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Texte: Von Dante bis Tasso
Die ital. Literatur beginnt mit dem Dreigestirn Dante Alighieri (1265-1321, Divina commedia), Francesco Petrarca (1304-1374, Canzoniere) und Giovanni Boccaccio (1313-1375, Il Decamerone). Dante und Boccaccio stammten aus Florenz, Petrarca wurde in Arezzo geboren, da sein Vater aus Florenz verbannt war, und verbrachte den Großteil seines Lebens in der Provence.
Nach einem Jh., in dem hauptsächlich latein. geschrieben und gedichtet wurde, brachte das Cinquecento wieder bedeutende ital. Texte von Autoren wie Niccolò Machiavelli (1469-1527, Il Principe), Ludovico Ariosto (1474-1533, Orlando Furioso) oder Torquato Tasso (1544-1595, La Gerusalemme liberata) hervor.
Dante Alighieri (1265-1321) stammt aus Florenz, wird aber 1302 wegen seiner politischen Haltung in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Er lebt von da ab u.a. in Verona, Treviso und Ravenna, wo er auch stirbt. Die Bedeutung seines dichterischen Werks liegt vor allem darin, dass es statt Latein die florentinische Sprache verwendet und so den ersten Schritt zur ital. Literatursprache darstellt. Dantes Hauptwerk ist die Commedia (verfasst 1307-1320), der Titel bezeichnet kein Lustspiel, sondern ein Werk nicht-tragischen Inhalts: Dante trifft in einem (allegorischen) Wald Vergil, der ihn durch Inferno (Hölle) und Purgatorio (Läuterungsort, Fegefeuer) führt, um ihn schließlich an Beatrice zu übergeben, die ihn durch das Paradiso (Himmel, Paradies) führt. Dante klammert dabei auch das "charakteristisch Individuelle, zuweilen Grausige, Häßliche, Groteske und Alltägliche" (Erich Auerbach) nicht aus. Seit Boccaccio trägt das Werk das Epitheton Divina "göttliche".
Dafür dass der Text rund 700 Jahre alt ist, lässt er sich mit den Kenntnissen des modernen Ital. erstaunlich gut lesen. Auffälligste Abweichungen sind:
Gustave Doré: Vergil führt Dante von der Wölfin weg.
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Incomincia la Comedia di Dante Alleghieri di Fiorenza, ne la quale tratta de le pene e punimenti de’ vizi e de’ meriti e premi de le virtù. Comincia il canto primo de la prima parte la quale si chiama Inferno, nel qual l’auttore fa proemio a tutta l’opera. | Es beginnt die Comedia von Dante Aleghieri aus Florenz, in der er von den Strafen und Bestrafungen der Sünden und von den Verdiensten und Belohnungen der Tugend handelt. Es beginnt der erste Gesang des ersten Teiles, der Hölle heißt, in dem der Autor das Vorwort zum ganzen Werk gibt. | ||
1 | Nel mezzo del cammin di nostra vita | In der Mitte des Weges unseres Lebens | |
2 | mi ritrovai per una selva oscura, | fand ich mich wieder in einem finsteren Wald, | la selva Wald |
3 | ché la diritta via era smarrita. | da der rechte Weg verloren war. | ché = perché |
Mit nostra vita meint Dante das Leben der Menschen im allgemeinen, dessen Länge er an anderer Stelle mit 70 Jahren angibt. Die Mitte/Hälfte wäre mit 35 Jahren, Dante ist 1265 geboren, 1265 + 35 = 1300. Der finstere Wald ist Symbol für die Verstrickung in die Sündhaftigkeit. | |||
4 | Ahi quanto a dir qual era è cosa dura | Weh, wie sehr ist, zu sagen, wie er war, eine schwere Sache, | |
5 | esta selva selvaggia e aspra e forte | dieser wilde und rauhe und starke Wald, | esta (lat. ista) = questa |
