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Adam – eine historische Persönlichkeit?
Adam – eine historische Persönlichkeit?
Eva isst von der verbotenen Frucht und gibt auch dem Adam davon. Die Schlange
ist mit dem Oberkörper einer Frau dargestellt.
Relief am Sockel des Mittelpfeilers des Portail de la Vierge (Portal der
Jungfrau, südlichstes Westportal), Kathedrale Notre-Dame de Paris, Original
um 1200.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber:
Jebulon, 2011;
bearb. v.
Materialscientist.–
Lizenz:
CC0 1.0
(~ gemeinfrei).–
Bearbeitung: Kontrast erhöht, verkleinerter Bildausschnitt.
Eva hat schon, Adam wird gleich. Die Schlange ist als Echse mit Frauenkopf
dargestellt.
Hugo van der Goes: Sündenfall. Linker Flügel des Wiener Diptychons, wahrsch.
1477, Öl auf Holz, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber: unklar.–
Lizenz: gemeinfrei.–
Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt.
Das biblische Menschenpaar im Augenblick des Sündenfalls, als Vorwand für eine
lebensgroße Aktstudie.
Albrecht Dürer: Adam und Eva. 1507, Öl auf Holz, Museo del Prado, Madrid.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber: Jose Baztan Lacasa, 2010.–
Lizenz: gemeinfrei.–
Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt, geringfügig aufgehellt.
Der Sündenfall als romantisch-idealistische Idylle, fast wie in einem
Römerquelle-Werbespot.
Gustave Courtois: Adam und Eva im Garten Eden. 1899, Öl auf Leinwand, Musée
des Beaux-Arts, Besançon.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber:
Arnaud 25, 2013.–
Lizenz:
CC BY-SA 3.0.–
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Erinnert irgendwie an ein faschistisches Propaganda-Poster (Titelvorschlag:
die Apfelpflückerin).
Károly Patkó: Adam und Eva. 1920, Öl auf Leinwand, Privatbesitz.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber: unbekannt.–
Lizenz: gemeinfrei.–
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Adam und Eva haben erkannt, dass sie nackt sind, und bedecken beschämt ihre
Blöße.
Fresko in der Katakombe der Heiligen Marcellinus und Petrus in Rom, 4.-6. Jh.
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Wikimedia.–
Urheber: unklar, hochgeladen von
Leinad-Z~commonswiki.–
Lizenz: gemeinfrei.–
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Adam und Eva werden vom Engel mit dem Schwert (über den beiden) des Paradieses
verwiesen.
Masaccio: Vertreibung aus dem Paradies. 1426/27, Fresko in der Brancacci-Kapelle
in der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber: unklar.–
Lizenz: gemeinfrei.–
Bearbeitung: Gradation angepasst, verkleinerter Bildausschnitt.
Anlass für diese Seite war ein Vortrag von Siegfried Zimmer, der nicht zu
seinen Glanzpunkten gehört: „Kann die Erzählung von Adam und Eva historisch
gemeint sein?“
(Worthaus
3.5.2, 2013). Dabei stimme ich in der Antwort auf die im Vortragstitel
gestellte Frage mit Zimmer überein. Aber seine Argumentation ist meines
Erachtens zum überwiegenden Teil nicht stichhaltig. Und sein Vortrag enthält
etliche Schlampigkeiten, die sich für einen Wissenschaftler eigentlich
verbieten, und auch fragwürdige oder sachlich falsche Behauptungen. Hier eine
Auflistung:
Florilegium errorum
- Hebr. רֵאשִׁית rêšît und griech. ἀρχή
arkhḗ bedeuten etwas ganz anderes als dt. Anfang.
- Das ist Unsinn. Wenn dem so wäre, würden die Bibelübersetzungen es auch
ganz anders wiedergeben. Eine Analyse des Bedeutungsspektrums
von rêšît s.u.
- Wörter wie veraltet oder altmodisch kann es erst seit
100 Jahren geben (22:00).
- Seit Aristophanes gibt es ein eigenes Wort für altmodisch:
ἀρχα(ι)ϊκός
(Aristoph.Nub. 821).
Und selbstverständlich können im Griech. die Wörter für „alt, alt geworden“
auch negativen Sinn haben:
ἀρχαῖος „veraltet“
(Aischyl.Prom. 317),
„altmodisch, unmodern“
(Aristoph.Nub. 1469);
παλαιός „veraltet, unbrauchbar geworden“
(Soph.Oid.T. 290);
ἔκκαιρος „über die Zeit hinaus, veraltet, antiquiert“
(Anth.Pal. 11,417).
Die Behauptung, ein bestimmtes Wort gebe es in einer Sprache gar nicht, ist
in 9 von 10 Fällen Blödsinn.
- Das historische Denken gibt es erst seit 200 Jahren (23:00).
- Da würde Zimmer aber jeder, der sich mit Herodot oder Thukyides, Sallust,
Livius oder Tacitus beschäftigt, lebhaft widersprechen. Ich eingeschlossen.
Zimmer hat auf diesem Gebiet offensichtlich wenig Ahnung.
- Archäologie kommt von griech. ἀρχή arkhḗ (22:37).
- Ja, aber nur mittelbar. Genauer gesagt, kommt es von griech. ἀρχαῖος
arkhaíos „altertümlich, alt“, und dieses ist abgeleitet von
arkhḗ. Archäologie gräbt auch nicht nach Fossilien, dies tut die
Paläontologie (deren Name von παλαιός palaiós, einem anderen griech.
Wort für „alt“, kommt).
- Von arkhḗ kommt auch Architekt(ur), da sich Architekten
mit Fundamenten beschäftigen (23:58 / 24:10).
- Nein, sondern deshalb weil griech. arkhḗ auch „Herrschaft,
Regierung“ bedeutet. Der Archi-tekt ist der „regierende“ Ober-Baumeister,
so wie der Erz-bischof (arkhiepískopos) der Ober-Bischof ist, der
Erz-engel (arkhángelos) der Ober-Engel usw. Der Predigerunsitte,
mit etymologischem Wortgeklingel etwas belegen zu wollen, sollte sich ein
Wissenschaftler entschlagen. Zumindest wenn es ihm um Bildung geht (1:18).
-
- Das Wort für Anfänger gibt es in der Antike nicht (28:12).
- Doch, gibt es, aber es ist etymologisch anders gebildet; die wörtliche
Bedeutung ist „unerfahren, Neuling, Rekrut“ o.ä., also griech. ἄπειρος
ápeiros, νέος néos, lat. tīrō, rudis u.ä. Aber
Zimmer wollte vermutlich darauf hinaus, dass das Wort für Anfang
sprachlich nicht mit Unerfahrenheit assoziiert wird.
-
- Die zweisilbigen hebr. Wörter betont man in aller Regel auf der zweiten
Silbe (38:58).
