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Gral
Beim Anhören der Hörbuchversion von Dan Browns The Da Vinci Code (2003, dt. Titel Sakrileg) und des nicht enden wollenden Geschwafels der fiktiven Historiker Robert Langdon und Leigh Teabing kam mir die Frage, wie man auf so einen Schmarren kommt. So begann ich mit meiner Gralssuche.
Ich habe im folgenden die wesentlichen Texte selbst übersetzt, da ich keine freien Übersetzungen gefunden habe bzw. mit ihnen nicht zufrieden war: Simrocks Übertragung ist stellenweise unverständlich und muss ihrerseits übersetzt werden. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass meine Übersetzungen nur ein Versuch sind und daher mit Fehlern und Missverständnissen zu rechnen ist.
Die Rechtslage, was Scans und Fotos von mittelalterlichen Zeichnungen und Illustrationen betrifft, ist, gelinde gesagt, sehr nutzerunfreundlich. Ich habe mich bisher darauf verlassen, dass das, was auf Wikipedia/Wikimedia veröffentlicht wird, von anderen (wenn auch mit gewissen Auflagen) verwendet werden darf. Doch wie das Urteil über Abbildungen auf deutschen Briefmarken (s. Focus online, 17.11.2011) zeigt, stolpert manchmal selbst Wikipedia über die komplizierte Rechtslage und tw. fehlende Rechtssicherheit (ein Richter urteilt so, der nächste wieder anders). Ganz davon zu schweigen, dass die Lage in jedem Land anders ist. Daher habe ich nur wenige Abbildungen und diese zumeist in beklagenswert geringer Auflösung. Man folge den Verweisen, um die Bilder in besserer Auflösung zu sehen.
Der Gral ist ein literarisches Motiv, das Ende des 12. Jh. zunächst in der altfranzösischen Literatur (Chrétien de Troyes, Robert de Boron), dann auch in der mittelhochdeutschen (Wolfram von Eschenbach), auftaucht und bald ein wichtiges Element der mittelalterlichen Ritterepik (Lancelot-Gral, Perlesvaus usw.) wird. Was genau ein Gral ist, ist anfangs unklar, doch setzt sich rasch die auf Robert de Boron zurückgehende Version durch, es handle sich um den Becher, mit dem Jesus das letzte Abendmahl gefeiert hat und/oder in dem sein Blut aufgefangen wurde. Der Gral ist ein wundertätiger Gegenstand, eine heilige Reliquie. Die Suche nach ihm wird zu einer spirituellen Reise, auf die sich die Artusritter begeben.
Über Jahrhunderte wird dieses Motiv in der Literatur mehr oder weniger variiert, bleibt aber im Kern stabil. Das gilt auch für den Film Indiana Jones and the Last Crusade (1989, Regie: Steven Spielberg), in dem die Gralssuche den Charakter einer abenteuerlichen Schnitzeljagd nach einem archäologisch wertvollen Artefakt hat. Doch auch hier bleibt der Gral ein wundertätiger Gegenstand, der seinen Bewacher über 7 Jahrhunderte am Leben erhalten hat und Indiana Jones' tödlich verwundeten Vater (gespielt von Sean Connery) in Sekundenschnelle heilt. (Connery sagt in der Rolle des Prof. Henry Jones sen.: „The quest for the grail is not archeology, it's a race against evil.“)
Durch das Konspiratologentrio Lincoln/Baigent/Leigh mutierte der Gral zu einem Symbol für Maria Magdalena und die aus ihr hervorgegangene Nachkommenschaft Jesu. Diese Version wurde dann popularisiert in Dan Browns Da Vinci Code.
Literatur:
Das dt. Wort stammt aus dem afrz. graal, Nebenformen greal, greail u.ä., prov. grasal, grazal. Der Etymologie-Duden schlägt vermutungsweise eine Ableitung vom Mlat. vor, entweder von *cratalis „Schüssel, Topf“ (zu lat. cratis „Geflecht“) oder von gradalis „Stufenkelch“. Bei Du Cange ist nur gradale, -lus, grasala, -le „Tischgefäß, Art von Schüssel“ verzeichnet (Du Cange s.v. gradale 3, gradalus, grasala).
Das Dt. Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB s.v. Gral) erklärt gradalis (nach Helinands Weltchronik lib. 45) als „Schüssel, in die Stück für Stück stufenweise die Speisen hineingestellt werden“ und leitet cratalis von lat. crater = gr. κρατήρ „Mischkrug“ ab. Zusätzlich bietet es die Ableitung von mlat. garalis „Schüssel, Gefäß“ (Du Cange s.v. garalis).
Kluge (25. Aufl.) und die Online-Ausg. des Duden s.v. Gral vermelden nur lapidar, dass die Herkunft des afrz. Wortes ungeklärt sei.
Die Klingklangetymologie san greal „heiliger Gral“ < sang real „wahres Blut“ oder „königliches Blut“ ist schon deshalb falsch, weil der Gral ursprl. nicht heiliger Gral, sondern einfach nur Gral genannt wurde. Deshalb ist der Titel von Francisque-Michels Robert-De-Boron-Textausgabe und von Sandkühlers Übersetzung falsch: Robert nannte sein Werk einfach die Geschichte des Gral, das heilig hat da korrekterweise nichts verloren.
Mertens nennt als frühen Beleg für eine solche Etymologie Karl Immermanns Merlin von 1832. Darin heißt es in dem mit Der Gral betitelten Akt in der ersten Szene:
Placidus. Was ist der Gral? Merlin. Des Menschensohnes Blut. »Sanguis realis« so verkehrt, Wie es der Mund des Volks gewöhnlich thut.
Lat. realis bedeutet „e. Gegenstand betreffend, sachlich, Sach-, wirklich, real“ (v. res „Sache, Ding“), daraus frz. réel. Afrz. real (modern royal) stammt von lat. regalis „königlich“ (v. rex „König“). Mit dem Blut ist, wie Immermann seinen Merlin ausführen lässt, das von Jesus am Kreuz vergossene gemeint.
Quellen:
Die älteste Erwähnung des Grals finden wir in dem unvollendet gebliebenen Versroman Perceval (auch als Li Contes del Graal zitiert) von Chrétien de Troyes (andere Namensschreibweisen: Chrestien, Crestiens, ca. 1140-1190), der wohl zwischen 1180 und 1190 verfasst wurde und nach etwas über 9000 Versen abbricht. Vermutlich ist Chrétien mitten in der Arbeit an seinem Werk gestorben. Die Parzivalsgeschichte darf als bekannt vorausgesetzt werden, sie wird hier nicht weiter ausgeführt. Im Proömium des Perceval heißt es:
Text und Übers. nach dem ersten freien Text, den ich im Netz finden konnte, einer Kollationierung der Guiot-Hs. ohne Versnumerierung. Später habe ich dann eine Potvin-Ausg. gefunden, deren Text ich samt Versnummern beigeschlossen habe.
Donc avra bien sauve sa peinne Also wird sehr sicher seine Mühe haben 61 Donc aura bien sauve la painne Crestiens, qui antant et peinne Christian, der trachtet und sich bemüht, Crestiens qui entent et painne, a rimoier le meillor conte, zu reimen die beste Erzählung A rimoier l'eure et lor conte, par le comandement le conte, auf Befehl des Grafen, Par le commandement du Conte, qui soit contez an cort real. die erzählt wurde an einem königlichen Hof. 65 Qui soit conté en cort roial; Ce est li contes del graal, Dies ist die Erzählung vom Gral, Ce est li contes du Graal don li cuens li baille le livre, deren Buch der Graf ihm übergab. Donc li Quens li bailla le livre; s’orroiz comant il s’an delivre. So werdet ihr denn hören, wie er sich ihrer entledigt. Oiez comment il s'en délivre.
