geschichte unmittelbar – d.h. den Handlungsablauf unterbrechend – nachliefern.
Die syntaktische Bewältigung der Vorgeschichte erfolgt nach einem gleichbleibenden Muster: nach ein bis zwei Temporal- oder Relativsätzen wird das zurückliegende Ereignis in einer eigenständigen Erzählung dargeboten (entsprechend der bekannten Neigung der homerischen Sprache, längere hypotaktische Fügungen durch Verselbständigung von Nebensätzen in Parataxen umzuleiten).
(Il. 4,105-108)
αὐτίκ’ ἐσύλα τόξον ἐΰξοον ἰξάλου αἰγὸς Sogleich nahm er den wohlgeglätteten Bogen heraus eines Steinbocks, ἀγρίου, ὅν ῥά ποτ’ αὐτὸς ὑπὸ στέρνοιο τυχήσας eines wilden, den er einst selber, (ihn) unters Herz treffend, πέτρης ἐκβαίνοντα δεδεγμένος ἐν προδοκῇσι als er vom Felsen heraustrat, im Anstand lauernd, βεβλήκει πρὸς στῆθος· ὁ δ’ ὕπτιος ἔμπεσε πέτρῃ. gegen die Brust erschoss; der aber fiel rücklings auf den Felsen. … καὶ τὸ μὲν εὖ κατέθηκε τανυσσάμενος ποτὶ γαίῃ und den stellte er gut hin, gespannt, (ihn) auf die Erde ἀγκλίνας· hinlegend;
Die Geschichte von der Erlegung des Steinbocks, aus dessen Horn der besagte Bogen gemacht ist, wird zunächst in einem Relativsatz aufgenommen (ὅν ῥά ποτ’ … βεβλήκει), dann in eigenständigen Hauptsätzen weitergeführt (ὁ δ’ ὕπτιος ἔμπεσε). Nachdem aus dem Horn der Bogen geworden ist, wird in V. 112 mit καὶ τὸ μὲν εὖ κατέθηκε in den Handlungszusammenhang zurückgeblendet und an V. 105 ἐσύλα τόξον ἐΰξοον angeschlossen und weitergeführt.
Die homerischen Gedichte sind der Versuch, das Wesen der Welt auf dem Wege der Narration zu begreifen und darzustellen [9]. Sie sind ein Panoptikum der Wertvorstellungen, des religiösen Denkens und des Lebens des ritterlichen Publikums, an die sie sich wenden. Das Wesen der Welt liegt nicht in einem historischen Ablauf oder Ereignis, sondern in den Details, die – idealisierend – dargestellt werden: Mahl, Bad, Opfer und Gebet, Kampf und Kampfspiele, Jagd, Heldentat und Tod. Nicht der genaue Ablauf des trojanischen Krieges, seine Ursachen und Hintergründe sind von Interesse, sondern die bunte Fülle, das Kaleidoskop des Lebens, das sich darin offenbart.
Homer bietet nie übergreifende Geschichte oder große Zusammenhänge, aber viele Einzelgeschichten, Geschichten von Personen und Gegenständen. Er erzählt nicht chronologisch die Geschichte des trojanischen Krieges, sondern kristallisiert sie um einen zeitlichen Punkt im zehnten Kriegsjahr herum. Er liefert keine Geographie oder Siedlungsgeschichte Griechenlands, sondern einen Katalog griechischer Landschaften und Städt, samt der zugehörigen Helden. Wichtig ist was geschieht, nicht warum es geschieht. Daher gibt es bei ihm auch keine klare Abgrenzung zwischen dem Willen der Götter (Διὸς βουλή) und dem Schicksal, zwischen selbstbestimmtem und fremdbestimmtem Handeln der Menschen.