- So sie nicht zur großen Gruppe der Segolata gehören, wie z.B.
מֶלֶךְ mǽlæk „König“,
חֹשֶׁךְ ḥóšæk „Finsternis“,
סֵפֶר sépær „Schriftstück, Brief, Buch, Urkunde“,
בַּיִת bájit „Haus“,
מַיִם májim „Wasser“,
לַיְלָה lájlâ „Nacht“,
צֶדֶק ṣǽdæq „das Rechte, Gerechtigkeit“,
אֹהֶל ʾóhæl „Zelt, Wohnung“,
דֶּרֶךְ dǽræk „Weg“,
עַיִן ʿájin „Auge, Quelle“,
קֹדֶשׁ qódæš „Heiligkeit, Heiligtum“,
חֶרֶב ḥǽræb „Schwert“,
יַיִן jájin „Wein“,
שֶׁמֶשׁ šǽmæš „Sonne“,
אֶרֶץ ʾǽræṣ „Land, Erde“, u.v.a.m,
ich schaff es kaum, mich einzubremsen. Im übrigen ist abbá kein
hebr., sondern ein aram. Wort. Wenn schon Behauptungen zum Hebr., dann auch
richtig. (Ist ja auch eine Frage der Bildung.)
Nebenbei bemerkt kommen Koran und Moschee
aus dem Arab., aber das Arab. hat andere Betonungsregeln als das Hebr.
Überdies hat Moschee eine abenteuerliche Reise hinter sich:
dt. Moschee
< frz. mosquée
< ital. moscheta
< span. mezquita
< arab. مسجد masǧid.
Im Dt. gibt es etliche Wörter lat. Herkunft, die entgegen dem Lat. endbetont
sind – vermutlich weil die Betonung vom Frz. beeinflusst ist:
Kopie (lat. cópia),
Fabrik (lat. fábrica),
Dialog (lat. diálogus) usw.
- Namen haben im Hebr., Griech., Ital., Lat. und im Dt. keinen Artikel
(32:40).
- Stimmt für das Hebr. Stimmt so nicht für das Griech., das Ital. und das
Dt. Und das Lat. hat gar keinen Artikel! Aber: das ist eine Nebelgranate
und für die weitere Argumentation belanglos. Es zählt ja hier allein der
Sprachgebrauch des Hebr.
Griech.: Artikel steht bei Eigennamen, wenn sie als bereits
erwähnt oder allgemein bekannt bezeichnet werden sollen.
Ital.: Vornamen stehen, wenn sie nicht näher bestimmt sind, ohne Artikel,
Nachnamen aber meist mit Artikel.
Dt.: umgangssprachlich wird der Artikel bei Eigennamen gesetzt,
schriftsprachlich nicht.
- Einen Personennamen adám für eine bestimmte Einzelperson gibt es
im AT nicht (36:02).
- In Gen 4,25; 5,1.3-5 kann das Wort kaum anders sinnvoll verstanden werden
denn als Eigenname, Details dazu s.u.
- Man kann adám nicht deklinieren (38:10).
- Missverständlich formuliert, weil es im Hebr. gar keine Kasusflexion gibt.
Was Zimmer wohl meint: das Wort kommt nicht im Status constructus, d.h. als
Nomen regens einer Genitivverbindung, vor, und es kommt nicht im Plural vor.
Ersteres ist vielleicht nur Zufall, letzteres aber bedeutsam: das Wort ist
offenbar ein Kollektivum (Details dazu s.u.).
- „Wer einen toten ha-adám berührt, der wird sieben Tage unrein.
3. Mose 19, Vers 11.“ (42:02)
- Das ist Num (4Mo) 19,11. Im Hebr. steht נֶפֶשׁ אָדָם
næpæš ʾādām wörtl. „Seele eines Menschen“, also kein Artikel.
- „Gott ist kein ha-adám, dass er lügt. 3. Mose 23, Vers 19.“
(41:18)
- Das ist Num (4Mo) 23,19. Im Hebr. steht אִישׁ
ʾîš „Mann, Mensch“, nicht adám! In der zweiten Vershälfte
(„noch ein Menschenkind, dass er bereut“) steht בֶּן־אָדָם
bæn-ʾādām „Menschensohn, Menschenkind, Mensch“.
Zimmer hat offenbar einfach ein paar Stellen aus einer Konkordanz
herausgesucht, ohne sich vergewissert zu haben, was im Hebr. wirklich steht.
- „Ha-adám sieht was vor Augen ist […]. 5. Mose 16, Vers 7.“
(41:32)
- Das ist 1Sam 16,7. Fehler passieren. Aber bei 8 Stellen 3 falsch zu
belegen ist ein hoher Prozentsatz. (Die übrigen Stellen, die Zimmer zitiert,
sind: Gen 6,1f; Gen 7,21; Gen 9,6; Ex 33,20; 1Kön 5,11.)
- Einen Anfang im Sinne des lat. principium kann man nicht datieren
(46:00).
- Das ist so generell behauptet nicht richtig. Wenn Livius principio
anni „zu Jahresbeginn“ sagt (2,48.56; 3,22 u.ö.), principio veris
„zu Frühlingsbeginn“ (44,1.34), principio lucis „beim ersten
Tageslicht“ (39,30), principio belli „bei Kriegsbeginn, am Anfang
des Krieges“ (37,34), principio orationis „am Anfang der Rede“
(28,43), so kann man diese Angaben mehr oder weniger genau datieren. Es zeigt,
dass der Unterschied zwischen principium und initium nicht
viel schärfer ist als der zwischen den dt. Wörtern Anfang und
Beginn: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ (Hermann Hesse) –
aber nicht jedem Beginn.
Unprofessionell ist auch Zimmers Anspruch, er kenne die Erzählung ganz gut
(soll heißen: besser als seine weltanschaulichen Gegner), er habe sich mit
der Erzählung (lange) beschäftigt (46:38). Das ist kein Sachargument. Man
kann sich 100 Jahre mit der Bibel beschäftigt haben und trotzdem völlig auf
dem Holzweg sein. Daher: Fakten, Fakten, Fakten! Und keine Pathologisierung
von Biblizisten.
Ein Widerspruch ist es auch, wenn Zimmer einerseits behauptet, für die
Menschen der Antike sei die Vergangenheit ganz wichtig gewesen, weil sie ja
die Grundlage bildete, während für uns Moderne die Vergangenheit weit weg und
unwichtig ist; andererseits aber sagt er, in der Antike hätte es noch kein
historisches Denken gegeben. (Was sachlich falsch ist.)
Ich kann nicht erkennen, wozu die breite Darlegung des historischen Wandels
dienen soll. Was haben Kompass oder Schießpulver mit dem historischen Denken
und dem Verständnis der biblischen Texte zu tun? Es stimmt, dass man sich
davor hüten muss, moderne Denkvoraussetzungen in die Antike zu projizieren.