Der genannte Graf ist Philipp von Elsass (Philipp I. von Flandern, gestorben 1191 während des Dritten Kreuzzugs), der Gönner und Förderer Chrétiens. Das Buch, das er dem Chrétien gab, enthielt also bereits eine Gralserzählung. Aber was für ein Buch soll das gewesen sein? Gab es wirklich schon vor Chrétien Gralsgeschichten? Oder ist dieses Buch eine literarische Fiktion?
Was ist ein graal? Die Beschreibung, die Chrétien später gibt, ist leider wenig instruktiv. In einer seltsamen Prozession werden beim Mahl immer wieder eine blutende Lanze, goldene Kerzenleuchter und ein (! der unbestimmte Artikel erweist das Wort als Appellativ) Gral am Bett des siechen Königs vorbei- und in ein anderes Zimmer hineingetragen. Der Gral ist aus Gold und mit wertvollen Edelsteinen besetzt. Man bedient mit ihm. Es handelt sich also wohl um ein Gefäß, eine Schale, einen Teller oder dergleichen. Chrétien erklärt nicht, was ein Gral ist; er scheint dieses Wissen beim Leser vorauszusetzen.
.I. graal antre ses .ii. mains Einen Gral zwischen ihren beiden Händen Un graal entre ses ·II· mains une dameisele tenoit hielt ein Edelfräulein Une damoisièle tenoit et avoec les vaslez venoit, und kam mit den Knappen, 4400 Qui avoec les varlés venoit, bele et jointe et bien acesmee. schön und lieblich und schön geschmückt. Bièle, gente et acesmée; Quant ele fu leanz antree Nachdem sie da hinein eingetreten war, Quant ele fu laiens entrée atot le graal qu’ele tint, mitsamt dem Gral, den sie hielt, Atout le graal qu'ele tint, une si granz clartez an vint, kam damit ein so großer Glanz, Une si grans clartés i vint ausi perdirent les chandoiles so verloren die Kerzen 4405 Que si pierdirent les candoiles lor clarté come les estoiles ihren Glanz, wie die Sterne, Lor clarté, com font les estoiles qant li solauz lieve et la lune. wenn die Sonne aufgeht und der Mond. Quant li solaus liève ou la lune; Aprés celi an revint une Hinter dieser kam eine (Dame), Apriès içou en revient une qui tint.i. tailleor d’argent. die einen silbernen Vorschneideteller hielt. Qui tint une taule ensement; Le graal, qui aloit devant, Der Gral, der voranging, 4410 Içou vos di veraiement, de fin or esmeré estoit; war aus feinem, lauterem Gold. De fin or esmerée estoit; pierres precieuses avoit Wertvolle Steine hatte Pières pressieuses avoit el graal de maintes menieres, der Gral von mancherlei Arten, El graal, de maintes manières, des plus riches et des plus chieres von reichsten und kostbarsten, Des plus rices et des plus cières qui an mer ne an terre soient; die es im Meer oder auf der Erde gibt. 4415 Qui el mont u en tière soient; totes autres pierres valoient Alle anderen Steine waren (zusammen nur soviel) wert Totes autres pières pasoient celes del graal sanz dotance. wie die des Grals ohne Zweifel. Celes dou gréal, sans dotance. Tot autresi con de la lance Ganz so wie die Lanze Ensi come passa la lance, par de devant lui trespasserent gingen sie vor ihm vorüber Par devant le lit s'en pasèrent et d’une chanbre an autre alerent. und gingen von einem Zimmer ins andere. 4420 Et d'une cambre en l'autre entrèrent; Et li vaslez les vit passer Und der Jüngling sah sie vorübergehen Et li varlés les vit passer et n’osa mie demander und wagte nicht zu fragen Et n'osa mie demander del graal cui l’an an servoit, über den Gral, wem man damit dient, Del graal, qui on en servoit; que il tozjorz el cuer avoit der immer im Herzen hatte Que tous jors en son cuer avoit la parole au prodome sage. das Wort des weisen Ritters. 4425 La parole au preudome sage; [...] Mes plus se test qu’il ne covient. Aber er schweigt mehr, als es sich geziemt. 4476 Mais plus se taist qu'il ne covient; A chascun mes don l’an servoit Bei jeder Speise, von der man aufträgt, Qu'à cascun més que l'on servoit, le graal trespasser veoit sieht er den Gral vorübergehen Par devant lui trespasser voit par devant lui tot descovert, vor ihm ganz unbedeckt, Le graal trestout descovert; et si ne set cui l’an an sert. und weiß doch nicht, wem man damit dient. 4480 Mais il ne set qui on en sert
Perceval wagt keine Fragen zu stellen, weil ein weiser Ritter ihn davor gewarnt hatte, zu viel zu reden. Das ist ein entscheidender Fehler, der Perceval später mehrmals vorgehalten wird: hätte er gefragt, wäre der König von seinem Leiden erlöst gewesen. Einige Verse weiter wird Perceval von seiner Cousine über dieses Erlebnis ausgefragt. Wir erfahren dabei jedoch nichts, was wir nicht schon wüssten.
Jahre später beichtet Perceval sein Versagen einem Einsiedler und erhält Antwort auf die Frage, die er damals nicht zu stellen wagte: der Vater des Fischerkönigs (der zugleich Bruder des Einsiedlers und Onkel Percevals ist) bekommt im Gral eine (wundertätig) Hostie.
Quant tu del graal ne seüs Als du über den Gral nicht in Erfahrung brachtest, Quant tu del Graal ne séus cui l’an an sert, fol san eüs. wem man damit dient, hattest du törichten Sinn. Cui on en sert, fol sens éus; Cil cui l’an an sert fu mes frere. Der, dem man damit dient, war mein Bruder. Cil cui l'en sert, il est mes frère, Ma suer et soe fu ta mere, Meine Schwester und die seine war deine Mutter, 7790 Ma suer et soie fu ta mère, et del Riche Pescheor roi, und vom reichen Fischerkönig Et del rice Pescéour croi qui filz est a celui, ce croi, der ein Sohn ist von jenem, so glaube ich, Que il est fius à celui roi qui del graal servir se fait. der sich mit dem Gral (be)dienen lässt. Qui del Graal servir se fait; Et ne cuidiez pas que il ait Und glaube nicht, dass er hatte Mais ne quidiés pas que il ait luz ne lanproies ne saumons: Hecht, Lampreten oder Lachse 7795 Lus ne lamproie ne saumon; d’une seule oiste, ce savons, mit einer einzigen Hostie, das wissen wir, D'une sole oiste li sains hom que l’an an ce graal aporte, die man in diesem Gral bringt, Quant en ce Gréal li aporte, sa vie sostient et conforte, erhält und kräftigt er sein Leben, Sa vie sostient et conforte, tant sainte chose est li graax; so eine heilige Sache ist der Gral; Tant sainte cose est li Graaus; et tant par est esperitax und so geistig ist er, 7800 Et cil est si esperitaus que sa vie plus ne sostient dass sein Leben nichts weiter erhält K'à sa vie plus ne covient que l’oiste qui el graal vient. als die Hostie, die im Gral kommt. Que l'oiste qui el Gréal vient. .XV. anz a ja esté ensi, Fünfzehn Jahre schon ist es so gewesen, ·Xx· ans i a estet ensi que hors de la chanbre n’issi dass er nicht aus dem Zimmer hinausgeht, Que fors de la cambre n'issi ou le graal veïs antrer. wo du den Gral eintreten sahst. 7805 Ù le Gréal véis entrer.
