Michael Neuhold Homepage
Startseite >
Biblica >
Textkritik der Bibel
Als Textkritik bezeichnet man den Vergleich und die Beurteilung verschiedener Varianten desselben Textes mit dem Ziel festzustellen, welche Lesart wahrscheinlich die ursprünglichste ist. Idealerweise sollte man dabei auch erklären können, wie es von diesem mutmaßlich ursprünglichen Text zu den abweichenden Varianten gekommen ist.
Angaben über derzeit aktuelle Auflagen beziehen sich auf den Zeitpunkt der Erstellung dieser Seite, nämlich Jan 2025.
Zwar nicht die einzige, aber die (zumindest in der protestantischen Reichshälfte)
maßgebliche Textausgabe des griech. NT ist Nestle/Aland (NA). Aktuell ist derzeit die
28. Aufl. Der
Text des NA28
ist online bei der DBG verfügbar (leider nicht der kritische Apparat). NA führt
die meisten Textvarianten an, nennt als Vertreter aber in der Regel nur die wichtigsten
Zeugen. Parallel dazu erscheint seit 1997 auch eine
Editio
critica maior (ECM), deren Fertigstellung für 2030 geplant ist.
Denselben Text wie NA, aber einen anderen Apparat hat das Greek New Testament
(genannt UBS, = United Bible Societies). Aktuell ist die
5. Aufl.
Auch der
Text von UBS5
ist bei der DBG online verfügbar. Diese Ausgabe verzeichnet nur die bedeutsamsten
Varianten, führt dazu aber mehr Zeugen (auch Kirchenväter) auf als NA und gibt
auch an, für welche Variante sich die maßgeblichen engl., dt. und frz. Übersetzungen
entschieden haben.
Alle diese Ausgaben sind
eklektische Editionen,
d.h. der Text ist eine Auswahl aus den verschiedenen Lesarten. Es gibt keine
Handschrift, die genau diesen Text enthält.
Aufgrund der großen Anzahl an Textzeugen und der häufigen Kontamination (der
Vermischung des Textes mehrerer Vorlagen) schien es lange Zeit unmöglich, ein
Handschriftenstemma zu erstellen, d.h. einen genealogischen Baum, der darüber
Auskunft gibt, welche Abschrift von welcher Vorlage stammt. Stattdessen wurden
die Zeugen in Gruppen, Typen oder Kategorien eingeteilt. Einige Jahrzehnte lang
wurden vor allem drei Texttypen unterschieden:
alexandrinischer
Texttyp (auch ägyptischer oder hesychianischer Typ genannt, Hauptvertreter
B
ℵ, abgesehen von den Evv.
C),
byzantinischer Typ
(auch Mehrheitstext oder Koine genannt, Hauptvertreter bei den Evv.
A
C
E
F
G
H),
westlicher
Text (Hauptvertreter
D
it
sysc).
Man darf sich das nicht so vorstellen, dass alle Handschriften eines Typs
exakt denselben Text enthalten. Vielmehr haben sie nur „typische“ Lesarten
gemeinsam. Daher haben Kurt und Barbara Aland Anfang der 80er Jahre eine andere
Unterteilung vorgenommen, nämlich in
fünf
Kategorien (von I bis V durchnumeriert). Dabei wurde der alexandrinische
Texttyp in zwei Kategorien aufgespaltet, und es wurde eine eigene Kategorie
geschaffen für Handschriften, die sich sonst nirgends gut einordnen lassen.
Seit der Arbeit an der ECM versucht man, mit computergestützten Textvergleichen
das Netzwerk an (potentiellen) genealogischen Beziehungen der Handschriften zu
erstellen, um so besser beurteilen zu können, welche Handschrift von welchen
anderen Text bezogen hat. (Das Verfahren nennt sich
kohärenzbasierte
genealogische Methode.)
Bei der ntl. Textkritik werden nicht nur Handschriften und Sekundärüberlieferung
(Zitate bei späteren Autoren), sondern vor allem auch die frühen Übersetzungen
zu Rate gezogen, nämlich die kopt. (sahid., bohair.), lat. (die ältere Itala
oder Vetus Latina und die
Vulgata), syr. (insbes. Peschitta), armen.,
äthiop., georg., got.
Ich widme mich auf meiner Homepage nur gelegentlich textkritischen Problemen.