Ebenso muss man sich aber auch davor hüten, die Antike zum „ganz anderen“
hochzustilisieren.
Auch ohne Kompass konnte man auf dem Meer navigieren, aber nicht so exakt und
nicht über so weite Entfernungen. Auch ohne Schießpulver konnten Menschen
einander töten, nur noch nicht so effizient.
Ich will Siegfried Zimmer nicht grundsätzlich ans Leder. Die meisten seiner
Worthaus-Vorträge, in denen er sich nicht gerade der Vernichtung der
evangelikalen Theologie widmet, finde ich durchaus gut, trotz manch sachlicher
Fehler (wie der Behauptung, die Tyrischen Schekel seien bildlos gewesen) und
der offensichtlichen Tatsache, dass Zimmer der alten Sprachen wenig mächtig
ist („Praesens historicus“).
Begriffliches
Anfang
Dass abstrakte Begriffe in verschiedenen Sprachen nicht identischen
Bedeutungsumfang haben, weiß jeder, der eine Fremdsprache gelernt hat.
Griech. arkhē bedeutet nicht nur „Anfang“, sondern auch „Herrschaft“.
Doch deswegen zu behaupten, ein Wort im Griech. oder Hebr. bedeute etwas ganz
anderes als sein dt. Pendant, ist unseriös. Es geht ja immer um die Bedeutung
im aktuellen Kontext.
So auch das hebr. Wort für „Anfang“: רֵאשִׁית
rêšît bezeichnet zunächst den zeitlichen Anfang:
- Dtn 11,12: מֵרֵשִׁית הַשָּׁנָה וְעַד אַחֲרִית שָׁנָה „vom Anfang des
Jahres bis zum Ende eines Jahres“.
- Jer 26,1: בְּרֵאשִׁית מַמְלְכוּת יְהֹויָקִים […] הָיָה הַדָּבָר הַזֶּה מֵאֵת יְהוָה
„am Anfang der Regierung(szeit) des Jojakim […] geschah dies Wort von JHWH her“,
ebenso Jer 27,1.
- Jer 28,1: וַיְהִי בַּשָּׁנָה הַהִיא בְּרֵאשִׁית מַמְלֶכֶת צִדְקִיָּה „und es
geschah in jenem Jahr am Anfang der Regierung(szeit) des Zedekia“, ähnlich
Jer 49,34.
- Mi 1,13: רֵאשִׁית חַטָּאת הִיא לְבַת־צִיֹּון „Anfang von Sünde
war sie [die Stadt Lachisch] für die Tochter Zion“. D.h. wohl: mit dem Ausbau
von Lachisch zur Festung (s. 2Chr 11,5-12) begann die unselige und gottlose
Machtpolitik der Könige von Juda.
- Spr 17,14: פֹּוטֵר מַיִם רֵאשִׁית מָדֹון „(wie) einer der
Wasser losbrechen lässt, ist der Anfang eines Streites“. Wenn der Streit
erst einmal begonnen hat, gibt es kein Halten mehr.
- Jes 46,10: מַגִּיד מֵרֵאשִׁית אַחֲרִית וּמִקֶּדֶם אֲשֶׁר לֹא־נַעֲשׂוּ „der
von Anfang an die Zukunft (od. den Ausgang) verkündet hat, und von Anbeginn,
was (noch) nicht geschehen ist“ (sagt Gott über sich). Vgl. Jes 40,21
הֲלֹוא הֻגַּד מֵרֹאשׁ לָכֶם „ist es euch nicht von Anfang an
verkündet worden?“, also רֹאשׁ rôš „Kopf,
Oberhaupt“ in derselben Bedeutung „Anfang“.
- Gen 1,1: בְּרֵאשִׁית בָּרָא אֱלֹהִים אֵת הַשָּׁמַיִם וְאֵת הָאָרֶץ „am
Anfang hat Gott den Himmel und die Erde erschaffen“.
- Gen 10,10: וַתְּהִי רֵאשִׁית מַמְלַכְתֹּו בָּבֶל וְאֶרֶךְ וְאַכַּד וְכַלְנֵה בְּאֶרֶץ שִׁנְעָר
„der Anfang seiner Herrschaft war Babel und Erech und Akkad und Kalne im Land
Šin'ar“. Der Ausgangspunkt, von dem aus Nimrod seine Herrschaft nach Norden
ausdehnte.
- Hos 9,10: כְּבִכּוּרָה בִתְאֵנָה בְּרֵאשִׁיתָהּ רָאִיתִי אֲבֹותֵיכֶם „wie eine
Frühfeige an einem Feigenbaum an seinem (od. ihrem) Anfang sah ich eure Väter“.
Der Anfang kann sich auf die Feige oder den Baum beziehen (beide sind im Hebr.
fem.) und meint jedenfalls das Anfangsstadium der Reifung.
- Ps 111,10: רֵאשִׁית חָכְמָה יִרְאַת יְהוָה „Anfang von Weisheit
ist die Ehrfurcht vor JHWH“, ähnlich Spr 1,7. Man hat wohl zu verstehen:
Die Gottesfurcht ist der Ausgangspunkt; ohne Gottesfurcht gibt es keine
Weisheit. Aber Weisheit erschöpft sich nicht in Gottesfurcht. Es muss noch
mehr dazukommen. Dies ergibt sich auch aus der dt. Übersetzung zwanglos und
leicht verständlich.
- Spr 4,7: רֵאשִׁית חָכְמָה קְנֵה חָכְמָה וּבְכָל־קִנְיָנְךָ קְנֵה בִינָה
„Anfang von Weisheit (ist): erwirb Weisheit, und mit all deinem Besitz
erwirb Einsicht“. Es könnte aber auch gemeint sein: „das beste ist Weisheit;
erwirb Weisheit […]“. S. hierzu den nächsten Absatz.
Aus der Bedeutung „Anfang“ entwickelt sich gelegentlich die Bedeutung „was
man am Anfang gemacht hat“, „Erstling, erster Teil“. Das kann auch den Sinn
von „erster Teil hinsichtlich Qualität, bester Teil“ annehmen. Nicht immer
ist klar, welche Bedeutung im Vordergrund steht.
- Gen 49,10: וְרֵאשִׁית אֹונִי „und Erstling meiner
(Zeugungs-)Kraft“ (Jakob über seinen ältesten Sohn Ruben), ähnlich Dtn 21,17;
Ps 78,51; 105,36.