Aufzählung und Konkretisierung (bei Personen: Individualisierung) sind die Merkmale der homerischen Erzählweise. Das zeigt sich z.B. bei Schlachtenschilderungen. Nacheinander führt Homer (häufig ad hoc erfundene) Kämpfer auf, die sofort ihr Leben aushauchen (die sog. kleinen Kämpfer [10]). Dramaturgisch gesprochen löst Homer die Schlacht in Einzelszenen auf (z.B. 5,37-83, Kämpfe, die der Aristie des Diomedes vorangehen: Agamemnon tötet Odios, Idomeneus den Phaistos, Menelaos den Skamandrios, Meriones den Phereklos, Meges den Pedaios, Eurypylos den Hypsenor). Es gibt keine Analyse des Verlaufs, keine Interpretation der Bedeutung des Geschehens.
Man vergleiche dazu den Kampf der Burgunder gegen die Sachsen und Dänen in der 4. Aventiure des Nibelungenliedes (vor allem 4,200-217): man sieht Blut fließen, man hört den Klang der Waffen, und immer wieder wird gesagt, dass viele Helden erschlagen wurden, überhaupt ist „viel“ (vil, manec) hier ein häufig gebrauchtes Wort. Von den Gegnern der Burgunder wird hier einzig der Sachsenfürst Liudeger mit Namen genannt.
Erich Auerbach allerdings meint [11], Homers Helden hätten keine Geschichte, d.h. sie sind, wie sie sind, nicht weil sie diese oder jene Lebensgeschichte hatten, sondern weil sie immer so waren und eben so sind. Sie sind unveränderliche Wesenheiten wie die Götter. (Hermes etwa wird nicht zum Dieb, er ist es schon in den Windeln). Sie werden auch nicht alt, fett und vergesslich. Das stimmt so allerdings nicht. Denn Nestor ist alt, er ist es aber nicht immer schon gewesen. Und wäre er fett und vergesslich geworden, hätte er im Personeninventar eines Heldenepos keine Daseinsberechtigung. Aber tatsächlich sehen wir bei den homerische Helden kaum Entwicklung.
Dazu würde auch das Epitheton ornans, ein Element im Repertoire epischen Erzählens, passen. Die unprägnante Verwendung (Achill wird als πόδας ὠκύς „schnellfüßig“ bezeichnet, auch wenn er am Strand sitzt und weint) ist nicht nur stereotyp, sie ist auch Ausdruck des Menschenbildes: der Konstanz der Wesenheit, die durch momentane Umstände nicht beeinflusst wird.
Daneben setzt Homer das Epitheton ornans auch sehr prägnant ein: Am Anfang der Il. (1,7) wird die Schwere des Konflikts durch die Epitheta betont, die den Konfliktparteien beigelegt werden: Agamemnon ist ἄναξ ἀνδρῶν, d.h. oberster Heerführer vor Troja, Achill δῖος, d.h. dank göttlicher Abkunft hat er einen „heißen Draht zum Olymp“.
Der Autor des 2. Petrusbriefes begründet die Zuverlässigkeit der apostolischen Predigt folgendermaßen:
(2Petr 1,16)
οὐ γὰρ σεσοφισμένοις μύθοις ἐξακολουθήσαντες ἐγνωρίσαμεν ὑμῖν τὴν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ δύναμιν καὶ παρουσίαν, ἀλλ’ ἐπόπται γενηθέντες τῆς ἐκείνου μεγαλειότητος. Denn nicht ausgeklügelten Geschichten folgend haben wir euch die Macht und Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus bekannt gemacht, sondern nachdem wir Augenzeugen seiner Herrlichkeit geworden sind.
Der Briefautor setzt gegen die Fiktion des Mythos die Augenzeugenschaft realer Ereignisse. In der Praxis stellt sich die Frage, wie berechtigt der Anspruch, Augenzeuge gewesen zu sein, im einzelnen ist. Und etwas selbst miterlebt zu haben, bedeutet noch nicht, verstanden zu haben, worum es eigentlich ging. Das Erlebte muss interpretiert und in einen Verstehenshorizont eingebettet werden.