Mehr erfahren wir bei Chrétien nicht.
Immer wieder wird behauptet, der Gral stamme aus der religiösen Vorstellungswelt der Kelten. Doch muss die Gralsgeschichte von der Artussage getrennt werden. Letztere enthält wohl Elemente aus dem keltischen Sagenkreis. Dafür dass der Gral selber aus dem Keltischen stammt, gibt es m.E. keinen klaren Beweis. Zwar gibt es dort das Sagenelement des wundertätigen Gefäßes (meist ein Kessel), aber nicht alles, was sich ähnlich sieht, ist miteinander verwandt.
Quellen:
Robert de Boron (12./13. Jh.) schrieb ungefähr um dieselbe Zeit, in der Chrétiens Perceval entstand, eine Estoire dou Graal (heute meist unter dem Titel Joseph von Arimathia geführt). Roberts Werk wird meist als das zeitlich spätere angesehen, u. a. weil es Avalon (in der Form Avaron) erwähnt, das seit dem Jahr 1191 infolge der angeblichen Auffindung des Grabes von Artus und Guinevere mit Glastonbury identifiziert wurde. Seine Entstehungszeit wird daher in den Jahren zwischen 1190 und 1200 vermutet.
Bei Jesu Festnahme im Hause Simons (nach dem NT vielmehr im Garten Gethsemane) findet ein Jude das Gefäß, das Jesus beim Abendmahl verwendet hatte, nimmt es mit und bringt es zu Pilatus.
395 Leenz eut un veissel mout gent, Dort drinnen war ein sehr schönes Gefäß, Où Criz feisoit son sacrement; wo(mit) Christus sein Sakrament gefeiert hatte; Uns Juis le veissel trouva ein Jude fand das Gefäß Chiés Symon, se l' prist et garda, bei Simon, nahm es sich und bewahrte es auf, Car Jhesus fu d'ilec menez denn Jesus selbst war von dort abgeführt 400 Et devant Pilate livrez. und vor Pilatus ausgeliefert. [...] Li Juis le veissel tenoit Der Jude hielt das Gefäß, Qu'en l'ostel Simon pris avoit, das er im Haus Simons genommen hatte, 435 Vint à Pilate et li donna; kam zu Pilatus und gab es ihm;
Im NT wird nur gesagt (Mt 26,27f; Mk 14,23f; Lk 22,20; 1Kor 11,25), dass Jesus beim Abendmahl den Becher mit dem Wein nahm, das Dankgebet sprach, ihn seinen Jüngern gab und sagte: »Trinkt alle daraus, das ist mein Blut...« (Im Griech. steht ποτήριον „Trinkgefäß, Becher(lein)“, Vulg. calix „Becher, Schüssel“.) Weiter hören wir nichts von diesem Gefäß.
Im JohEv kommt dieser Becher nicht vor. Dies ist der Grund, warum auf Da Vincis berühmtem Abendmahl kein Gefäß zu sehen ist, das als dieser spezielle Becher gedeutet werden könnte. Da Vinci stellt die Sitation aus Joh 13,21-24 dar: (21) Nachdem er das gesagt hatte, wurde Jesus im Geist erschüttert und er bezeugte und sagte: »Amen, amen, ich sage euch: einer von euch wird mich verraten.« (22) Die Jünger blickten einander an, ratlos, über wen er redet. (23) Einer von seinen Jüngern lag an der Brust Jesu, (der) den Jesus liebte. (24) Diesem nun winkt Simon Petrus, zu fragen, wer es sei, über den er redet.
Auf ein anderes, beim Abendmahl verwendetes Gefäß verweist Birch-Hirschfeld (S. 216): Mt 26,23 sagt Jesus: „Der mit mir die Hand in die Schüssel [griech. τρύβλιον] taucht, der wird mich verraten.“ (ähnlich Mk 14,20).
Pilatus gibt das Gefäß (V. 507-511) dem Joseph von Arimathia, der ihn um den Leichnam Jesu gebeten hatte. Joseph nimmt den Leichnam gegen den erbitterten Widerstand der Juden vom Kreuz. (Wieder im Gegensatz zum NT: dort bitten die Juden Joh 19,31 den Pilatus, dass den Delinquenten die Beine gebrochen werden, damit sie rasch sterben, und dass ihre Leichname vor Anbruch des Sabbats vom Kreuz genommen werden.) Dann wäscht er Jesu Leichnam und fängt das blutige Wasser in besagtem Gefäß auf.
550 Et Jhesu de la crouiz osterent. Und sie nahmen Jesus vom Kreuz ab. Joseph entre ses braz le prist, Joseph nahm ihn in seine Arme, Tout souef à terre le mist, legte ihn ganz behutsam auf die Erde, Le cors atourna belement richtete den Leichnam schön her Et le lava mout nestement. und wusch ihn ganz sauber. 555 Endrementier qu'il le lavoit, Während er ihn wusch, Vist le cler sanc qui decouroit sah er das helle Blut, das herablief De ses plaies, qui li seinnoient von seinen Wunden, die ihm bluteten, Pour ce que lavées estoient: weil sie gewaschen wurden: De la pierre adonc li membra Da erinnerte er sich an den Stein, 560 Qui fendi quant li sans raia der sich spaltete, wenn das Blut floss De sen costé, où fu feruz. von seiner Seite, wo sie getroffen worden war. Adonc est-il errant couruz Da lief er augenblicklich A son veissel et si l'a pris, zu seinem Gefäß und nahm es sich Et lau li sans couloit l'a mis, und stellte es da, wo sein Blut floss, hin. 565 Qu'avis li fu que mieuz seroient Denn er war der Ansicht, dass sie (so) besser (aufgehoben) seien, Les goutes ki dedenz cherroient die Tropfen, die hineinfielen, Qu'en liu où mestre les péust, als an (irgend)einem Ort, wohin er sie geben konnte, Jà tant pener ne s'en séust. sosehr er sich darum zu bemühen vermochte (?). A son veissel ha bien torchies In sein Gefäß wrang (?) er wohl aus 570 Les plaies, et bien nestoïes die Wunden und reinigte gut Celes des meins et dou costé, die der Hände und der Seite, Des piez environ et <et> en lé. und der Füße ringsum und entlang. Or fu li sans touz recéuz Nun war das Blut ganz aufgefangen Et ou veissel tous requeilluz. und im Gefäß ganz aufgenommen.
Als Jesus auferstanden, sein Leichnam also verschwunden ist, wird Joseph von den Juden (d.h. den jüdischen Autoritäten) gefangengenommen, verhört, geschlagen und in ein unterirdisches Verlies geworfen. Dort erscheint ihm der Auferstandene und bringt ihm das Gefäß. Joseph wird mit dem Gralsdienst beauftragt, wobei noch nicht ganz klar ist, worin dieser Dienst eigentlich besteht.