- Spr 8,22: יְהוָה קָנָנִי רֵאשִׁית דַּרְכֹּו קֶדֶם מִפְעָלָיו מֵאָז „JHWH
hat mich geschaffen als Erstling seines Weges, als Anbeginn seiner Taten von
jeher“ (spricht die Weisheit über sich selbst). Gesenius erklärt das Wort
mit „erstes Erzeugnis seines Wirkens“. Ähnlich Hi 40,19 über den Behemot.
- Jer 49,35: הִנְנִי שֹׁבֵר אֶת־קֶשֶׁת עֵילָם רֵאשִׁית גְּבוּרָתָם „siehe,
ich zerbreche den Bogen Elams, den Anfang ihrer Macht“. Luther 2017 und
Einheitsübers. haben „seine stärkste Waffe“.
- Spr 3,9: כַּבֵּד אֶת־יְהוָה מֵהֹונֶךָ וּמֵרֵאשִׁית כָּל־תְּבוּאָתֶךָ „ehre
JHWH von deinem Besitz, vom Erstling all deines Ertrages“.
- Jer 2,3: קֹדֶשׁ יִשְׂרָאֵל לַיהוָה רֵאשִׁית תְּבוּאָתֹה „Israel (war)
JHWH heilig, der Erstling seiner Ernte“.
- Dtn 33,21: וַיַּרְא רֵאשִׁית לֹו כִּי־שָׁם חֶלְקַ֥ת מְחֹקֵ֖ק סָפוּן „und
er [Gad] wählte sich einen Erstling aus, denn dort war der Anteil (?) eines
Anführers aufbewahrt“ (aus dem Segen des Mose für den Stamm Gad). Gad kann
als erster auswählen, daher kann er sich den besten Teil aussuchen? Der
Anteil eines Anführers ist nach Gerda Altpeter „der durch das Los
d. Einzelnen zugewiesene Teil d. Gesamtflur e. Ortschaft“.
- Hes 48,14: וְלֹא יַעֲבִור רֵאשִׁית הָאָרֶץ כִּי־קֹדֶשׁ לַיהוָֽה „und nicht
soll man den Erstling (d.i. den besten Teil) des Landes übertragen, denn es
ist JHWH heilig“ (Regeln für die endzeitliche Landverteilung).
- Am 6,6: הַשֹּׁתִים בְּמִזְרְקֵי יַיִן וְרֵאשִׁית שְׁמָנִים יִמְשָׁחוּ „die mit
Weinkratéren trinken, und sie salben (sich) mit dem Erstling von Ölen (d.h.
mit den besten Ölen)“.
- 1Sam 15,21: וַיִּקַּח הָעָם מֵהַשָּׁלָל צֹאן וּבָקָר רֵאשִׁית הַחֵרֶם „das
Volk nahm von der Beute, Kleinvieh und Rinder, den Erstling (den besten Teil)
des Gebannten“.
- Num 24,20: רֵאשִׁית גֹּויִם עֲמָלֵק „Erstling der Nationen
(war) Amalek“ (aus Bileams Sprüchen), Luther 2017 und Einheitsübers.
übersetzen „das erste unter den Völkern“. Ähnlich Am 6,1 über Israel.
- Dan 11,41: וְאֵלֶּה יִמָּלְטוּ מִיָּדֹו אֱדֹום וּמֹואָב וְרֵאשִׁית בְּנֵ֥י עַמֹּון
„und diese werden aus seiner Hand entkommen: Edom und Moab und der Erstling
(d.h. beste Teil?) der Söhne Ammons“. Doch wird hier vielfach Textverderbnis
angenommen und stattdessen (nach der syr. Übers.) וּשְׁאֵרִית
„und der Rest der Söhne Ammons“ konjiziert.
Und schließlich wird das Wort zu einem Begriff der Opfersprache, der eine
bestimmte Form von Abgabe an das Heiligtum bezeichnet (öfters neben „Hebe,
Hebopfer“).
- 1Sam 2,29: וַתְּכַבֵּד אֶת־בָּנֶיךָ מִמֶּנִּי לְהַבְרִיאֲכֶם מֵרֵאשִׁית כָּל־מִנְחַת יִשְׂרָאֵל לְעַמִּי
„du ehrtest deine Söhne mehr als mich, euch zu mästen vom Erstling aller
Opfergabe meines Volkes Israel“ (an Eli und seine Söhne).
- Dtn 18,4: רֵאשִׁית דְּגָנְךָ תִּירֹשְׁךָ וְיִצְהָרֶךָ וְרֵאשִׁית גֵּז צֹאנְךָ תִּתֶּן־לֹו
„den Erstling deines Korns, deines Mosts und deines Öls, und den Erstling
der Schur deines Kleinviehs sollst du ihm geben“ (über die Versorgung der
Priester), ähnlich 2Chr 31,5.
- Dtn 26,2: וְלָקַחְתָּ מֵרֵאשִׁית כָּל־פְּרִי הָאֲדָמָה אֲשֶׁר תָּבִיא מֵאַרְצְךָ
„und du sollst nehmen vom Erstling all der Frucht des Ackerbodens, die du
einbringst von deinem Land“, ähnlich V.10.
- Num 15,20: רֵאשִׁית עֲרִסֹתֵכֶם חַלָּ֖ה תָּרִימוּ תְרוּמָה „als
Erstling eurer Teige (od. eures Schrotes) sollt ihr einen Kuchen opfern
(wörtl.: als Hebe abheben)“, und noch einmal V. 21, ähnlich Hes 44,30,
Neh 10,38.
- Ex 23,19: רֵאשִׁית בִּכּוּרֵי אַדְמָתְךָ תָּבִיא בֵּית יְהוָה אֱלֹהֶיךָ
„den Erstling (das Beste) des ersten Ertrags deines Ackerbodens sollst du
zum Haus JHWHs, deines Gottes bringen“. Bikkûrîm ist wohl zeitlich
der erste Ertrag, die ersten Früchte eines Jahres, rêšît ist eine
Auswahl, die besten, schönsten Früchte davon. Wortgleich Ex 34,26, ähnlich
Hes 44,30.
- Lev 23,10: וַהֲבֵאתֶם אֶת־עֹמֶר רֵאשִׁית קְצִירְכֶם אֶל־הַכֹּהֵן „dann
sollt ihr die Garbe des Erstlings eurer Ernte zum Priester bringen“.
- Hes 20,40: וְשָׁם אֶדְרֹושׁ אֶת־תְּרוּמֹתֵיכֶם וְאֶת־רֵאשִׁית מַשְׂאֹותֵיכֶם בְּכָל־קָדְשֵׁיכֶם
„und dort werde ich euren Heben und den Erstling eurer (Ab-)Gaben fordern
in allen euren Weihegaben“.
- Lev 2,12: קָרְבַּן רֵאשִׁית תַּקְרִיבוּ אֹתָם לַיהוָה „Opfergabe
eines Erstlings: ihr sollt sie JHWH bringen“.