Beispielsweise habe ich ausführlich dokumentiert, warum im Jesuswort vom Kamel
und Nadelöhr tatsächlich von einem Paarhufer die Rede ist und nicht von einem
Tau oder Seil:
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr:
Der Text und die frühen Übersetzungen,
Eine byzantinische Konjektur.
Hier am Beispiel von Joh 4,5, wie der Apparat des NA27 zu lesen ist:
⸂ἔρχεται οὖν εἰς πόλιν τῆς Σαμαρείας⸃ λεγομένην ⸀Συχὰρ πλησίον
τοῦ χωρίου ⸁ὃ ἔδωκεν Ἰακὼβ °[τῷ] Ἰωσὴφ τῷ υἱῷ αὐτοῦ·
„Er kommt nun in eine Stadt Samarias, genannt Sychar, nahe dem Land, das Jakob
[dem] Josef, seinem Sohn, gegeben hatte.“
NA hat einige Zeichen im Text, die auf den krit. Apparat verweisen und die
sogar Eingang in Unicode erlangt haben (s.
NT
Textual Criticism Signs):
⸂ 1 𝔓75* ¦ – ℵ* (h. t.) | | Ein Textzeuge hat nur 1 = das 1. Wort des umschlossenen Textes (also ἔρχεται); – = bei einem Zeugen fehlt der Text. Das ist ein offensichtliches Versehen wegen des Σαμαρείας am Ende von V. 4 (h. t. bedeutet Homoioteleuton, also Wiederholung der gleichen Wortendung). 𝔓nn sind Papyri. Ein hochgestelltes * bezeichnet den ursprünglichen Text an Stellen mit Korrekturen. ℵ ist die Sigle des Codex Sinaiticus. |
⸀ Σιχαρ 69 vgcl.ww boms ¦ Συχεμ sys.c | | Der Ortsname Συχαρ ist auch als Σιχαρ (orthograph. Variante), aber vor allem auch als Συχεμ (anderer Ort) überliefert. Ersteres findet man in der lat. Vulgata (Sichar) (vg = Vulgata, cl = Editio Clementina 1592, ww = Ausg. v. Wordsworth/White 1889-1954) und in einer Hs. der bohair. Übers. (ⲥⲓⲭⲁⲣ, Hs. F bei Horner) (bo = bohair. Übers., ms = eine Hs. bezeugt die Lesart); letzteres in der altsyr. Übers. (ܫܟܝܡ škjm, die griech. Namensform ist bezeugt in Apg 7,16) (sy = syr. Übers., s = Vetus Syra/ Codex Sinaiticus, c = Vetus Syra/ Codex Curetonianus). |
⸁ ου 𝔓66 C* D L N WS Θ 086 f 1 33. 565. 700. 1241. 𝑙844. 𝑙2211 pm ¦ txt 𝔓75 ℵ A B C2 K Γ Δ Ψ 083 f 13 579. 892. 1424 pm | | Neben dem grammatikalisch korrekten Akk. ὅ findet man auch den Gen. οὗ (Kasusangleichung an das Bezugswort χωρίου). f 1 und f 13 sind zwei Minuskelfamilien (welche Hss. zu ihnen gehören, entnehme man der Einführung). pm (permulti) bedeutet „sehr viele“, wo die Bezeugung gespalten ist. Ein txt (textus) wird der Auflistung jener Zeugen, die den Text der Ausgabe haben, vorangestellt. Die Kasusangleichung des Relativpronomens ist so häufig im NT, dass der Gen. kaum noch als lectio difficilior zu werten ist. Und der Akk. hat das Gewicht der Bezeugung durch das Dreigestirn Sinaiticus, Alexandrinus, Vaticanus auf seiner Seite. Dazu kommt 2 = zweiter Korrektor, hier des Ephraemi rescr., und auch pm. |
° A C D L WS Θ Ψ 086 f 1.13 33 𝔐 ¦ txt 𝔓66.75 ℵ B | Der Artikel vor dem Namen Josephs fehlt bei wichtigen Handschriften und auch bei 𝔐 = Mehrheitstext. Trotz Bezeugung durch Sinaiticus und Vaticanus ist der Artikel also vielleicht nicht ursprünglich. |
Man beachte, dass die Alternativlesarten nicht akzentuiert sind. (Viele Hss. haben keine Akzente und Hauchzeichen.) Die Hauptschwierigkeit für den Benutzer des NA besteht darin, den textkritischen Wert der Handschriften und Übersetzungen zu beurteilen (69? 33? 086?). Die bloße Anzahl der Zeugen sagt noch nichts über den Wert einer abweichenden Lesart. Großes Gewicht haben natürlich die frühen Unzialhss. ℵ A B C D.