6 | che nel pensier rinova la paura! | dass es im Denken die Furcht erneuert! | che: od. relativ der...erneuert |
7 | Tant’è amara che poco è più morte; | So bitter ist sie, dass wenig bitterer ist Tod; | è amara: beziehe ich auf cosa V.4 (andere auf selva V.5 oder paura V.6), più erg. amara |
8 | ma per trattar del ben ch’i’ vi trovai, | aber um zu behandeln das Gute, das ich dort fand, | ch’i’ = che io |
9 | dirò de l’altre cose ch’i’ v’ ho scorte. | werde ich von den anderen Dingen sagen, die ich dort erblickt habe. | scorgere erblicken, bemerken |
10 | Io non so ben ridir com’i’ v’intrai, | Ich kann nicht gut wiedergeben, wie ich dort eintrat, | ridir = ri-dire, com’i’ v’ = come io vi, intrare = entrare |
11 | tant’era pien di sonno a quel punto | so voll Schlaf war ich an diesem Punkt, | |
12 | che la verace via abbandonai. | an dem ich den wahrhaftigen Weg verließ. | che = nel quale, od. konsek. (so)dass ich...verließ |
13 | Ma poi ch’i’ fui al piè d’un colle giunto, | Aber dann, als ich am Fuß eines Hügels angekommen war, | piè = piede, giungere ankommen, eintreffen |
14 | là dove terminava quella valle | dort wo jenes Tal endete, | |
15 | che m’avea di paura il cor compunto, | das mir mit Furcht das Herz durchbohrt hatte, | avea = aveva, cor = cuore, compungere stechen, quälen, betrüben |
Der Hügel symbolisiert die Tugendhaftigkeit oder die Erlösung von der Sünde in Christus (Kalvarienberg). | |||
16 | guardai in alto e vidi le sue spalle | da schaute ich nach oben und sah seine Schultern | |
17 | vestite già de’ raggi del pianeta | schon bekleidet von den Strahlen des Planeten, | pianeta: die Sonne |
18 | che mena dritto altrui per ogne calle. | der andere gerade führt auf jedem Pfad. | menare führen, dritto = diritto, il calle Gasse, Pfad |
Dichterische Umschreibung eines Sonnenaufgangs. Die Sonne drehte sich nach dem geozentrischen Weltbild wie die Planeten um die Erde und konnte daher auch als Planet bezeichnet werden. | |||
19 | Allor fu la paura un poco queta, | Da wurde die Furcht ein wenig ruhig, | queta = quieta |
20 | che nel lago del cor m’era durata | die mir im See des Herzens angedauert hatte, | |
21 | la notte ch’i’ passai con tanta pieta. | jene Nacht, die ich mit so großem Jammer verbrachte. | pietà (damit es sich reimt, ist hier piéta zu sprechen) Frömmigkeit, Mitleid; hier: bemitleidenswerte Lage, Jammer, Trauer, Schmerz |
22 | E come quei che con lena affannata, | Und wie jener, der mit atemlosem Eifer | quei = quegli |
23 | uscito fuor del pelago a la riva, | herausgekommen aus dem Meer zum Ufer, | a la = alla |
24 | si volge a l’acqua perigliosa e guata, | sich zum gefährlichen Wasser wendet und schaut, | periglioso = pericoloso, guatare ~ guardare |
Dante vergleicht sich hier mit einem Schiffbrüchigen, der nach dem Erreichen des Ufers auf das Wasser, dem er entronnen ist, zurückschaut. | |||
25 | così l’animo mio, ch’ancor fuggiva, | so mein Gemüt, das noch flüchtete, | |
26 | si volse a retro a rimirar lo passo | wandte sich zurück, anzuschauen den Durchgang, | a retro ~ indietro, rimirare anschauen, betrachten |
27 | che non lasciò già mai persona viva. | den noch niemals eine lebende Person verließ. | andere Übers.: der noch niemals eine Person lebend durchließ |
28 | Poi ch’èi posato un poco il corpo lasso, | Nachdem ich den müden Körper ein wenig ausgeruht hatte, | poi che = poiché od. dopoché, ch’èi posato un poco: v.l. ch’ebbi riposato |