- Num 18,12: כֹּל חֵלֶב יִצְהָר וְכָל־חֵלֶב תִּירֹושׁ וְדָגָן רֵאשִׁיתָם אֲשֶׁר־יִתְּנוּ לַיהוָה לְךָ נְתַתִּים
„alles Fett (d.h. alles Beste) von Öl und alles Fett von Most und Korn, ihren
Erstling, den sie JHWH geben: dir habe ich sie gegeben“.
- Neh 12,44: וַיִּפָּקְדוּ בַיֹּום הַהוּא אֲנָשִׁים עַל־הַנְּשָׁכֹות לָאֹוצָרֹות לַתְּרוּמֹות לָרֵאשִׁית וְלַמַּֽעַשְׂרֹות
„und an jenem Tag erhielten Männer die Aufsicht über die Kammern für die
Vorräte, für die Heben, für den Erstling und für die Zehnten“.
Dies ist eine zwar langweilige, aber meines Wissens erschöpfende Auflistung
der Bibelstellen, an denen rêšît vorkommt. Die Behauptung Zimmers,
er könnte uns fünzig Stellen vorstellen, wo mit rêšît „die Grundlage“
gemeint ist (29:09), entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Dass im Begriff
Anfang – auch im Dt. – die Konnotation (Nebenbedeutung) von
„Ausgangspunkt“ oder „Grundlegung“ mitschwingt, bestreite ich dabei gar nicht.
Aber daraus lässt sich nichts für die Interpretation von Gen 2-3 ableiten.
Worauf Zimmer hinauswill, ist vermutlich folgendes:
Nach Mircea Eliade berichtet der Mythos von Ereignissen, die in der
primordialen (uranfänglichen) Zeit, der „märchenhaften Zeit der ‚Anfänge‘“
stattgefunden haben. Das ist die graue Vorzeit, die nicht datierbar ist, weil
sie nicht einfach ein Abschnitt auf dem Zeitstrahl der „historischen“ Zeit
ist, sondern eine Zeit sui generis, eine Zeit außerhalb unserer Zeit. (Ob das
alle antiken Menschen so empfunden haben, bleibe hier dahingestellt.) Der
„Anfang“ von Gen 1,1 (und der folgenden Kapitel) ist für Zimmer in dieser
primordialen, mythischen Zeit angesiedelt.
Aber gerade davon bin ich nicht überzeugt. Der (erste) biblische
Schöpfungsbericht ist vor allem als Kritik an den Schöpfungsmythen seiner
Zeit zu verstehen. Zu dieser Kritik gehört auch, dass „am Anfang“ den Anfang
der realen, wirklichen Zeit meint. Das lässt sich z.B. ablesen an den
Geschlechtsregistern, die die „Zeit der Anfänge“ bruchlos mit der Zeit der
Erzväter (die man grob in die mittlere Bronzezeit datieren kann) verknüpft.
Diese Kontinuität mag fiktiv sein, aber sie zeigt, dass der Autor ein
Bewusstsein für die Kontinuität der Zeit hatte. Aber gerade die
Geschlechtsregister blendet Zimmer bewusst aus (50:30).
Adam und Eva
Hebr. אָדָם ʾādām ist tatsächlich eigentlich
kein Eigenname, sondern ein Appellativum und heißt „Menschheit, Mensch“. Es
ist offenbar ein Kollektivum (wie z.B. dt. „Laub“) und kommt daher im AT
nicht im Plural vor, dafür wird בְּנֵי־(הָ)אָדָם
bnê-(hā-)ʾādām „Menschensöhne, Menschenkinder“ verwendet (oder der
Plural eines anderen Wortes wie
אֱנוֺשׁ ʾænôš „Mensch“ oder
אִישׁ ʾîš „Mann, Mensch“).
Weitere Details dazu s. Sach- und
Worterklärungen der Luther 2017 und Rudolf Ebertshäusers Kritik: Adam.
Die Herkunft des Wortes ist ungeklärt. Verschiedene (allesamt schwer haltbare)
Etymologien listet Dillmann in seinem Genesiskommentar.
An einigen Stellen hat ʾādām keinen Artikel und kann im Kontext
auch kein artikelloses Appellativum („ein Mensch“) sein. Adam ist an
diesen Stellen wie ein Eigenname gebraucht. Die so genannte Person ist
Repräsentant und Stammvater der Adamiten, d.h. der Menschheit, ähnlich
wie in der sog. Völkertafel (Gen 10) die
verschiedenen Völker durch gleichnamige Stammväter repräsentiert sind:
Kanaan, Elam, Assur, Aram usw.
- 4,25: […] וַיֵּדַע אָדָם עֹוד אֶת־אִשְׁתֹּו וַתֵּלֶד בֵּן וַתִּקְרָא אֶת־שְׁמֹו שֵׁת
„Und Mensch (Adam) erkannte noch einmal seine Frau. Und sie gebar
einen Sohn. Und sie nannte seinen Namen Seth. […]“
- 5,1: זֶה סֵפֶר תֹּולְדֹת אָדָם בְּיֹום בְּרֹא אֱלֹהִים אָדָם בִּדְמוּת אֱלֹהִים עָשָׂה אֹתֹו
„Dies ist das Buch der Geschlechtsfolge von Mensch (Adam). Am Tag,
als Gott Mensch (Adam) schuf, machte er ihn als Abbild Gottes.“
- 5,3: וַיְחִי אָדָם שְׁלֹשִׁים וּמְאַת שָׁנָה ויֹּולֶד בִּדְמוּתֹו כְּצַלְמֹו וַיִּקְרָא אֶת־שְׁמֹו שֵׁת
„Und Mensch (Adam) lebte 130 Jahre. Und er zeugte (einen) als sein
Abbild und als sein Bild. Und er nannte seinen Namen Seth.“
- 5,4: וַיִּהְיוּ יְמֵי־אָדָם אַחֲרֵי הֹולִידֹו אֶת־שֵׁת שְׁמֹנֶה מֵאֹת שָׁנָה וַיֹּולֶד בָּנִים וּבָנֹות
„Und die Tage von Mensch (Adam) waren, nachdem er Seth gezeugt hatte,
800 Jahre. Und er zeugte Söhne und Töchter.“
- 5,5: וַיִּהְיוּ כָּל־יְמֵי אָדָם אֲשֶׁר־חַי תְּשַׁע מֵאֹות שָׁנָה וּשְׁלֹשִׁים שָׁנָה וַיָּמֹת
„Und alle Tage von Mensch (Adam), die er lebte, waren 900 Jahre
und 30 Jahre. Und er starb.“
Adams Frau heißt auf Hebr. חַוָּה ḥawwâ, nach
Dillmann eine antiquierte Form von חַיָּה ḥajjâ
„Leben“. Im AT ist ḥajjâ Fem. von חַי
ḥaj „lebend(ig)“, also „die lebend(ig)e“, als Subst. „Lebewesen,
Tier“ und „Seele, Person“ oder vielleicht „Leben“.