Die einzige inhaltlich relevante Variante ist „Sichem“ statt „Sychar“: Es fehlte auch in der Neuzeit nicht an Exegeten, die Sychar für eine spöttische Verballhornung von Sichem hielten. Die Wiedergabe der Vetus Syra ist also wohl eine Intepretation. Aber da sich der Name Sychar auch in talmudischen Texten findet (s. Strack/Billerbeck, Bd. 2, S. 431f), ist die Lokalisierung in dem arab. Dorf ʿAskar bei Nablus das Wahrscheinlichere.
Am Beispiel von Apg 16,12 soll der Apparat der UBS5 gezeigt werden. In besagter Stelle wird berichtet, wie Paulus, Silas und Timotheus von Nea Polis nach Philippi kommen:
κἀκεῖθεν εἰς Φιλίππους, ἥτις ἐστὶν πρώτη[ς] μερίδος
τῆς4 Μακεδονίας πόλις, κολωνία.
„von dort nach Philippi, welches erste Stadt eines [od. eine Stadt (des) ersten]
Teils des Makedoniens ist, eine Kolonie.“
Es geht im Kern um die Frage, ob Philippi als Stadt des ersten Teils von Makedonien bezeichnet werden soll – was historisch wohl korrekt ist – oder als erste Stadt des / eines Teils von Makedonien – was falsch wäre, wenn „erste Stadt“ im Sinne von Haupsttadt zu verstehen wäre, denn das war laut den Kommentaren zur Stelle Amphipolis. NA25 hatte sich noch für letzteres entschieden. NA28 hat ersteres, aber das Gen.-s ist in eckige Klammern gesetzt: d.h. die Herausgeber favorisieren diese Lesart, es bestehen aber doch ernsthafte textkritische Einwände dagegen.
4 12 {D} | Fußnote, Verszahl, in geschweiften Klammern der Grad der Sicherheit des gewählten Textes (von A = ziemlich sicher bis D = sehr unsicher): „The letter D, which occurs only rarely, indicates that the Committee had great difficulty in arriving at a decision.“ |
πρώτης μερίδος τῆς itc vgmss slav // | „eine Stadt (des) ersten Teils des Makedoniens“: eine altlat. Hs., einige Vulgatahss. (primae partis Macedoniae civitas, in prima parte Macedonia civitas), die altkirchenslaw. („Old Church Slavonic“) Übers.; nach UBS3 auch die provençal. (altfrz.) und ahd. („Old High German“) Übers.; auch Luther 2017 hat „eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien“. |
πρώτη τῆς μερίδος 𝔓74 ℵ A C Ψ 33 36 81 181 307 453 610 945 1175 1678 1891 2344 l 818 NIV NRSV REB BJ NBS TOB BTI DDH // | „erste Stadt des Teiles Makedoniens“: Sinaiticus, Alexandrinus, Ephraemi rescr. u.a.m., dazu ein großer Teil der modernen Übers., wir könnten für das Dt. u.a. Menge 1939, Elberfelder 2006 oder Einheitsübers. 2016 hinzufügen. |
πρώτη τῆς μερίδος τῆς (B omit first τῆς) Byz [L P] l 1178 itar, e, gig, (l), p*, m, w vg copsams, bo // | „erste Stadt des Teiles des M.“: byzantin. Mehrheitstext, viele Altlateiner, Vulgata (quae est prima partis Macedoniae civitas) und die bohair. Version (ⲉⲧⲉ ⲛ̄ⲑⲟⲥ ⲧⲉ ϯϩⲟⲩⲓϯ ⲛ̄ⲧⲉ ϯⲧⲟⲓ ⲛ̄ⲧⲉ ⲑⲙⲁⲕⲉⲇⲟⲛⲓⲁ ⳾ ⲟⲩⲡⲟⲗⲓⲥ ⲛ̄ⲕⲟⲗⲱⲛⲓⲁ, Horner übers. „which [it] is the first (city) of the district of (the) Makedonia, a colony city“); der Vaticanus hat „erste Stadt eines Teiles des M.“ |