29 | ripresi via per la piaggia diserta, | nahm ich den Weg über den verlassenen Hang wieder auf, | la piaggia Ufer, Hang, Böschung |
30 | sì che ’l piè fermo sempre era ’l più basso. | so dass der feste Fuß immer weiter unten war. | d.h. das Gewicht immer auf dem Talfuß, sprich: immer bergauf? |
31 | Ed ecco, quasi al cominciar de l’erta, | Und siehe, fast am Beginn der Steigung | cominciare hier Subst. |
32 | una lonza leggera e presta molto, | ein leichter und sehr flinker Leopard, | presto flink, gewandt |
33 | che di pel macolato era coverta; | der mit einem gefleckten Fell bedeckt war; | |
Der Leopard oder Panther symbolisiert die fleischliche Lust (wohl kaum die Guelfen, hier geht es nicht um Politik), vgl. 1Joh 2,16 ("Denn alles in der Welt, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und die Prahlerei des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt.") u. Jer 5,6 ("Darum schlägt sie der Löwe aus dem Wald, überfällt sie der Steppenwolf; der Pardel lauert an ihren Städten, so daß, wer sie verläßt, zerrissen wird; denn ihrer Übertretungen sind viele, und groß sind ihre Abweichungen!"). | |||
34 | e non mi si partia dinanzi al volto, | und er ging mir nicht weg vor dem Gesicht, | partia = partiva |
35 | anzi ’mpediva tanto il mio cammino, | vielmehr behinderte er so sehr meinen Weg, | |
36 | ch’i’ fui per ritornar più volte vòlto. | dass ich mehrmals umdrehte, um zurückzukehren. | ordne: fui volto per ritornare, vòlto Part.Perf. von volgere (i.Ggs. zu il volto V.34) |
37 | Temp’era dal principio del mattino, | Es war die Zeit am Beginn des Morgens, | dal p.: v.l. del |
38 | e ’l sol montava ’n sù con quelle stelle | und die Sonne stieg aufwärts mit jenen Sternen, | |
39 | ch’eran con lui quando l’amor divino | die mit ihr waren, als die göttliche Liebe | |
40 | mosse di prima quelle cose belle; | am Anfang jene schönen Dinge bewegte; | di prima ~ dapprima |
41 | sì ch’a bene sperar m’era cagione | daher hatte ich Grund, Gutes zu hoffen | la cagione Grund, Ursache |
42 | di quella fiera a la gaetta pelle | von jenem Raubtier mit dem lustigen Fell, | gaetto Dim. v. gaio fröhlich, lustig |
Nach der von Macrobius (Macr. somn. 1,21,23) mitgeteilten Überlieferung stand am Tag der Entstehung/Erschaffung der Sterne das Sternbild Widder mitten am Himmel. Das bedeutet, der Sternenhimmel ist im Frühling entstanden. (Der Frühlingspunkt, mit dessen Durchschreiten der Frühling beginnt, lag zum Zeitpunkt seiner Bestimmung in der Antike im Sternbild Widder und heißt daher auch Widderpunkt. Heute liegt er im Sternbild Fische, vgl. Purg. 1,21.) | |||
43 | l’ora del tempo e la dolce stagione; | der Tageszeit und der süßen Jahreszeit; | la dolce stagione: Frühling |
44 | ma non sì che paura non mi desse | aber nicht so, dass mir nicht Furcht einflößte | |
45 | la vista che m’apparve d’un leone. | der Anblick eines Löwen, der mir erschien. | |
Der Löwe ist vermutlich Sinnbild des Stolzes ("Prahlerei des Lebens"). | |||
46 | Questi parea che contra me venisse | Dieser schien mir entgegenzukommen | contra = contro |
47 | con la test’alta e con rabbiosa fame, | mit dem hohen Haupt und mit wütendem Hunger, | |
48 | sì che parea che l’aere ne tremesse. | sodass es schien, dass die Luft davon zitterte. | |