- Dillmann, August: Die Genesis.– 6. Aufl. Leipzig: Hirzel, 1892. (Kurzgef.
exeget. Handbuch zum A. T., 11. Lief.)
Adam: S. 53f;
Eva: S. 80f
- Delitzsch, Friedrich:_Prolegomena eines neuen hebräisch-aramäischen
Wörterbuchs zum Alten Testament.– Leipzig: Hinrichs, 1886. S. 104.
- Haupt,
Paul: „Die Etymologie von Aram“, in: Zeitschr. d. Dt. Morgenländ.
Ges. 61 (1907) S. 194. [Der Aufsatztitel ist kein Tippfehler, es geht um die
gelegentliche Verwechslung von Aram und Edom.]
Gattungsgeschichtliches
Erzählen und Wahrheit
Seit es Hochkulturen gibt, haben die Menschen meines Erachtens auch ein
geschichtliches Bewusstsein gehabt. Was sie erst entwickeln mussten, war
ein historiographisches Bewusstsein, d.h. ein Methodenbewusstsein
für den Umgang mit Informationen aus der Vergangenheit und ihre literarische
Darstellung.
Wenn Zimmer seine „historischen Fragen“ an den Bibeltext stellt (ab 49:00),
verwendet er ein anderes Verständnis von historisch als die damit
angegriffenen Biblizisten. Letztere wollen damit behaupten, dass es Adam und
Eva tatsächlich als Einzelpersonen am Beginn der Menschheit gegeben hat, dass
Eden ein realer Ort in der Geographie des Nahen Ostens ist usw. Zimmers Fragen
zielen aber auf historische Detailinformationen, die die Berichte nachprüfbar
machen. Seine Fragen sind also historiographisch im oben dargestellten
Sinn. Solche Informationen können und wollen die Texte der ersten Genesiskapitel
nicht geben. Sie sind kein „historischer Bericht“, keine Geschichtsschreibung
im heutigen Sinn. Aber: das hat ja auch keiner behauptet, und das beweist
auch noch nichts für oder gegen die Historizität der berichteten Ereignisse.
Schon die Fragestellung an sich, ob eine Erzählung historisch gemeint sein
kann, zeigt, dass man einer Kultur angehört, die unterscheidet zwischen:
historisch = faktengemäß = wahr, und: unhistorisch = fiktiv / erfunden =
mythisch / legendär / märchenhaft = unwahr. Doch nicht jede Fiktion ist eine
Unwahrheit. Erzählen hat nicht auschließlich, ja nicht einmal in erster Linie
die Funktion, historische Ereignisse mitzuteilen. Erzählen ist eine Form der
Weltdeutung. Die Wahrheit vieler Geschichten liegt nicht darin, dass sie sich
genau einmal zu einer bestimmten Zeit und mit konkreten Personen ereignet
haben. Sondern sie sind oft die verdichtete Summe von Lebenserfahrungen. Oder
die manchmal spekulative Herleitung von gegenwärtigen Zuständen aus vergangenen
Ereignissen.
Auch der Historiker ist ein Erzähler, insofern er ja nicht einfach
zusammenhanglos historische Fakten aufzählt, sondern sie in einen kausalen
oder sinnhaften Zusammenhang bringt und dadurch einen Plot schafft. (Diese
Erkenntnis verdanke ich Hayden White.) Alles andere wäre uninteressant und
bedeutungslos. Gerade dieser Plot, die Darstellung von Zusammenhängen machen
das Spannende an der Geschichtsschreibung aus. Der Unterschied zum Romancier,
zum Sagendichter ist, dass der Historiker nur belegbare Fakten erzählen darf.
Wo er bloße Vermutungen anstellt oder Gerüchte kolportiert, muss er dies
deutlich sagen.
Ein Frosch, der (Deutsch) sprechen kann, und niemand wundert sich.
Philipp Grotjohann: Illustration zum Grimmschen Märchen
Der Froschkönig,
um 1870.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber:
Рыцарь поля, 2011?.–
Lizenz: gemeinfrei.–
Bearbeitung: verkleinerter Bildausschnitt.
Märchen
Wenn ein Prinz in einen Frosch verwandelt wird; wenn ein Wolf im Wald ein
minderjähriges Mädchen anspricht; wenn ein Männchen Stroh zu Gold spinnt:
dann gehen wir davon aus, dass es sich um ein Märchen handelt. Das gleiche
gilt etwa, wenn Odysseus auf einer Insel landet, auf der einäugige Riesen
leben (Kyklopen); wenn die Zauberin Kirke seine Gefährten in Schweine
verwandelt; wenn Herakles gegen Vögel kämpft, die ihre Federn wie Pfeile
abschießen können (Stymphalische Vögel). Ja sogar, wenn Herodot von
Riesenameisen in der indischen Wüste berichtet, die beim Graben ihrer Baue
goldhaltigen Sand auswerfen, es aber lebensgefährlich machen, diesen
einzusammeln (3,102-105), müssen wir von einem Märchenmotiv ausgehen –
vielleicht ein Schauermärchen der Goldgräber in Ladakh –, ungeachtet der
Tatsache, dass Herodot das wohl für bare Münze genommen hat.
Es war einmal ein Müller […]. Wir haben uns angewöhnt, diese
unbestimmte Angabe (wann? wo?) als Gattungssignal für ein Märchen zu verstehen.
Aber das ist nur eine kulturelle Usance. Das Fehlen von genauen Angaben zu
Zeit und Ort sind noch kein Beweis dafür, dass die Geschichte unhistorisch
ist. Allerdings kann ein Ereignis, das sich angeblich irgendwann irgendwo
zugetragen haben soll, schwer überprüft werden und kann daher wenig Anspruch
auf Glaubwürdigkeit in einem historiographischen Sinn erheben.
Auch die Personen der Genesis (Noah, Abraham, Jakob) können allesamt keiner
Zeit zugeordnet werden. Häufig setzt eine Erzählung mit dem Narrativ ohne jede
Zeitangabe ein. Damit es nicht so abgehackt klingt, wird der Narrativ in der
dt. Übersetzung mit einer Konjunktion wie „und“ angeschlossen: „(und) JHWH
sagte zu Abram“ (Gen 12,1). Oder es steht eine relative Zeitangabe: „nach
diesen Dingen geschah das Wort JHWHs zu Abram“ (Gen 15,1). Selten wird es so
konkret wie in Gen 14,1: „(und) es geschah in den Tagen des Amrafel, des
Königs von Šinʿar“. Schade, dass wir nicht wissen, wer das ist und wann er
regiert hat (eine Zusammenfassung der Möglichkeiten auf meiner Seite
Nachforschungen zu Gen 14: Amrafel von Schinar).
Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam […] Wie
hieß dieser König? Über welches Land regierte er? Das Märchen benutzt ein
typenhaftes Figureninventar. Im Märchen
von Rumpelstilzchen sind das der arme, aufschneiderische Müller auf der
einen, der goldgierige König auf der anderen Seite – und mittendrin die
bedauernswerte Müllerstochter, von der etwas Menschenunmögliches verlangt
wird. Personen im Märchen sind häufig, aber nicht zwangsläufig namenlos. Es
gibt auch Schneewittchen, Rapunzel, Dornröschen, Hänsel und Gretel.
Der König im Märchen kann nie historisch eingeordnet werden. Aber das kann
der König von Ägypten in den Genesis- und Exodus-Erzählungen auch nicht.
Abraham, Josef, Mose – alle hatten mit dem Pharao zu tun und immer bleibt er
namenlos und daher historisch nicht einzuordnen. Allerdings sind die
Genesiserzählungen meist lokalisierbar. Ausgenommen ist allerdings die
Urgeschichte Gen 1-11. (Denn wo lag z.B. der Garten (von)
Eden? Wie ich zu zeigen versuchte, beschreibt Gen
2,8-15 eine idealisierte Geographie, keinen auf der Landkarte lokalisierbaren
realen Ort.) Märchen haben dagegen ganz selten einen lokalen Bezug (Bremer
Stadtmusikanten).
„Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“
Wir wissen, dass das nicht möglich ist. Kein Mensch kann so etwas. Aber Mose
kann (mit Gottes Hilfe) aus einem Felsen Wasser austreten lassen (Num 20,9-11).
Der wesentliche Unterschied ist vielleicht der, dass im Pentateuch Wunderbares
durch Gottes Wirken geschieht. Im Märchen ist Magie ein Teil davon, wie die
Welt funktioniert. Die Möglichkeit zum Zauber ist ihr inhärent eingeschrieben.
Gott dagegen kommt im Märchen nicht vor.
Herakles raubt die Äpfel der Hesperiden. (Ein Garten im äußersten Westen, darin
ein Baum mit goldenen Äpfeln, gepflegt von Nymphen, den Hesperiden, bewacht von
einem mehrköpfigen Drachen oder einer Schlange. Garten - Baum - Schlange, das
scheint ein narratives Motiv zu sein.)
Röm. Mosaik mit den 12 Arbeiten des Herakles, aus der Casa de Porcar, Llíria
(Provinz Valencia), 3. Jh. n.Chr., jetzt im Museo Arqueológico Nacional, Madrid.
Quelle:
Wikimedia.–
Urheber:
Benjamín Núñez González, 2016.–
Lizenz:
CC BY-SA 4.0.–
Bearbeitung: geringfügig perspektivisch transformiert, Kontrast erhöht,
verkleinerter Bildausschnitt.
Mythos
Ov.met. 1,72-88:
|
neu regio foret ulla suis animalibus orba, |
Und damit keine Zone ihrer Lebewesen beraubt sei, |
|
astra tenent caeleste solum formaeque deorum, |
haben die Gestirne und Göttergestalten den himmlischen Grund inne, |
|
cesserunt nitidis habitandae piscibus undae, |
fielen die Wogen den glänzenden Fischen als Wohnung zu, |
75 |
terra feras cepit, volucres agitabilis aër. |
bekam die Erde das Wild, die leichtbewegliche Luft die Vögel. |
|
sanctius his animal mentisque capacius altae |
Ein Lebewesen, heiliger als diese und teilhaftiger des hohen Sinnes, |
|
deerat adhuc, et quod dominari in cetera posset. |
fehlte noch, und das über die übrigen (Lebewesen) herrschen konnte. |
|
natus homo est: sive hunc divino semine fecit |
Der Mensch wurde geboren: sei es, dass diesen aus göttlichem Samen machte |
|
ille opifex rerum, mundi melioris origo, |
jener Schöpfer der Dinge, der Ursprung einer besseren Welt, |
80 |
sive recens tellus seductaque nuper ab alto |
sei es, dass die junge Erde, vor kurzem getrennt vom hohen |
|
aethere cognati retinebat semina caeli; |
Äther, den Samen des verwandten Himmels bewahrte; |
|
quam satus Iapeto, mixtam pluvialibus undis, |
diese (Erde), vermischt mit Regenwasser, formte der von Iapetus
Gesäte (=Prometheus) |
|
finxit in effigiem moderantum cuncta deorum. |
nach dem Bild der alles lenkenden Götter. |
|
pronaque cum spectent animalia cetera terram, |
Und während vorwärtsgeneigt die übrigen Lebewesen zur Erde schauen, |
85 |
os homini sublime dedit, caelumque videre |
gab er dem Menschen ein aufragendes Antlitz, und den Himmel zu sehen |
|
iussit et erectos ad sidera tollere vultus. |
hieß er und die Mienen aufgerichtet zu den Sternen zu heben. |
|
sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus |
So legte die Erde, die eben noch roh und ohne Gestalt gewesen war, |
|
induit ignotas hominum conversa figuras. |
verwandelt, die (noch) unbekannten Gestalten der Menschen an. |
In diesem Text finden sich etliche Motive, die wir auch aus der Genesis
kennen: der Mensch als Herrscher über die Tiere, geformt aus Lehm (Erde +
Wasser), geschaffen nach dem Bild der Götter. Da schwerlich anzunehmen ist,
dass Ovid im AT gelesen hat, muss man davon ausgehen, dass es sich hier um
Vorstellungen handelt, die in der antiken Welt mehr oder weniger allgemein
verbreitet waren (Belegstellen dazu bei Brooks). Nur dass es bei Ovid nicht
JHWH ist, der den Menschen formt, sondern Prometheus, der Sohn des Titanen
Iápetos. Als poeta doctus stellt Ovid der mythischen Vorstellung als
Alternative eine mehr philosophische gegenüber: der (transzendent gedachte?)
Schöpfer der Dinge machte den Menschen aus göttlichem Samen.
Dieser Text wird zum Mythos gerechnet. Und zwar nicht aus formalen Gründen
(Hexameter), sondern aus inhaltlichen: Götter, Heroen, Weltentstehung,
Sintflut, Geschichten, die sich in grauer, historisch nicht fassbarer Vorzeit
abgespielt haben, werden als mythisch betrachtet.
Kein Wissenschaftler stellt sich ernsthaft die Frage, ob eine solche Erzählung
einen historischen Hintergrund hat. Denn die berichteten Ereignisse stammen
alle aus einer Zeit, in der es noch keine schriftlichen Aufzeichnungen gab
und aus der auch keine Denkmäler erhalten sind. Über die Historizität des
Berichteten lässt sich daher nichts sagen (anders als z.B. bei der Heldensage).