A lui dedenz la prison vint, Er kam zu ihm hinein in das Gefängnis Et son veissel porta, qu'il tint, und trug sein Gefäß, das er (in Händen) hielt, Qui grant clarté seur lui gita, das große Helligkeit auf ihn warf, 720 Si que la chantre enlumina; sodass die Kammer sich erhellte. Et quant Joseph la clarté vist, Und als Joseph die Helligkeit sah, En son cuer mout s'en esjoïst. freute er sich in seinem Herzen sehr darüber. Diex son veissel li aportoit, Gott brachte ihm sein Gefäß, Où son sanc requeillu avoit. wo(rin) er sein Blut aufgefangen hatte. [...] Nostres-Sires ha treit avant Unser Herr streckte vor Le veissel precieus et grant das wertvolle und erhabene Gefäß, Où li saintimes sans estoit worin das allerheiligste Blut war, Que Joseph requeillu avoit, das Joseph aufgefangen hatte, 855 Quant il jus de la crouiz l'osta als er ihn vom Kreuz herunternahm Et il ses plaies li lava; und ihm seine Wunden wusch. Et quant Joseph vist le veissel Und als Joseph das Gefäß sah Et le connut, mout l'en fu bel; und es erkannte, wurde es ihm sehr wohl. [...] Et il tantost s'agenouilla, Und sogleich fiel er auf die Knie, Nostre-Seigneur en mercia: dankte unserem Herr dafür: 865 «Sire Diex, sui-je donques teus »Herr Gott, bin ich denn so, Que le veissel si precieus dass ich das so wertvolle Gefäß Puisse ne ne doie garder bewahren kann oder soll, Où fis vostre saint sanc couler?» wo(rin) du euer heiliges Blut fließen ließest?« Diex dist: «Tu le me garderas Gott sprach: »Du wirst es mir aufbewahren, 870 Et cius cui le comanderas. und die, denen du es anvertrauen wirst. [...] Tout cil qui ten veissel verrunt, Alle diejenigen, die dein Gefäß sehen werden, En ma compeignie serunt; werden in meiner Gemeinschaft sein. De cuer arunt emplissement Sie werden haben des Herzens Fülle 920 Et joie pardurablement. und Freude immerdar.«
Eine unbestimmte Zeit später wird Vespasian, der Sohn des römischen Kaisers (wohl Verwechslung mit Titus), durch das Schweißtuch der Veronika von langer schwerer Krankheit geheilt. Er fährt nach Palästina, um herauszufinden, wer schuld ist an der Kreuzigung Jesu. Er befreit Joseph von Arimathia aus seinem Gefängnis und bestraft die Juden für die Tötung Jesu.
Man darf wohl annehmen, dass mit der röm. Strafexpedition der Jüdische Krieg 66-70 n.Chr. gemeint ist. Dass Robert zu dieser Zeit immer noch Pontius Pilatus im Amt sein lässt, zeigt, dass er keine rechte Vorstellung von den zeitlichen Verhältnissen der Ereignisse hatte. Allerdings ist es nach der Cura Sanitatis Tiberii Kaiser Tiberius (unter dessen Regierung Jesus gekreuzigt wurde), der durch das Tuch der Veronika geheilt wird.
Joseph erhält die Erlaubnis, mit allen, die sich ihm anschließen wollen, Jerusalem zu verlassen. In der Gemeinschaft, die er gründet, kommt es zur Trennung der Sünder von den reinen Frommen. Erstere bilden die Gralsgemeinschaft, letztere müssen die Gemeinschaft verlassen. Auf die Frage der Ausgeschlossenen, wie das Gefäß denn genannt werde, antwortet einer aus der Gemeinschaft namens Petrus (natürlich nicht Simon, der Jünger Jesu):
Petrus respont: «N'ou quier celer, Petrus antwortete: »Nicht suche ich, dieses zu verheimlichen: Qui à droit le vourra nommer, Wer es richtig benennen will, Par droit Graal l'apelera; wird es mit Recht Graal nennen. 2660 Car nus le Graal ne verra, Denn keiner wird den Gral sehen, Ce croi-je, qu'il ne li agrée: so glaube ich, der ihm nicht gefällt. A touz ceus pleist de la contrée, Allen denen der Landschaft ist er angenehm, A touz agrée et abelist; allen gefällt er und ergötzt (sie). [...] 2675 Tout ainsi cil qui s'en alerent So haben alle die, die weggingen, Et cil ausi qui demeurerent und auch die, die blieben, Le veissel unt Graal nummé das Gefäß Gral benannt Pour la reison que j'ei conté. aus dem Grund, den ich genannt habe. Li pueples qui là demoura, Das Volk, das dort blieb, 2680 A l'eure de tierce assena legte (den Gralsdienst?) auf die dritte Stunde fest, Car quant à ce Graal iroient denn wenn sie zu diesem Gral gingen, Sen service l'apeleroient; würden sie es seinen Dienst nennen. Et, pour ce que la chose est voire, Und weil diese Sache wahr ist, L'apelon dou Graal l'Estoire, nennen wir es die Geschichte des Gral, 2685 Et le non dou Graal ara und den Namen des Gral wird es haben Dès puis le tens de là en çà. seit der Zeit von da bis hier (Sandkühler: von nun an bis in alle Zeit).
Gral kommt also nach Robert von agréer „gefallen“. Der Gralsdienst scheint darin zu bestehen, dass sich die Gläubigen an eine Tafel setzen und durch den Anblick des Grals (in dem sich immer noch Christi Blut befindet) und eines Fisches (!) eine Art tiefer innerer Befriedung erleben. Im weiteren wird erzählt, wie Joseph die Funktion als Gralshüter und Leiter der Gemeinschaft an seinen Schwager (He-)Bron weitergibt, und es wird die zukünftige Geschichte der Gralshüter angekündigt.
Sandkühler spekuliert im Nachwort seiner Übersetzung darüber, dass Bron, der (V. 3345) als der reiche Fischer (le riche Pescheeur) bezeichnet wird (er hat den Fisch gefangen, der auf der Gralstafel liegt), mit Chrétiens reichem Fischerkönig (le riche Roi Pescheor) identisch ist, und demzufolge sein Nachfolger, Alains Sohn (und somit Brons Enkel) mit Chrétiens Perceval. Perceval müsste dann spätestens im 2. Jh. gelebt haben, während König Artus im 5. Jh. anzusiedeln ist. Aber Anachronismen sind bei Robert, wie wir schon gesehen haben, nichts Außergewöhnliches.
Auch Robert beruft sich übrigens auf ein Buch (V. 930-936, le grant livre) als Quelle, das wir nicht weiter zu identifizieren vermögen und das vielleicht nur literarische Fiktion ist.