49 | Ed una lupa, che di tutte brame | Und eine Wölfin, die mit allen Begierden | la brama Begierde, Verlangen |
50 | sembiava carca ne la sua magrezza, | beladen schien in ihrer Magerkeit, | sembiare = sembrare, carco = carico, ne la = nella |
51 | e molte genti fé già viver grame, | und viele Leute machte sie schon traurig leben. | fé = fece, gramo traurig |
Die Wölfin ist Sinnbild der Gier und des Geizes. | |||
52 | questa mi porse tanto di gravezza | Diese gereichte mir zu so großer Bürde | |
53 | con la paura ch’uscia di sua vista, | mit der Furcht, die von ihrem Antlitz ausging, | d.h. die ihr Antlitz verursachte |
54 | ch’io perdei la speranza de l’altezza. | dass ich die Hoffnung auf den Gipfel verlor. | |
55 | E qual è quei che volontieri acquista, | Und wie jener ist, der gerne Gewinn macht, | volont- = volent- |
56 | e giugne ’l tempo che perder lo face, | und die Zeit kommt, die ihn verlieren lässt, | face = fa (3.Sg. v. fare) |
57 | che ’n tutti suoi pensier piange e s’attrista; | der in allen seinen Gedanken weint und betrübt ist; | v.l. tutt’i suoi |
58 | tal mi fece la bestia sanza pace, | so machte mich das Untier friedlos, | sanza = senza |
59 | che, venendomi ’ncontro, a poco a poco | das, mir entgegenkommend, allmählich | |
60 | mi ripigneva là dove ’l sol tace. | mich dorthin drängte, wo die Sonne schweigt. | ripigneva (v.l. ripingeva) = respingeva, schweigt: d.h. wo kein Tageslicht hinkommt, wo es finster ist |
61 | Mentre ch’i’ rovinava in basso loco, | Während ich hinabstürzte in den niederen Ort, | loco = luogo |
62 | dinanzi a li occhi mi si fu offerto | bot sich mir vor den Augen (einer), | a li = agli |
63 | chi per lungo silenzio parea fioco. | der vom langen Schweigen leise schien. | |
64 | Quando vidi costui nel gran diserto, | Als ich diesen sah in der großen Einöde, | |
65 | "Miserere di me", gridai a lui, | schrie ich zu ihm: "Erbarme dich meiner, | |
66 | "qual che tu sii, od ombra od omo certo!". | wer immer du sein magst, entweder Schatten oder wahrer Mensch!" | qual che ~ chiunque, omo = uomo |
67 | Rispuosemi: "Non omo, omo già fui, | Er antwortete mir: "Kein Mensch, Mensch bin ich früher gewesen, | rispuose = rispose |
68 | e li parenti miei furon lombardi, | und meine Eltern waren Lombarden, | parenti = genitori |
69 | mantoani per patrïa ambedui. | Mantuaner von Heimatstadt beide. | ambedui (v.l. amendui) = ambedue |
Vergil stammte aus dem Dorf Andes bei Mantua, das Dante (purg. 18,83) mit dem heutigen Vorort Pietole gleichsetzte. | |||
70 | Nacqui sub Iulio, ancor che fosse tardi, | Geboren wurde ich unter Julius (Cäsar), wenn es auch spät war, | sub Iulio: Latein; ancor che = ancorché obwohl, wenn auch |
71 | e vissi a Roma sotto ’l buono Augusto | und ich lebte in Rom unter dem guten Augustus | |
72 | nel tempo de li dèi falsi e bugiardi. | in der Zeit der falschen und lügnerischen Götter. | |
Vergil wurde 70 v.Chr. unter dem Konsulat des Pompeius und Crassus geboren. Cäsar war erst 59 Konsul und seit 46 Diktator. Sub Iulio kann demnach nur bedeuten, dass Vergil zu Cäsars Lebzeiten geboren wurde. Spät wohl deshalb, da Vergil beim Tod Cäsars 25 Jahre alt war. Augustus lebte von 63 v. bis 14 n.Chr, er herrschte de facto seit 29. Vergil starb 19 v.Chr, von der Herrschaft des Augustus erlebte er kaum 10 Jahre. Auch sotto Augusto bedeutet wohl: zu Augustus' Lebzeiten. | |||