πρώτη τῆς 614 1409 1739 l 1439 syrh eth Chrysostom // | „erste Stadt des M.“: u.a. die syr. Übers. des Thomas von Harqel und die äthiop. Version nebst Johannes Chrysostomos (4. Jh.) |
πρώτη μέρις E itdem, p2, ph vgms copsamss arm geo | „erster Teil Makedoniens, eine Stadt“: E und einige altlat. und die sahid. Hss. (ⲟⲩⲡⲟⲗⲓⲥ ⲧⲉ ϫⲉ ⲕⲟⲗⲟⲛⲓⲁ. ⲉⲧⲉ ⲧⲁⲓ ⲧⲉ ⲧϣⲟⲣⲡⲉ ⲙ̄ⲙⲉⲣⲓⲥ ⲛ̄ⲧⲙⲁⲕⲉⲇⲟⲛⲓⲁ, Horner übers.: „a city it is, called Kolonia, which is this, the first district of the Makedonia“), sowie die armen. und georg. Übers. |
κεφαλὴ τῆς D itd syrp | „Haupt(stadt) des M.“: Bezae Cantabrigiensis, eine altlat. Hs. (quae est caput Macedoniae civitas) und die syr. Peschitta (ܕܗܺܝ ܗ̱ܺܝ ܪܺܝܫܳܐ ܕܡܰܩܶܕܼܳܘܢܺܝܰܐ) |
Gefährlich bei UBS ist, dass die Varianten im Apparat mit Akzenten und Spiritus versehen sind. Ich habe im Zusammenhang mit der Frage Junia oder Junias? erlebt, dass Theologen glaubten, diese fänden sich in den angegebenen Hss. Dem ist aber mitnichten so!
Eine ahd. Übers. der Apg kenne ich nicht. Es wird seinen Grund haben, warum
diese Angabe aus UBS5 wieder verschwunden ist. Vielleicht ist der
Codex Teplensis (um 1400) gemeint, der sprachlich allerdings frühes Nhd. mit
mhd. Resten ist (so die Analyse von
Heimrath,
Ralf: Der Codex Teplensis, 2021):
daz do ist eine fremde stat in deme ersten teile zu macedon
(
T. 3, S. 50
der gedruckten Ausg. von 1884).
Tatsächlich ahd. ist die Übersetzung des MtEv in den sog. Mondseer Fragmenten,
der Althochdeutsche Tatian oder das Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg.
Die beiden letzteren sind Evangelienharmonien und daher für die Textkritik nur
bedingt von Nutzen.
Die Angaben der UBS5 zum Altkirchenslaw. (auf S. 36*) sind nach dem Motto sapienti sat gestrickt. Ich musste länger herumsuchen, um die folgenden Erklärungen zu finden:
Vajs [Goss.] | Der Prager Slawist ![]() |
Kałužniacki [“Christinopolitanus”, the earliest and most reliable manuscript of the Apostolos] | Dem Czernowitzer Slawisten ![]() |
Kovčevič/D. E. Stefanovič | Radmila Kovačević und
![]() |
the Šišatovac Apostolos lectionary | Der Apostolos des Klosters Šišatovac (1324) wurde auch von dem österr.-slowen.
Slawisten ![]() |
Andere wichtige kirchenslaw. Bibeln sind etwa:
Im Apostolos von Šišatovac ist unser Vers nicht enthalten. Der Codex Christinopolitanus
hat:
ижe
ѥсть
пьрвꙑꙗ
части
Макєдониꙗ
градъ,
Колониꙗ (
S. 38
der Ausg. von Kałużniacki).
Der gewählte Text ist also in keiner griech. Hs. belegt, sondern nur in einigen Hss. der lat. Übers. und in der altkirchenslaw. Übers. Zwar scheint es naheliegend, dass aus ΠΡΩΤΗΣ durch Dittographie ΠΡΩΤΗΤΗΣ geworden ist. Aber dass dieses Verderbnis sich in der Überlieferung so vollständig durchgesetzt hat, stimmt doch nachdenklich. Außerdem erhebt sich die Frage, wozu der Verfasser mitteilt, dass Philippi im ersten Bezirk Makedoniens liegt, seine Leser sind ja nicht an Geographie interessiert. Dagegen wäre es plausibel, wenn er die Bedeutung der Stadt hervorheben wollte (ob zu Recht, ist dann eine andere Frage).