Quellen:
Wolfram von Eschenbach (ca. 1160/80-1220) verfasste seinen Parzival wohl zwischen 1200 und 1210. Er folgt im wesentlichen Chrétien, ist aber viel ausführlicher. Bei Wolfram scheint der Gral so etwas wie ein Tischlein-deck-dich zu sein. Über sein Aussehen erfahren wir zunächst nichts. Sein Auftreten beim Mahl auf der Gralsburg (dessen leidender König bei Wolfram Anfortas heißt) wird so beschrieben:
235 15 nâch den kom diu künegîn. Nach denen kam die Königin. ir antlütze gap den schîn, Ihr Antlitz gab einen solchen Lichtschein, si wânden alle ez wolde tagen. sie alle glaubten, der Tag breche an. man sach die maget an ir tragen Man sah die Jungfrau an sich tragen pfellel von Arâbî. Seide aus Arabien. 20 ûf einem grüenen achmardî Auf einem grünen Seidentuch truoc si den wunsch von pardîs, trug sie den Inbegriff des Paradieses, bêde wurzeln unde rîs. sowohl Wurzeln als auch Zweige (=Anfang und Ende, das Ganze). daz was ein dinc, daz hiez der Grâl, Das war ein Ding, das hieß der Gral, erden wunsches überwal. alles übertreffend, wonach man auf Erden strebt. 25 Repanse de schoy si hiez, Repanse de Schoye hieß sie, die sich der grâl tragen liez. von der sich der Gral tragen ließ. der grâl was von sölher art: Der Gral war von folgender Art: wol muose ir kiusche sîn bewart, Rein bewahrt muss der Sinn derjenigen sein, die sîn ze rehte solde pflegn: die geziemend für ihn sorgen soll; 30 die muose valsches sich bewegn. sie muss Falsches meiden. 236 [...] 10 diu küngîn valscheite laz Die Königin, frei von Falschheit, sazte für den wirt den grâl. setzte den Gral vor den Gastgeber. [...] 238 hundert knappen man gebôt: Hundert Knappen gebot man, die nâmn in wîze tweheln brôt Brot in weißen Leinentüchern zu nehmen 5 mit zühten vor dem grâle. sittsam vor dem Gral. die giengen al zemâle Diese gingen zusammen und teilten für die taveln sich. und verteilten sich vor die Tische. man sagte mir, diz sag ouch ich Man sagte mir – (und) dies sage auch ich ûf iwer ieslîches eit, auf den Eid eines jeden von euch – 10 daz vorem grâle wære bereit dass vor dem Gral bereit war (sol ich des iemen triegen, (sollte ich damit jemand betrügen, sô müezt ir mit mir liegen) so lügt ihr notwendigerweise mit mir) swâ nâch jener bôt die hant, wonach einer die Hand ausstreckte, daz er al bereite vant dass er ganz bereit fand 15 spîse warm, spîse kalt, warme Speise, kalte Speise, spîse niwe unt dar zuo alt, neuartige Speise und dazu altbekannte, daz zam unt daz wilde. das Zahme (d.h. Fleisch von Haustieren) und das Wilde (Wildbret). esn wurde nie kein bilde, Dergleichen könne es gar nicht geben, beginnet maneger sprechen. beginnt mancher zu sagen. 20 der wil sich übel rechen: Der will sich übel rächen (d.h. seinen Unmut auslassen): wan der grâl was der sælden fruht, Gleichwohl war der Gral des Segens Hort, der werlde süeze ein sölh genuht, eine solche Fülle der weltlichen Süße, er wac vil nâch gelîche er hatte beinahe ebensoviel Wert, als man saget von himelrîche. wie man es vom Himmelreich sagt. 25 in kleiniu goltvaz man nam, In kleine Goldgefäße gab man, als ieslîcher spîse zam, was zu jeder Speise passte, salssen, pfeffer, agraz. Saußen, Pfeffer, Chutney. dâ het der kiusche und der vrâz Da hatten der Enthaltsame und der Gefräßige alle gelîche genuoc. alle gleich genug. 30 mit grôzer zuht manz für si truoc. Mit großer Sittsamkeit brachte man es vor sie. 239 Môraz, wîn, sinôpel rôt, Maulbeerwein, Wein, rot gefärbter Wein, swâ nâch den napf ieslîcher bôt, wonach ein jeder den Becher ausstreckte, swaz er trinkens kunde nennen, welches Getränk er nennen konnte, daz mohter drinne erkennen das konnte er darin finden, 5 allez von des grâles kraft. ausschließlich durch die Kraft des Grales. diu werde geselleschaft Die vornehme Gesellschaft hete wirtschaft vome grâl. wurde vom Gral bewirtet.
Die Erklärung des Einsiedlers (er heißt bei Wolfram Trevrizent) besagt nun, dass der Anblick des Grals Altern und Sterben verhindert. Seine wundertätige Kraft erhält er durch eine Hostie, die alljährlich an Karfreitag durch eine weiße Taube auf ihn herniedergebracht wird. Außerdem erscheinen (göttliche) Botschaften in Form von Inschriften auf dem Gral.
468 der wirt sprach »mir ist wol bekant, Der Gastgeber sagte: Mir ist wohl bekannt, ez wont manc werlîchiu hant dass manch wehrhafte Hand 25 ze Munsalvæsche bîme grâl. wohnt zu Munsalväsche (Mons Silvaticus /Mont Sauvage) bei dem Gral. durch âventiur die alle mâl Durch Abenteuer fortwährend rîtent manege reise: reiten sie auf mancher Reise: die selben templeise, Dieselben Templer (d.h. Ritter der Gralsburg), swâ si kumbr od prîs bejagent, ob sie Kummer oder Siegespreis erringen, 30 für ir sünde si daz tragent. sie tragen das (als Buße) für ihre Sünde. 469 Dâ wont ein werlîchiu schar. Da (also) wohnt eine wehrhafte Schar. ich wil iu künden umb ir nar. Ich will euch ihre Nahrung verkünden. si lebent von einem steine: Sie leben von einem Stein: des geslähte ist vil reine. der ist von sehr reiner Art. 5 hât ir des niht erkennet, Solltet ihr ihn nicht kennen, der wirt iu hie genennet. (so) wird er euch hier genannt. er heizet lapsit exillîs. Er heißt lapsit exillis. von des steines kraft der fênîs Durch die Kraft des Steines verbrennt verbrinnet, daz er z'aschen wirt: der Phönix, dass er zu Asche wird; 10 diu asche im aber leben birt. die Asche bringt ihm wiederum Leben. sus rêrt der fênîs mûze sîn So wirft der Phönix seine Mauser(federn) ab unt gît dar nâch vil liehten schîn, und gibt danach sehr hellen Lichtschein, daz er schœne wirt als ê. dass er so schön wird wie zuvor. ouch wart nie menschen sô wê, Auch war ein Mensch nie so krank, (d.h. egal wie krank einer auch ist) 15 swelhes tages ez den stein gesiht, wenn er an irgendeinem Tag den Stein gesehen hat, die wochen mac ez sterben niht, kann er diese Woche nicht sterben, diu aller schierst dar nâch gestêt. die unmittelbar darauf folgt. sîn varwe im nimmer ouch zergêt: Sein Aussehen vergeht ihm niemals; man muoz im sölher varwe jehn, man muss ihm solches Aussehen zugestehen, 20 dâ mit ez hât den stein gesehn, mit welchem er den Stein gesehen hat, ez sî maget ode man, – sei es Jungfrau oder Mann – als dô sîn bestiu zît huop an, als seine beste Zeit begann, sæh ez den stein zwei hundert jâr, (und) sähe er den Stein zweihundert Jahre, im enwurde denne grâ sîn hâr. es müsste ihm denn (d.h. außer dass...) sein Haar grau geworden sein. 25 selhe kraft dem menschen gît der stein, Solche Kraft gibt der Stein dem Menschen, daz im fleisch unde bein dass ihm Fleisch und Bein jugent enpfæht al sunder twâl. Jugend empfängt ohne jede Verzögerung. der stein ist ouch genant der grâl. Der Stein wird auch der Gral genannt. dar ûf kumt hiute ein botschaft, Auf ihn kommt am heutigen Tag eine Botschaft, 30 dar an doch lît sîn hôhste kraft. in der seine höchste Kraft liegt. 