Im 2. Timotheusbrief sagt der Autor über die Menschen der Endzeit:
(2Tim 4, 4)
καὶ ἀπὸ μὲν τῆς ἀληθείας τὴν ἀκοὴν ἀποστρέψουσιν, ἐπὶ δὲ τοὺς μύθους ἐκτραπήσονται. Sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und werden sich den Mythen zuwenden.
Der Autor setzt Mythos und Wahrheit in Opposition. Dabei ist hier natürlich die Wahrheit der christlichen Verkündigung gemeint. Diese Wahrheit ist nicht platterdings gleichzusetzen mit Realität. Sie steht vielmehr über (aber nicht in Widerspruch zu) der Realität.
In seiner Pfingstpredigt (Apg 2,14b-36) sagt Petrus, die Jünger („wir alle“) seien Zeugen dafür, dass Gott Jesus aus dem Tod auferweckt hat.
(Apg 2,32)
τοῦτον τὸν Ἰησοῦν ἀνέστησεν ὁ θεός, οὗ πάντες ἡμεῖς ἐσμεν μάρτυρες· Diesen Jesus hat Gott auferweckt, wessen wir alle Zeugen sind;
Ganz ähnlich findet sich diese Aussage in der Predigt des Petrus vor dem römischen Centurio Cornelius (Apg 10,39-42) oder in der Predigt des Paulus im pisidischen Antiochien (Apg 13,29-37). Der Begriff des Zeugen kommt aus der Gerichtssprache und ist in der Apg ein zentraler Begriff im Zusammenhang mit der christlichen Verkündigung (Apg 1,22; 2,32; 3,15; 5,32; 10,39.41f; 13,31; 22,15; 26,16 u.ö.), vor allem im Zusammenhang mit der Auferstehung (s. die Diskussion der Stellen daselbst). Der Zeuge gibt zu Protokoll, was er gesehen oder gehört hat bzw. was er aus erster Hand weiß. Im NT lässt sich der Begriff aber oft nicht von dem des Glaubenszeugnisses trennen (z.B. Joh 15,27; 1Petr 5,1), dem Bekenntnis des Glaubens, für das der Zeuge leiden muss, also zum Märtyrer wird (so z.B. Apg 22,20).
Das Lukasevangelium beginnt mit einem Proömium, in dem der Autor Rechenschaft über seine literarische Absicht gibt:
(Lk 1,1-4)
Ἐπειδήπερ πολλοὶ ἐπεχείρησαν ἀνατάξασθαι διήγησιν περὶ τῶν πεπληροφορημένων ἐν ἡμῖν πραγμάτων, Nachdem es viele unternommen haben, einen Bericht zu verfassen über die Geschehnisse, die sich unter uns erfüllt haben, καθὼς παρέδοσαν ἡμῖν οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται καὶ ὑπηρέται γενόμενοι τοῦ λόγου wie (sie) uns überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren, ἔδοξεν κἀμοὶ παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι, κράτιστε Θεόφιλε, habe auch ich, der ich von Anfang an allem genau gefolgt bin, beschlossen, dir der Reihe nach zu schreiben, bester Theophilos, ἵνα ἐπιγνῷς περὶ ὧν κατηχήθης λόγων τὴν ἀσφάλειαν. damit du hinsichtlich der Dinge (od. Worte), in denen du unterwiesen wurdest, die Zuverlässigkeit erkennst.
Der Evangelist macht deutlich, dass er schon auf schriftlichen Quellen aufbaut, die wiederum auf der Überlieferung von Augenzeugen (s.o. 2Petr 1,16) beruhen. Die Wörter αὐτόπτης autóptēs bzw. ἐπόπτης epóptēs „Augenzeuge“ enthalten den Wortbestandteil -opt- und damit den Begriff des Sehens (vgl. dt. Opt-ik). Paulus zählt in 1Kor 15,5-8 die Auferstehungszeugen auf: viermal heißt es dabei ὤφθη ṓphthē „er wurde gesehen, er erschien“ (dieselbe Wortwurzel wie in -optēs).