Die Apg ist bekanntlich in zwei Rezensionen überliefert. Der Hauptrepräsentant der längeren Rezension ist D (Beza Cantabr.). Seine Lesart κεφαλή „Haupt-“ sieht nach einer erklärenden Umschreibung von πρώτη „erste“ aus.
Die einzige mir bekannte wissenschaftliche Textausgabe ist die
Biblia
Hebraica Stuttgartensia (BHS). Sie liegt momentan in 5. Aufl. vor. Der
Text der BHS ist online
bei der DBG verfügbar. Die BHS gilt als 4. Ausgabe der ursprünglich von Rudolf
Kittel herausgegebenen hebräischen Bibel (BHK). Seit 2004 wird an einer Neuausgabe
gearbeitet, der 5., die daher
Biblia
Hebraica Quinta (BHQ) genannt wird.
Die Ausgaben der Biblia Hebraica (BHK, BHS, BHQ) sind
diplomatische
Editionen, d.h. sie geben den Text eines bestimmten Textzeugen
wieder, nämlich den des Codex Leningradensis aus dem Jahr 1008/09. Dieser ist
die älteste vollständige Handschrift des masoretischen Textes.
Der kritische Apparat der BHS gibt bei abweichenden handschriftlichen Lesarten
nur die Sigle Ms(s) (d.h. „Handschrift(en)“). Für konkrete Auskunft,
welche Ms(s), wird auf die Ausgaben von Kennicott, De Rossi und Ginsburg verwiesen.
Lediglich bei Lesarten, die sich in Qumrantexten oder in einem Text der Kairoer
Geniza finden, wird mit entsprechenden Siglen diese Herkunft verzeichnet.
Zusätzlich zum kritischen Apparat am Seitenfuß enthält die BHS am Seitenrand
die sog.
Masora parva,
das sind Angaben der jüdischen Gelehrten über ihrer Meinung nach falsche Lesungen
(
Ketîb vs.
Qerê) und über die Häufigkeit von Wortformen.
Auch für die atl. Textkritik spielen die frühen Übersetzungen eine wichtige Rolle, nämlich die aram. (Targume), griech. (Septuaginta [LXX], Aquila, Symmachos, Theodotion), lat., syr. Die Reste von Aquila, Symmachos und Theodotion findet man in den Hexapla des Origenes.
Ein notorischer Fall, wo die christlichen Übersetzer sich an den Text der
griech. Septuaginta halten statt an den masoret. Text, ist Ps 22,17:
Wie ein Löwe.
Der Apparat der BHS erklärt am Beispiel von Ps 103,5:
הַמַּשְׂ̊בִּ֣יַע בַּטּ֣̊וֹב עֶדְיֵ֑ךְa
תִּתְחַ̊דֵּ֖שׁ כַּנֶּ֣שֶׁר נְעוּרָֽ̊יְכִיb׃
„Der mit dem Guten sättigt deinen Schmuck, deine Jugend erneuert sich wie ein
Adler (= wie die eines Adlers?).“
a prp עָרְגֵךְ (cf 𝔊 τὴν ἐπιθυμίαν σου) vel עֹדֵכִי vel עַד־דַּיֵּכִי | „deinen Schmuck“? (= Umschreibung für „deine Seele“? Aber die Seele ist ja angeredet, s. V.1f) Es wurden verschiedene Textkorrekturen vorgeschlagen (prp = propositum „vorgeschlagen“): „dein Verlangen“, so hat es auch die LXX (Sigle 𝔊); oder „dein Dasein“ o.ä. = „solange du lebst“ (von עֹוד, vgl. Ps 104,33, eine Konjektur Eberhard Nestles in ZAW 19 (1899), S. 182); oder „zu deiner Genüge“. |
b 4QPsb ך—, 𝕮 נעורכי | bei „deine Jugend“ liest der zweite Psalmentext aus Qumran, Höhle 4, offenbar das gewohnte Pronominalsuffix anstelle des seltenen, aber in diesem Psalm gehäuften כִי-; der Text aus der Kairoer Geniza (Sigle 𝕮) hat das Wort defektiv geschrieben oder im Singular (aber es ist sonst ein plurale tantum). |
Bernhard Duhm (Die Psalmen, Kurzer Hand-Commentar zum A. T.,
S. 240)
schlug הַמַּשְׂבִּיעֵךְ טֹוב עֲדָנָיִךְ „der dich sättigt mit den
besten deiner Wonnen“ vor. Wurde von den meisten Exegeten abgelehnt.