470 Ez ist hiute der karfrîtac, Heute ist der Karfreitag, daz man für wâr dâ warten mac, an dem man fürwahr sehen kann, ein tûb von himel swinget: wie eine Taube vom Himmel (herab)fliegt; ûf den stein diu bringet auf den Stein legt diese 5 ein kleine wîze oblât. eine kleine weiße Hostie. ûf dem steine si die lât: Auf dem Stein legt sie diese ab, diu tûbe ist durchliuhtec blanc, die Taube ist hellleuchtend weiß, ze himel tuot si widerwanc. zum Himmel kehrt sie zurück. immer alle karfrîtage Immer jeden Karfreitag 10 bringet se ûf den, als i'u sage, bringt sie auf diesen (Stein), wie ich euch sage, dâ von der stein enpfæhet (das,) wovon der Stein empfängt, swaz guots ûf erden dræhet was immer Gutes auf Erden duftet von trinken unt von spîse, an Getränken und an Speise, als den wunsch von pardîse: gleichsam den Inbegriff des Paradieses: 15 ich mein swaz d'erde mac gebern. ich meine, was immer die Erde hervorzubringen vermag. der stein si fürbaz mêr sol wern Der Stein muss ihnen ferner auch gewähren, swaz wildes underm lufte lebt, was an Tieren an der Luft lebt, ez fliege od louffe, unt daz swebt. es fliege oder laufe, und das, was schwimmt. der rîterlîchen bruoderschaft, Der ritterlichen Bruderschaft 20 die pfrüende in gît des grâles kraft. gibt die Kraft des Grales den Lebensunterhalt. die aber zem grâle sint benant, Die aber zum Gralsdienst bestimmt sind, hœrt wie die werdent bekant. hört, wie diese bekannt werden. z'ende an des steines drum Am Rand des Steines von karacten ein epitafum sagt eine Inschrift aus Schriftzeichen 25 sagt sînen namen und sînen art, seinen Namen und seine Herkunft, swer dar tuon sol die sælden vart. wer immer die segensreiche Fahrt unternehmen soll. ez sî von meiden ode von knaben, Es sei von Mädchen oder von Knaben, die schrift darf niemen danne schaben: die Schrift braucht niemand wegzulöschen: sô man den namen gelesen hât, wenn man den Namen gelesen hat, 30 vor ir ougen si zergât. verschwindet sie vor ihren Augen.
Wenn lapsit „er glitt/fiel herab“ richtig überliefert ist, dann sollte exillis eine Woherbestimmung enthalten, viell. ex c(a)elis „aus dem Himmel“. Ist es hingegen verschrieben für lapis „Stein“, dann müsste es ein adjektiv. Attribut sein; allerdings erscheint mir erilis „dem Herrn gehörig“ als zu gelehrt. Aber viell. soll dieser Name nur geheimnisvoll klingen und gar nichts bedeuten.
Weitere Eigenschaften des Grals: nur Repanse de Schoye kann den Gral aufheben (477,15-18); die Gralsritter auf Munsalväsche beschützen den Gral (473,5-11); dem Gral dienen Jungfrauen und Ritter (493,19-23; 494,1-14); der Gral ist seit Parzivals Gralskönigsschaft verborgen (786,5-12); der ungetaufte Feirefiz kann den Gral nicht sehen (810,3-13; 813,9-13.15-22), nach der Taufe kann er es (818,20-23).
Wolfram nennt als Quelle seiner Erzählung nicht in erster Linie Chrétien, dem er vorwirft, er habe die Geschichte nicht richtig dargestellt (827,1f), sondern einen gewissen Kyôt den Provenzalen, der wiederum auf einem in heidnischer (d.h. wohl arab.) Schrift geschriebenen Werk eines gewissen Flegetânîs, eines Heiden (Moslem?) mit jüdischen Wurzeln, basieren soll (416,20-30; 453,11-455,12; 827,3f). Manche möchten in Kyot den Dichter Guiot de Provins (geb. ca. 1150) erkennen; doch ist Kyot wahrscheinlich und Flegetanis ziemlich sicher eine Erfindung Wolframs. Seine Hauptquelle ist ohne Zweifel Chrétien.
Quellen:
Der Llyfr Coch (o) Hergest „Rotes Buch von Hergest“, eine zwischen 1382 und 1410 hergestellte Handschrift, enthält u.a. eine Sammlung von Erzählungen, die heute als Mabinogion (Pl. v. Mabinogi, Bedeutung unklar) bezeichnet werden. Die Mabinogion finden sich auch im Llyfr Gwyn Rhydderch „Weißes Buch von Rhydderch“, einer Handschrift, die um 1350 geschrieben und später auf zwei Bände aufgeteilt wurde. Eine der Erzählungen ist die walisische Version der Parzivalgeschichte, deren Held Peredur (sprich etwa [pɛˈreːdir]), Sohn des Efrawg (Effrawc) heißt. Unvollständig enthalten ist sie auch in MS Peniarth 7, fragmentarisch in MS Peniarth 14 (beide 14. Jh.).
Unter den Forschern ist umstritten, ob die Peredurerzählung älter ist als Chrétiens Perceval (und diesem evt. als Vorlage gedient hat) oder jünger (und somit bei Chrétien Anleihe genommen hat). Peredur sieht beim Mahl am Hof des gelähmten Königs zunächst einen mächtigen blutenden Speer, bei dessen Anblick die Anwesenden ein großes Geschrei erheben, danach eine „große Schale“ (dysgyl vawr) mit dem blutigen Haupt eines Mannes.
Da ich de facto kein Kymrisch kann (meine eigene Übersetzung ist
nicht viel mehr als ein tastender Versuch), gebe ich hier die engl. Übersetzung
von Charlotte Guest (S. 312f) wieder. Guest hat den kurzatmigen, parataktischen
Stil des Originals sprachlich sehr geglättet. Die Übersetzung der Jones ist
stilistisch näher am Original; aber ich bin mir über die Urheberrechtslage
im Unklaren.
Der kymr. Text ist nach der Ausgabe von Rhŷs/Evans (S. 203 Z. 13ff), allerdings
habe ich die Unterscheidung zwischen s und ſ, r und ꝛ, w und ỽ, ll und ỻ,
sowie den drei verschieden großen Wortabständen nicht mitgemacht. Die Fälle,
wo Guest keinen Wortzwischenraum hat (Guests kymr. Text S. 248 Z. 2ff), habe
ich durch ein farbiges narrow no-break space
( ) kenntlich gemacht.