Auch im 1. Johannesbrief betont der Autor gleich im Briefeingang die Augenzeugenschaft der Zeugen, denen er sich zugehörig weiß:
(1Joh 1,1-3)
Ὃ ἦν ἀπ’ ἀρχῆς, ὃ ἀκηκόαμεν, ὃ ἑωράκαμεν τοῖς ὀφθαλμοῖς ἡμῶν, ὃ ἐθεασάμεθα καὶ αἱ χεῖρες ἡμῶν ἐψηλάφησαν περὶ τοῦ λόγου τῆς ζωῆς – Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir betrachtet und was unsere Hände betastet haben hinsichtlich des Wortes des Lebens – καὶ ἡ ζωὴ ἐφανερώθη, καὶ ἑωράκαμεν καὶ μαρτυροῦμεν καὶ ἀπαγγέλλομεν ὑμῖν τὴν ζωὴν τὴν αἰώνιον ἥτις ἦν πρὸς τὸν πατέρα καὶ ἐφανερώθη ἡμῖν – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist – ὃ ἑωράκαμεν καὶ ἀκηκόαμεν, ἀπαγγέλλομεν καὶ ὑμῖν, ἵνα καὶ ὑμεῖς κοινωνίαν ἔχητε μεθ’ ἡμῶν. was wir gesehen und gehört haben, (das) verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns.
Auf Hören, Sehen und Angreifen folgen Bezeugen (μαρτυροῦμεν) und Verkündigen (ἀπαγγέλλομεν). Man kann diesen Anspruch der Augenzeugenschaft ins Reich der Fiktion verweisen. Aber es lässt sich jedenfalls nicht bestreiten, dass die frühen Verkündiger der Ansicht waren, dass die christliche Botschaft auf etwas gründet, was Menschen erlebt haben. Sie ist keine „Erkenntnis“, die in einem Studierstübchen gewachsen ist oder auf den unüberprüfbaren Offenbarungen eines einzelnen besonders Inspirierten beruht.
Ein großes Thema in den 80er und 90er Jahren war die Diskussion fact vs. fiction. Daher war die diesbezügliche Literatur auch Teil meiner Lektüre für die Diss.
Hatte Strasburger gezeigt, dass bei Homer Eigenheiten der späteren Geschichtsschreibung schon vorweggenommen sind, so zäumt Hayden White das Pferd von der anderen Seite auf [12]: Der Geschichtsschreiber (Klio ist die Muse der Geschichtsschreibung) arbeitet in vielem wie ein Erzähler fiktionaler Texte.
Der Historiker (zumindest der antike) arbeitet als Schriftsteller im Prinzip genauso wie der Romanschriftsteller: Er zählt ja nicht einfach zusammenhanglos Ereignisse auf, sondern er erzählt eine Geschichte, eine story, er konstruiert einen plot. Aus dem Strom der Ereignisse greift er diejenigen heraus, die ihm bedeutsam erscheinen und bringt sie in einen erzählerischen Zusammenhang. Der Unterschied zum Romanschriftsteller ist, dass dieser die Ereignisse frei erfinden kann, während der Historiker sie in Erfahrung bringen muss. Wieviel Freiheit er dabei hatte, zeigen die Reden in den antiken Geschichtswerken, die vielfach so nie gehalten wurden. Vielmehr wollen sie die Beweggründe einer Persönlichkeit aufzuzeigen, indem sie das aussprechen, was diese (nach Ansicht des Historikers) in dieser Situation gesagt hätte.
Historische Zusammenhänge sind ja keineswegs evident. Ein post hoc bedeutet nicht automatisch propter hoc. So wie wir in unserem eigenen Leben versuchen, durch das Herstellen von Zusammenhängen Sinn zu stiften, so versucht es der Historiker mit der Vergangenheit im allgemeinen. Antike Historiker wollen ja nicht nur Fakten konstatieren, sie wollen tiefere Ursachen und Sinnzusammenhänge aufzeigen. Dass der Historiker dazu die Fakten in einen Plot verpackt, bedeutet nicht, dass es sich um bloße Fiktion handelt.