73 | Poeta fui, e cantai di quel giusto | Ich war Dichter und sang von jenem gerechten | |
74 | figliuol d’Anchise che venne di Troia, | Sohn des Anchises, der von Troia kam, | |
75 | poi che ’l superbo Ilïón fu combusto. | nachdem das stolze Ilion verbrannt war. | poi che s. V.28 |
Die Rede ist von Vergils Hauptwerk Äneis, in der das Schicksal des trojan. Königssohnes Äneas erzählt wird, der dem brennenden Troia entkommt und nach abenteuerlicher Fahrt in Italien landet und zum Ahnvater der Römer wird. | |||
76 | Ma tu perché ritorni a tanta noia? | Aber du, warum kehrst du zurück zu solchem Verdruss? | |
77 | perché non sali il dilettoso monte | Warum besteigst du nicht den ergötzlichen Berg, | |
78 | ch’è principio e cagion di tutta gioia?". | der Anfang und Ursache aller Freude ist?" | |
79 | "Or se’ tu quel Virgilio e quella fonte | "Dann bist du jener Vergil und jene Quelle, | |
80 | che spandi di parlar sì largo fiume?", | der du einen so breiten Fluß von Rede verströmst?" | spandi: v.l. spande, parlar: hier wohl Subst. |
81 | rispuos’io lui con vergognosa fronte. | antwortete ich ihm mit schamhafter Stirn. | |
82 | "O de li altri poeti onore e lume, | "Oh der anderen Dichter Ruhm und Licht, | |
83 | vagliami ’l lungo studio e ’l grande amore | Es helfe mir das lange Studium und die große Liebe, | vaglia = valga? (valere) |
84 | che m’ ha fatto cercar lo tuo volume. | die mich deinen Band erforschen ließ. | ha: v.l. han (=hanno) |
85 | Tu se’ lo mio maestro e ’l mio autore, | Du bist mein Lehrer und mein Vorbild, | |
86 | tu se’ solo colui da cu’ io tolsi | die bist allein derjenige, von dem ich genommen habe | |
87 | lo bello stilo che m’ ha fatto onore. | den schönen Stil, der mir Ehre eingebracht hat. | |
88 | Vedi la bestia per cu’ io mi volsi; | Sieh das Untier, dessentwegen ich mich abwandte; | |
89 | aiutami da lei, famoso saggio, | hilf mir gegen es, berühmter Weiser, | |
90 | ch’ella mi fa tremar le vene e i polsi". | da jenes mir die Adern und die Pulse zittern lässt." | ch’ = poiché? |
91 | "A te convien tenere altro vïaggio", | "Du musst einen anderen Weg nehmen", | |
92 | rispuose, poi che lagrimar mi vide, | antwortete er, da er mich weinen sah, | |
93 | "se vuo’ campar d’esto loco selvaggio; | "wenn du von diesem wilden Ort entrinnen willst; | campare sich durchschlagen, sich retten, entkommen |
94 | ché questa bestia, per la qual tu gride, | denn dieses Tier, dessentwegen du schreist, | gride = gridi |
95 | non lascia altrui passar per la sua via, | lässt niemanden auf seinem Weg vorbeigehen, | |
96 | ma tanto lo ’mpedisce che l’uccide; | sondern hindert ihn so sehr, dass es ihn tötet. | |
97 | e ha natura sì malvagia e ria, | Und es hat eine so böse und schuldige Natur, | |
98 | che mai non empie la bramosa voglia, | dass es seine gierige Lust niemals stillt, | |
99 | e dopo ’l pasto ha più fame che pria. | und nach der Mahlzeit hat es mehr Hunger als zuvor. | |
100 | Molti son li animali a cui s’ammoglia, | Zahlreich sind die Tiere, mit denen es sich paart, | |
101 | e più saranno ancora, infin che ’l veltro | und es werden noch mehr sein, bis der Jagdhund | |
102 | verrà, che la farà morir con doglia. | kommen wird, der es mit Schmerzen sterben lassen wird. | |