Bei etlichen Wörtern kann man durch Überfahren mit der Maus ein Tooltip
einblenden, das die (mutmaßliche) Bedeutung des Wortes angibt. Der Text ist
Prosa, ich habe ihn zur besseren Darstellung satzweise in Zeilen zerlegt.
kymr. Orig. dt. Übers. a.d. Kymr. Guests engl. Übers. dt. Übers. a.d. Engl. Gwedy tewi yspeit vechan. Nachdem es eine kleine Weile still war, And when the clamour had a little subsided, Und als das Geschrei ein wenig abgeklungen war, ar hynny llyma dwy vorwyn yn dyuot. daraufhin, siehe, kamen zwei Jungfrauen, behold two maidens entered, siehe, da traten zwei Jungfrauen ein, a dysgyl vawr y ryngtunt. und eine große Schale (war) zwischen ihnen, with a large salver between them, mit einem großen Tablett zwischen ihnen, a phenn gwr yn y dysgyl. und das Haupt eines Mannes (war) in der Schale, in which was a man's head, auf dem das Haupt eines Mannes war, a gwaet yn amyl yn y chylch. und Blut (war) reichlich ringsum. surrounded by a profusion of blood. umgeben von einer Menge Blut. Ac yna diaspedein a orugant yn vawr niuer y llys. Und dann schrie das Gefolge des Palastes sehr, And thereupon the company of the court made so great an outcry, Und daraufhin machte die Gesellschaft des Palastes einen so lauten Aufschrei, yny oed vlin trigyaw yn vn llys ac wynt. dass es ermüdend war, sich im gleichen Saal mit ihnen aufzuhalten. that it was irksome to be in the same hall with them. dass es verdrießlich war, mit ihnen im selben Saal zu sein. Ac or diwed tewi o honunt. Doch schließlich war es still unter ihnen. But at length they were silent. Aber endlich waren sie still.
Als Peredur nach endlosen Abenteuern wieder auf diese Burg kommt, kniet ein blonder Page (gwas melyn, Guest: „a yellow-haired youth“) vor ihn hin und sagt ihm, dass er es war, der in Gestalt der schwarzen Frau zu Arthurs Hof gekommen ist und später von ihm die Erfüllung verschiedener Aufgaben verlangt hat. Das Haupt in der Schüssel war das von Peredurs Cousin, den die Hexen von Gloucester getötet haben.
Rhŷs/Evans S. 242 5. Z. v.u., Guest kymr. Text S. 295 Z. 12, engl. Übers. S. 369.
a mi a deuthum ar penn yn waetlyt ar y dyscyl. Und ich kam mit dem blutigen Haupt auf der Schale, And I came with the bloody head in the salver, Und ich kam mit dem blutigen Haupt auf dem Tablett, Ac ar gwaew yd oed y ffrwt waet or penn hyt y dwrn ar hyt y paladyr. und mit der Lanze, an der der Blutstrom war von der Spitze bis zum Griff entlang des Schaftes. and with the lance that streamed with blood from the point to the hand, all along the shaft; und mit der Lanze, die von Blut strömte von der Spitze zum Griff den ganzen Schaft entlang; ath geuynderw bioed y penn. und deinem Cousin gehört das Haupt, and the head was thy cousin's, und das Haupt war das deines Cousins, A gwidonot kaerloyw ae lladyssei. und die Hexen von Gloucester hatten ihn getötet, and he was killed by the sorceresses of Gloucester, und er wurde getötet von den Zauberinnen von Gloucester, ac wynt a gloffassant dy ewythyr. und sie lähmten deinen Onkel; who also lamed thine uncle; die auch deinen Onkel gelähmt haben; ath geuynderw wyf ynneu. und dein Cousin bin ich. and I am thy cousin. und ich bin dein Cousin. A darogan yw ytti dial hynny. Und es gibt eine Weissagung, dass du dieses rächst. And there is a prediction that thou art to avenge these things. Und es gibt eine Weissagung, dass du diese Dinge rächen sollst.
Daraufhin erschlagen Peredur und die Ritter Arthurs die Hexen von Gloucester, und die Geschichte ist zu Ende.
Das Wort Gral kommt in der Peredurerzählung (soweit ich sehen konnte) nicht vor. Welchen Sinn die Schale mit dem blutigen Haupt hat, ist unklar. Man kann vermuten, sie sollte Peredur neugierig machen und zum Fragen animieren.
Quellen:
Die unvollendet gebliebene Geschichte Chrétiens und die spirituell-symbolische Deutung, die Robert dem Gral gegeben hatte, riefen zahlreiche Fortsetzer und Nachahmer auf den Plan, die die Geschichte weitererzählten, erweiterten und ausschmückten. Im 13. Jh. ergoss sich eine Plethora an Gralsgeschichten und Erzählungen um Artus und seine Ritter in die Literatur.
So entstanden einige Fortsetzungen von Chrétiens Roman:
Quellen:
Zwischen 1210 und 1230 entstand ein umfangreicher Erzählzyklus in Prosa, der von den Abenteuern Lanzelots und der Suche nach dem Gral handelt. Er wird u.a. Prosa-Lancelot, Lancelot-Gral oder Vulgata-Zyklus genannt. Er besteht aus folgenden von einander unabhängigen Teilen (in der Reihenfolge der Entstehung):
Zwischen 1230 und 1240 wurde dieser Zyklus überarbeitet, an einigen Stellen gekürzt (Lancelot), an einigen erweitert (Merlin) – man spricht vom Post-Vulgata-Zyklus. Er ist nicht vollständig erhalten, Teile sind nur aus kastil. und portug. Übersetzungen zu rekonstruieren.
Quellen:
Irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 13. Jh. entstand ein Prosaroman, Perlesvaus, auch Li hauz livres du Graal „Das hohe Buch vom Gral“ genannt.
Quellen:
Um die Mitte des 13. Jh. verfasste Heinrich von dem Türlin einen Grals- oder besser einen Artusroman mit dem Titel Diu Crône, der sich hauptsächlich um Artus und Gawein dreht. Das Werk wurde aber ebensowenig ein Bestseller wie die etwa um die gleiche Zeit begonnene deutsche Übersetzung des Prosa-Lancelot.
Ganz anders der sog. Jüngere Titurel (so heißt er seit dem 19. Jh.): er ist die Fortsetzung des nur fragmentarisch überlieferten Titurel des Wolfram von Eschenbach und gibt sich als Werk Wolframs aus, ehe sich der Autor gegen Ende des Opus (Strophe 5883 Hahn) als Albrecht zu erkennen gibt (früher mit Albrecht von Scharfenberg gleichgesetzt). Das Versepos wurde bald nach seiner Entstehung für ein Werk Wolframs gehalten und genoss große Verehrung, auch nach seiner Wiederentdeckung in der Romantik.
Neben die Gralsuche tritt die Suche nach einer Hundeleine, dem Brackenseil. Albrecht vereinigt die Erklärungen des Grals von Robert de Boron (Becher) und Wolfram (Stein) und macht aus ihm den aus einem Stein gefertigten Kelch Jesu; dazu gibt er eine Neuinterpretation des kryptischen lapsit exillîs Wolframs.