Eher kurios ist die „Rekonstruktion“ des Verses bei T. K. Cheyne (The Book of
Psalms, Bd. 2,
S. 117)
zu: מֵשִׁיב מִבֵּית עַרְבִים | מְקַבֵץ מִכוּשׁ נִשְׁאֲרָיִך, was er übersetzt
mit „Who has brought thee home from the house of Arabia, And gathered thy
survivors from Cushan.“ Das ist Kaffeesudleserei und hat mit Textkritik nichts
zu tun.
Die vier Circelli (x̊) verweisen auf die Masora am Rand:
ל̇ . ט̇ דגש̇3 . ל̇ . ל̇
ל̇ bedeutet, dass das entsprechende Wort in dieser Form
nirgends sonst im masoret. Text (der Bibel? der Psalmen?) vorkommt. (Hier wären
das also נְעוּרָֽיְכִי ,תִּתְחַדֵּשׁ ,הַמַּשְׂבִּיַע.) Für die Form
בַּטּוֹב erfahren wir, dass sie 9mal (ט̇)
mit Dageš vorkommt. Die Fußnote verweist auf die entsprechende Angabe zwischen
Text und kritischem Apparat:
3Mm 2625.
Hier werden wir an die Masora magna (Abk. Mm) verwiesen, die von Gérard Weil
in einem eigenen Band herausgegeben wurde.
Die (unpunktierte) Ausgabe von Kennicott verzeichnet zu V.5 folgende Textvarianten (die Nummern bezeichnen Textzeugen):
המשביעי 37. | ein Textzeuge hat Constr. Pl.? |
בטוב ꞈ 157. | bei einem Textzeugen fehlt „mit dem Guten“ |
עדייך 1, 19, 156, 166, 176, 192, 226, 240, 245. | zwei Handvoll Textzeugen haben offenbar Plural (dt. etwa „deine Schmuckstücke“?) |
ותתחדש 249 — תחדש 601. | ein Textzeuge hat „und erneuert sich“, ein Textzeuge hat Piʿel „(sie) erneuert“ |
נעורייכי 76, 142, 156, 245, 274. | einige Textzeugen schreiben das Pronominalsuffix am Plural mit Doppel-Jod (aram. Schreibung für נְעוּרָיִיכִי?) |
Der „Schmuck“ gibt keinen rechten Sinn und heischt nach Textverbesserung. Aber keine der vorgeschlagenen Emendationen ist evident. Der Rest sind bedeutungsmäßig irrelevante Varianten oder offensichtliche Versehen.
Es gibt eine Handvoll von Prinzipien, die man heute anwendet, um zu entscheiden, welche Textvariante die ursprünglichere ist. Die ältere Lesart (nicht notwendigerweise die ältere Handschrift!) wird im allgemeinen die bessere sein. Die schwierigere Lesart ist zu bevorzugen, ebenso die kürzere (außer wo versehentliche Auslassung auf der Hand liegt). Denn es erscheint plausibler, dass ein Abschreiber eine ihm unverständlich erscheinende Lesart verständlicher gemacht hat und dass er dafür eine ausführlichere Formulierung gewählt hat bzw. Sätze aus ähnlichen (parallelen) Passagen herübergenommen hat (Harmonisierung der synoptischen Evv.), als dass er bewusst gekürzt hat.
Bis wie weit eine Lesart „schwieriger“ ist und ab wann sie schlicht sinnwidrig ist, ist eine subjektive Entscheidung. Ebenso kann es sein, dass sich zwei dieser Prinzipien widersprechen, z.B. die schwierigere Lesart in der jüngeren Textfassung. Daher kommen Ausleger und Emendatoren zu unterschiedlichen Urteilen darüber, welche Variante als ursprünglicher zu betrachten ist.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 1. März 2025