Bedeutung unklar. Der Jagdhund ist Umschreibung für irgendeine Rettergestalt. Ob Dante da an eine konkrete historische Persönlichkeit dachte oder (da die Gier, die die Wölfin symbolisiert, zur sündhaften Natur des Menschen gehört und daher nur von Christus überwunden kann) an Christus, wurde viel diskutiert. | |||
103 | Questi non ciberà terra né peltro, | Dieser wird sich nicht ernähren von Land noch Zinn, | il petro: Zinn, hier im Sinne von Silber, Geld |
104 | ma sapïenza, amore e virtute, | sondern von Weisheit, Liebe und Tugend, | virtute = virtù |
105 | e sua nazion sarà tra feltro e feltro. | und sein Reich wird sein zwischen Filz und Filz. | Reich: nach anderen Herkunft, Geburtsort |
Filz: Viele Ausleger fassen feltro als Eigenname und verstehen darunter (z.B.) die Stadt Feltre (in Venetien) und die histor. Landschaft Montefeltro (in Marken). Insgesamt bleibt ziemlich unklar, worauf Dante hier anspielt. | |||
106 | Di quella umile Italia fia salute | Er wird die Heilung jenes bescheidenen Italiens sein, | fia = sarà |
107 | per cui morì la vergine Cammilla, | für das die Jungfrau Camilla starb, | |
108 | Eurialo e Turno e Niso di ferute. | Euryalus und Turnus und Nisus an Verletzungen. | feruta = la ferita Verletzung, Wunde |
Camilla, Nisus, Euryalus und Turnus sind mythische Beispiele aus Vergils Äneis. | |||
109 | Questi la caccerà per ogne villa, | Dieser wird es durch jede Stadt jagen, | villa: hier = città |
110 | fin che l’avrà rimessa ne lo ’nferno, | bis er es in die Hölle zurückgebracht hat, | fin che = finché, ne lo = nello |
111 | là onde ’nvidia prima dipartilla. | von wo Neid es einst vertrieben hatte. | dipartilla = dipartì+la |
112 | Ond’io per lo tuo me’ penso e discerno | Deshalb denke und erkenne ich zu deinem Besten, | me’ = meglio |
113 | che tu mi segui, e io sarò tua guida, | dass du mir folgst, und ich werde dein Führer sein, | |
114 | e trarrotti di qui per loco etterno; | und werde dich von hier zum ewigen Ort führen; | trarrotti=trarrò+ti |
115 | ove udirai le disperate strida, | dort wirst du die verzweifelten Schreie hören, | |
116 | vedrai li antichi spiriti dolenti, | wirst die alten schmerzvollen Geister sehen, | |
117 | ch’a la seconda morte ciascun grida; | die alle zum zweiten Tod schreien. | ch’a: v.l. che (also gridare mit direktem Obj.) |
Der ewige Ort ist die Hölle (Inferno). Der zweite Tod ist ein Ausdruck aus der Johannesapokalypse für die ewige Verdammnis (Offb 20,6.14f). Egal ob gridare hier mit direktem Obj. oder mit a konstruiert ist, kann es nur soviel bedeuten wie "beklagen, jammern über". | |||
118 | e vederai color che son contenti | Und du wirst jene sehen, die zufrieden sind | |
119 | nel foco, perché speran di venire | im Feuer, weil sie hoffen zu kommen, | |
120 | quando che sia a le beate genti. | wann immer es sein wird, zu den seligen Leuten. | quando che ~ quandunque |
121 | A le quai poi se tu vorrai salire, | Wenn du dann zu diesen aufsteigen möchtest, | quai (v.l. qua’) = quali |
122 | anima fia a ciò più di me degna: | wird eine Seele dafür (da)sein, die würdiger ist als ich: | fia s. V.106 |
123 | con lei ti lascerò nel mio partire; | mit ihr werde ich dich bei meinem Abschied zurücklassen. | |
Gemeint ist Beatrice, die Dante durchs Paradies führen wird. | |||
124 | ché quello imperador che là sù regna, | Denn jener Kaiser, der dort oben herrscht, | imperador = imperatore, là sù = lassù |