Das Umgekehrte, nämlich die Faktionalisierung des Fiktiven betreiben viele Romanautoren, indem sie ihre fiktiven Erzählungen geschickt mit Verweise auf Fakten aus der realen Welt verquicken. Am Beispiel des Agentenromans zeigt dies Bernd Lenz, der dieses Verfahren Factifiction nennt [13]. Ganz perfide wird es, wenn die Rezeptionsumstände nicht mit der Fiktionalität des Textes rechnen lassen, wie dies Klaus Degering an Hand eines Artikels in der renommierten Washington Post beschreibt [14], der sogar einen Pulitzerpreis gewann – dessen Inhalt sich aber schließlich als frei erfunden herausstellte.
Klicken Sie innerhalbe des blauen Rahmens, um das Bild von assets.amuniversal.com zu laden. (1) Calvin: Wir verstehen nicht, was Ereignisse wirklich verursacht.
(2) Calvin: Geschichte ist die Fiktion, die wir erfinden, um uns selbst zu überzeugen, dass Ereignisse erkennbar sind und dass das Leben Ordnung und Richtung hat.
(3) Calvin: Darum werden Ereignisse jedesmal neu interpretiert, wenn sich Werte ändern. Wir brauchen neue Versionen der Geschichte, die unsere aktuellen Vorurteile berücksichtigen.
(4) Hobbes: Was schreibst du also?– Calvin: Eine revisionistische Autobiographie.
Calvin and Hobbes, 19. Juli 1993. (Watterson, Bill: The complete Calvin and Hobbes.– Kansas City: McMeel, 1. Aufl. 2005. Bd. 3, S. 210)
Geschichte muss in jeder Generation neu geschrieben werden, weil sich die Fragestellungen und der Blickwinkel ändern. Was gestern noch ein genialer Feldherr war, kann heute schon ein rücksichtsloser Eroberer sein. Wobei diese Beurteilungen einander nicht notwendigerweise auschließen.
Geschichtsschreibung spiegelt also immer auch mehr oder weniger die Weltsicht des Geschichtsschreibers und seiner Zeit. Die Frage ist: lässt der Historiker auch die Fakten seine Weltanschauung beeinflussen oder bestimmt ausschließlich seine Weltsicht die Auswahl und Präsentation der Fakten? Letzteres droht in propagandistische oder revisionistische Geschichtsschreibung abzugleiten. Deren extreme Variante beschreibt George Orwell in 1984:
“There is a Party slogan dealing with the control of the past,” he said. “Repeat it, if you please.”
(Orwell, George [= Blair, Eric Arthur], 1984, Teil 3, Kap. 2)
“‘Who controls the past controls the future: who controls the present controls the past,’” repeated Winston obediently.
“‘Who controls the present controls the past,’” said O'Brien, nodding his head with slow approval. “Is it your opinion, Winston, that the past has real existence?”
Geschichte wird manchmal neu geschrieben, um Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Der Parteislogan will besagen: Wer die maßgebliche Interpretation der Vergangenheit durchsetzen kann, bestimmt auch den zukünftigen Weg der Gesellschaft. Derselbe Sachverhalt wird in einem Witz aus der Sowjetära so beschrieben:
Frage an Radio Eriwan: Kann man die Zukunft verhersagen? – Antwort: Im Prinzip ja. Wir wissen ziemlich genau, wie die Zukunft wird. Wir haben ein Problem mit der Vergangenheit: sie ändert sich dauernd.
Eine Zeit, in der die Menschen kein historisches Bewusstsein hatten, ist für die Periode, seit der Menschen schreiben konnten, m.E. nicht nachweisbar. Was sie nicht von Anfang an hatten, ist ein historiographisches Bewusstsein, die Erkenntnis, dass man sich um zuverlässige Informationen über die Vergangenheit bemühen muss. Bei den Griechen sehen wir dieses Bewusstsein erstmals bei Herodot thematisiert.