Der Glaubende kann sich bei den Erzählungen der Bibel auf den Standpunkt
zurückziehen, Gott habe dem Autor der Texte offenbart, wie es wirklich
gewesen ist. Aber inhaltlich handelt es sich bei Gen 1-3 um Mythen.
Argumente gegen die Historizität
Bei aller Kritik muss ich Zimmer im Grunde recht geben. In der Erzählung
von Adam und Eva Gen 2-3 geht es um die Erklärung grundlegender Bedingungen
der conditio humana:
- das Verhältnis zwischen Mann und Frau
- das Verhältnis zwischen Mensch und Tier
- das Verhältnis zwischen Gott und Mensch
- warum sich Menschen ihrer Nacktheit schämen
- warum das Gebären ein so beschwerlicher Vorgang ist (bei dem in der
Antike viele Frauen starben)
- warum man sich für das tägliche Brot so abmühen muss und dabei der Erfolg
oft genug zunichte gemacht wird (Missernten)
Diese Dinge werden nicht biologisch oder sozialgeschichtlich, als Ergebnis
langwieriger Prozesse, erklärt, sondern schöpfungstheologisch (2,24 „darum
wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen…“) oder als Folge des
Sündenfalls (3,17 „verflucht sei der Acker um deinetwillen…“), der als
einmaliges Ereignis in der Frühzeit der Menschheit dargestellt ist.
Adam und Eva werden teils als idealtypische Figuren dargestellt (2,25 „der
Mensch und sein Weib“; 4,1 „und der Mensch erkannte seine Frau Eva“), teils
(aber selten) als individuelle Personen mit Eigennamen (4,25 „Und Adam erkannte
noch einmal seine Frau“).
Doch es spricht einiges gegen die Annahme, dass Gen 2-3 in unserem modernen
Sinn historisch ist. Darauf weist auch Zimmer hin, dieser Teil seines Vortrags
(etwa die letzten 10 Minuten) enthält endlich valide Argumente:
- Gott formt den אָדָם ʾādām „Mensch“ aus
Staub von der אֲדָמָה ʾadāmâ
„Erde, Erdboden, Acker“ und bläst ihm Lebenshauch in die Nase (Gen 2,7).
- Gott formt also eine humanoide Statue aus dem Dreck der Erde und macht sie
lebendig, indem er ihr etwas in die Nase bläst. Auf Hebr. klingt das nach
einem Wortspiel, einer Etymologie. Wir wissen, dass das biologisch-chemisch
nicht funktioniert: der Erdboden besteht hauptsächlich aus mineralischen
Substanzen, der Mensch aus komplexen organischen Verbindungen. Gott, der aus
dem Nichts erschaffen kann, brauchte ohnedies kein „Ausgangsmaterial“, um
den Menschen zu schaffen. Es ist eher eine Vorbereitung auf 3,19: „denn
Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren“.
- Gott bringt die Tiere zum Menschen, aber keines ist für ihn eine „Hilfe
wie ihm gegenüber“, d.h. die zu ihm passt o.ä. (2,19f).
- Gott war also nicht von vornherein klar, dass kein Tier dem Menschen auf
Augenhöhe begegnen kann? Einmal ganz abgesehen davon, wie der Mensch sich
ohne Partner des anderen Geschlechts fortpflanzen soll. Sind bei diesen
Tieren auch solche gemeint, die im Nahen Osten gar nicht leben (können), wie
Eisbär oder Känguruh?
- Gott versetzt den Menschen in Narkose, entnimmt ihm eine Rippe und „baut“
(dasselbe Wort wie beim Bauen eines Hauses, einer Mauer, eines Turms usw.)
daraus eine Frau (2,21f).
- Der Mensch hat also jetzt eine Rippe weniger als unmittelbar nach der
Schöpfung? Und wozu brauchte Gott, der aus dem Nichts erschaffen kann, diese
Rippe? Wie soll aus so wenig biologischem Material ein ganzes menschliches
Wesen entstehen?
- Die Schlange spricht zur Frau (3,1).
- Tiere, die sprechen können, kennt man sonst aus dem Märchen und der Fabel:
so spricht der
Frosch(könig)
zur Prinzessin, der böse Wolf spricht das
Rotkäppchen
im Wald an oder der (hernach
gestiefelte)
Kater redet mit dem Müllerssohn.
Dass Tiere in Wahrheit nicht reden können, war m.E. auch den Menschen des
alten Orients klar. Sprechende Tiere sind ein gattungsspezifisches Stilmittel,
ein solcher Text kann und will nicht buchstäblich oder historisch verstanden
werden.
- Nachdem der Mensch und sein Weib von der verbotenen Frucht gegessen haben,
hören sie das „Geräusch“ (also wohl die Schritte) Gottes, der im Abendwind
(wörtl. „zum Wind des Tages (hin)“) im Garten spazieren geht (3,8).
- Dass wir Menschen Gott nicht angemessen beschreiben können, ist das eine.
Ein krasser Anthropomorphismus, wie ein Gott, der spazieren geht und dabei
Geräusche macht, ist aber etwas anderes.
Mir will scheinen, dass für einen unbefangenen Leser mit Händen zu greifen
ist, dass in diesem Text grundlegende Erkenntnisse zum Wesen des Menschen
auf eine sehr bildhafte Weise erzählerisch ausgestaltet sind. Wie man eine
sprechende Schlange für historisch halten kann, erschließt sich mir nicht.
Aber was beweist, dass Adam und Eva keine historischen Personen waren?
Nichts. Natürlich. Es geht bei der Beurteilung von Historizität immer um die
Frage, wie plausibel, wie wahrscheinlich, wie glaubhaft etwas ist. Die Fakten
liegen auf dem Tisch. Es möge jeder selber beurteilen, was ihm glaubhafter
erscheint.
Ist also Gen 2-3 unwahr, wenn sich die Ereignisse nicht buchstäblich so
abgespielt haben und Adam und Eva keine historischen Personen waren? Für den
Glaubenden keineswegs. Dass Gott den Menschen erschaffen hat, steht für uns
Christen ja außer Frage. Und dass wir aus Staub erschaffen sind, bedeutet,
dass wir materielle Wesen sind, mit allen Folgen und Grenzen, die das
Materielle eben hat. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist eine Seite.
Doch seine „Staubhaftigkeit“, seine Vergänglichkeit ist die andere Seite. Der
Sündenfall ist insofern eine Tatsache, als wir alle unter seinen Folgen leiden.
Die mythische Form der biblischen Erzählung tut ihrer Wahrheit keinen Abbruch,
auch wenn diese Wahrheit keine der historischen Details ist. Doch dass wir
Menschen „jenseits von Eden“ leben, ist eine Tatsache.