Titurel erklärt, was der Gral ist (ich habe die seltsame Interpunktion der Hahnschen Ausg. beibehalten):
6172 Ein schar der gral vf erde . bi alten ziten brahte. Eine Schar brachte den Gral in alten Zeiten auf Erden, Ein stein in hohem werde . man ein schvzzel dar vz zv würken dahte. einen Stein von hohem Wert; man beschloss, daraus eine Schale anzufertigen. Iaspis vnd silix ist er genennet. Jaspis und Silix (Feuerstein) wird er genannt. Von dem der fenix lebende . wirt swenn er sich selb zv aschen brennen. Von dem wird der Phönix lebendig, sobald er sich selbst zu Asche verbrannt hat. 6173 Die selbe schvzzel gehevre . was ihesv cristo gebere. Eben diese liebliche Schale gebührte Jesus Christus. Ob tusent stvnt so tevre . vnd dannoch edler iht vf erde were. Wenn auch etwas tausendmal so Wertvolles und außerdem Edles auf Erden wäre, Daz wer ovch im zv schvzzel da gezemende. wäre das auch ihm das zur Schale Geziemende Zu siner mandat here . die sine iunger warn mit im nemende. zu seinem heiligen Abendmahl, das seine Jünger mit ihm nahmen. 6174 Die heilikeit svs erbet . der gral mit disen dingen. So erbte der Gral mit diesen Dingen die Heiligkeit. Die hat er vnverderbet . behalten sit in mir der engel bringen. Die hat er unverdorben behalten, seit ihn mir der Engel zu bringen Gervht al vf den berk der halbenunge. geruhte ganz auf den Berg der Halbenung (?). Er ist nu erst behalten . in disem rich vor aller wandelvnge. Er ist jetzt erst bewahrt in diesem Reich vor aller Veränderung. 6175 Ein ander schvzzel riche . vil edel vnd vil tevre. Eine andere prächtige Schale, sehr edel und sehr wertvoll, Worht man dirre geliche . die hat an heilikeit kein stevre. machte man dieser gleich. Die hat an Heiligkeit keinen Anteil. Die prvften kvnstenopeler zv ir landen. Die prüften Konstantinopolitaner in ihren Landen, Vnd richer ander zierde . wan sie si fvr den rehten gral erkanden. und reicherer Schmuck ließ sie in ihr den echten Gral erkennen (?). 6176 Ioseph von aramate . bekande wol die rehten. Joseph von Arimathia erkannte wohl die richtige (Schale), Der minnet frv vnd spate . iesum crist mit warheit der slehten. der früh und spät Jesus Christus mit aufrichtiger Wahrheit liebte. Der behielt die schvzzel tovgen schone. Der behielt die Schale heimlich im Stillen, Vntz mirs der engel brahte . benennet gral in engelischem done. bis sie mir der Engel brachte, in Engelssprache Gral genannt.
Da musste ich öfter raten, im Zweifelsfall habe ich mich an Müller angehalten. So übersetzt Lexer (Mhd. Wörterbuch) mandat mit „die fusswaschung am grünnen donnerstage“, aber gemeint ist ja wohl das letzte Abendmahl; bei halbenunge weiß Lexer offenbar nicht, was es bedeutet, Müllers „Aufbewahrung“ passt im Kontext, aber woher weiß Müller das?
Die ander schvzzel riche ist nach Sterzenbach (S. 27) der sog. Sacro Catino von Genua (s. Wikipedia-Art. Sacro Catino).
Quellen:
Während all der Jahrhunderte seit dem Mittelalter war (zumindest den Gebildeten) klar, dass es sich beim Gral nicht um einen realen Gegenstand, bei den Gralserzählungen nicht um historische Ereignisse handelte, sondern um aventiure, Dichtung, Fiktion. Im 20. Jh. plötzlich begannen einige Leute, den Gral für real zu halten, deuteten ihn aber um in einen Sachverhalt bzw. in die Personen, die diesen repräsentierten. Der Gral war jetzt die Nachkommenschaft Jesu Christi, die im fränkischen Königsgeschlecht der Merowinger und ihren angeblich bis heute lebenden Nachfahren kulminierte.
Das kanonische Werk dieser Denkrichtung ist The Holy Blood and the Holy Grail, ein unsägliches Machwerk voller verschrobener Hypothesen, abenteuerlicher Behauptungen, Halbwahrheiten und Verdrehungen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Buch ist kaum möglich. Die für unser Thema zentralen „Ergebnisse“, zu denen die Autoren gekommen sind:
Hier ist nicht der Ort, um auf all die hanebüchenen Behauptungen des Autorentrios einzugehen. Aber ein paar Richtigstellungen kann ich mir nicht verkneifen.
Das Buch war eine wesentliche Quelle für Dan Browns Da Vinci Code. Brown legt mit dem Namen des Gralshistorikers Leigh Teabing eine deutliche Spur: der Vorname lässt an Richard Leigh denken, der Nachname ist wohl nicht zufällig ein Anagramm von Michael Baigent. Brown hat sich von dem Werk so stark inspirieren lassen, dass Leigh und Baigent 2006 einen Plagiatsprozess gegen Brown anstrengten. Brown hat die Inspiration bestritten, woran das Gericht aber Zweifel hatte. Dennoch hat er (bzw. sein Verlag) den Prozess gewonnen. Nicht zuletzt deshalb, da die Klagenden ihre Gralsideen auch nicht alle selber erfunden (oder „entdeckt“) haben. Und auf Tatsachenbehauptungen kann man ja wohl kein Urheberrecht haben.
Quellen:
Da Dan Browns Roman der Anlass war, mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe ich die sonstigen literarischen Verästelungen des Gralsmotivs nicht weiter verfolgt. Erst durch die Lektüre von Matthias Egelers Buch zum Thema, ist mir klar geworden, wie breit seine Wirkungsgeschichte in der Populärkultur ist. Daher hier eine kurze Zusammenfassung von Egelers Ausführungen.
Dan Brown ist natürlich nicht der einzige moderne „Gralssucher“. Die ersten neuzeitlichen Gralsautoren wie Alfred Tennyson (1809-1892, Idylls of the King) oder Richard Wagner (1813-1883, Lohengrin, Parsifal), bewegten sich aber noch in eher traditionellen Bahnen. Aber Wagner, und stärker noch der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner (1861-1925), machten den Gral zum Symbol einer zunehmend esoterischen Religiosität. Im 20. Jh. schließlich wurde der Gral zum Kultobjekt einer vorgeblich vorchristlichen, in Wahrheit gnostizistischen oder neuheidnischen Religion, etwa bei dem von Heinrich Himmler protegierten Gralsforscher Otto Rahn (1904-1939, Kreuzzug gegen den Gral, Luzifers Hofgesind) – der vielleicht die Vorlage für Indiana Jones and the Last Crusade abgegeben hat –, der amerikanischen Romanautorin Marion Zimmer Bradley (1930-1999, die Avalon-Reihe beginnend mit The Mists of Avalon) oder der britischen Schriftstellerin Kate Mosse (geb. 1961, die Languedoc-Trilogie Labyrinth, Sepulchre, Citadel). Die spekulative Deutung des Grals als Reflex eines vorchristlichen Fruchtbarkeitsrituals durch die britische Mediävistin und Folkloristikerin Jessie Laidlay Weston (1850-1928, From Ritual to Romance) wurde literarisch umgesetzt von T. S. Eliot (1888-1965, The Waste Land), der nach Egeler wiederum die Vorlage für das filmische Ritterepos Excalibur war. Da konnte es nicht ausbleiben, dass das Thema auch parodistisch aufgegriffen wurde: Monty Python and the Holy Grail, zu Deutsch Die Ritter der Kokosnuß.
Obwohl der Gral bei de Boron und seinen Nachfolgern eine Passionsreliquie ist, hat sich die Kirche dem Thema gegenüber immer auffallend distanziert verhalten. Es waren vor allem mehr oder weniger neopagane Gralsadepten, die den Gral mit einem existierenden Gegenstand identifizierten oder sein Versteck irgendwo verorteten, Otto Rahn etwa in der Gegend um die Burg von Montségur in den französischen Pyrenäen, eine Gruppe von Engländern um Wellesley Tudor Pole (1884-1968) aber mit mehr Erfolg im Bereich der Kelchquelle (Chalice Well) im südenglischen Glastonbury.
Quellen:
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 31. Aug. 2021