Die homerischen Epen zeigen durchaus ein Bewusstsein für die „Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart“ (so eine von Snells ursprünglichen Definitionen für Geschichtsbewusstsein). Aber Homer bietet keine Analysen kausaler Zusammenhänge, sondern Aufzählungen von Ereignissen. Seine history besteht aus stories.
Das Interesse des NT an Geschichte beschränkt sich auf Heilsgeschichte. Das in Jesus gekommene Heil ist aber nach dem Verständnis der Autoren Teil der realen Geschichte, keine Fiktion. Für Jesu Heilshandeln gibt es – im Gegensatz etwa zu den mythischen Spekulationen der zeitgenössischen Gnosis – Augenzeugen.
Es gibt keine formalen Merkmale zur Unterscheidung von Fakt und Fiktion in Texten. Der Unterschied kann immer nur an inhaltlichen und rezeptionsästhetischen Kriterien festgemacht werden. Beispiele zu Märchen und Mythos auf meiner Seite Adam – eine historische Persönlichkeit?
1) in: Wege der Forschung, Bd. 20, S. 240 bzw. 238.
2) Snell, Bruno: Die Entdeckung des
Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen.–
Hamburg: Claassen, 3. erw. Aufl. 1995. (Kap. IX "Die Entstehung des
geschichtlichen Bewußtseins", S. 203-217)
9. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009
3) vgl. Todorov, Tzvetan: Die
Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen.– Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1985.
Todorov beschreibt, wie Christoph Columbus der
Meinung war, die amerikanischen Ureinwohner hätten keine Sprache, da er sie
nicht verstand; und sie hätten kein ökonomisches System, da sie kein Geld
verwendeten.
4) Strasburger, Hermann: Homer und die Geschichtsschreibung.– Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1972. 1. Abh. Heidelberg: Winter, 1972.
5) Otto, Walter F[riedrich]: „Herodot und die Frühzeit der Geschichtsschreibung“, in: Herodot, Historien. Dt. Gesamtausg. Übers. v. A. Horneffer, neu hrsg. u. erl. v. H. W. Haussig.– 4. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1971. S. xi-xxviii
6)
ἀργαλέον δέ με ταῦτα θεὸν ὣς πάντ’ ἀγορεῦσαι | schwer ist es, dass ich dies alles wie ein Gott sage |
Eine der wenigen Stellen, an denen der Dichter von sich in der ersten Person spricht; er bezeichnet seine dichterische Arbeit als schwierig (offenbar ein uralter Topos).
7) Krischer, Tilman: Formale Konventionen der homerischen Epik.– München: Beck, 1971 (Zetemata, Bd. 76)
8) Lübbe, Hermann: „Was sind Geschichten und wozu werden sie erzählt?“, in: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. v. Eberhard Lämmert.– Stuttgart: Metzler, 1982. S. 620
9) vgl. Tzvetan Todorovs Unterscheidung zwischen narrativen und interpretativen Kulturen in: Die Eroberung Amerikas (s.o. [3]).
10) Strasburger, Gisela: Die kleinen Kämpfer der Ilias.– Diss. Frankfurt a.M., 1954.
11) Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur.– 7.Aufl. Bern, München: Francke, 1982. (Sammlung Dalp, Bd. 90)
12) White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses.– Stuttgart: Klett-Cotta, 1986. (Sprache und Geschichte, Bd. 10)
13) Lenz, Bernd: Factifiction. Agentenspiele wie in der Realität: Wirklichkeitsanspruch und Wirklichkeitsgehalt des Agentenromans.– Heidelberg: Winter, 1987. (Anglist. Forschungen, Bd. 188)
14) Degering, Klaus: „»Fiction as fact«. Eine Analyse des Pulitzer Fraud (1980-1981)“, Poetica 15 (1983) 151-178
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 30. Okt. 2022