125 | perch’i’ fu’ ribellante a la sua legge, | da ich mich seinem Gesetz widersetzt habe, | |
126 | non vuol che ’n sua città per me si vegna. | will nicht, dass man durch mich in seine Stadt kommt. | vegna = venga (venire); andere Übers.: dass von mir in seine Stadt gekommen wird (d.h. dass ich sie betrete) |
Vergil galt zwar (wegen seiner vierten Ekloge, in der Christen eine Ankündigung Christi erkennen konnten) in gewisser Weise als Prophet, nahm aber am Kult der "falschen und lügnerischen Götter" (V.72) teil. Daher darf er zwar Dante durch die Hölle und das Fegefeuer führen, aber nicht durch das Paradies. | |||
127 | In tutte parti impera e quivi regge; | In allen Teilen herrscht er und regiert dort; | |
128 | quivi è la sua città e l’alto seggio: | dort ist seine Stadt und der hohe Sitz: | quivi ~ ivi |
129 | oh felice colui cu’ ivi elegge!". | oh glücklich derjenige, den er dorthin auserwählt!" | |
130 | E io a lui: "Poeta, io ti richeggio | Und ich zu ihm: "Dichter, ich bitte dich | richeggio = richiedo |
131 | per quello Dio che tu non conoscesti, | bei jenem Gott, den du nicht kanntest, | |
132 | acciò ch’io fugga questo male e peggio, | damit ich entfliehe diesem Übel und schlimmerem, | acciò che = acciocché auf dass, damit |
133 | che tu mi meni là dov’or dicesti, | dass du mich dahin führst, wo du gerade sagtest, | |
134 | sì ch’io veggia la porta di san Pietro | so dass ich die Pforte des heiligen Petrus sehe | veggia (v.l. vegga) = veda |
135 | e color cui tu fai cotanto mesti". | und diejenigen, die du so sehr traurig sein lässt. | cui (v.l. che): hier Akk.Pl.Mask. des Rel.-Pron., fai mesti: wörtl. "du machst traurig" im Sinne von "du sagst, dass sie traurig sind" |
Das Tor des Hl. Petrus ist nach allgemeiner Auffassung der Läuterungsberg (Purgatorium). | |||
136 | Allor si mosse, e io li tenni dietro. | Dann setzte er sich in Bewegung, und ich hielt mich hinter ihm. |
Gustave Doré: Charon sammelt die Seelen in sein Boot.
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Canto terzo, nel quale tratta de la porta e de l’entrata de l’inferno e del fiume d’Acheronte, de la pena di coloro che vissero sanza opere di fama degne, e come il demonio Caron li trae in sua nave e come elli parlò a l’auttore; e tocca qui questo vizio ne la persona di papa Cilestino. | Dritter Gesang, in dem er vom Tor und dem Eingang der Hölle handelt und vom Fluss Acheron, von der Strafe derjenigen, die ohne ruhmwürdige Werke gelebt haben, und wie der Dämon Charon sie in sein Schiff zieht und wie er zum Autor sprach; und er berührt hier diese Sünde an der Person des Papstes Cölestin. | elli = egli | |
1 | »Per me si va ne la città dolente, | »Durch mich geht man in die schmerzvolle Stadt, | |
2 | per me si va ne l'etterno dolore, | durch mich geht man in den ewigen Schmerz, | |
3 | per me si va tra la perduta gente. | durch mich geht man unter das verlorene Volk. | |
4 | Giustizia mosse il mio alto fattore; | Gerechtigkeit bewegte meinen hohen Erbauer; | il fattore Macher, Schöpfer; alto: v.l. almo |
5 | fecemi la divina podestate, | es machte mich die göttliche Gewalt, | podestate (vl.l. pot-) = potestà |
6 | la somma sapïenza e ’l primo amore. | die höchste Weisheit und die erste Liebe. | |
7 | Dinanzi a me non fuor cose create | Vor mir gab es keine geschaffenen Dinge, | fuor = furono |
8 | se non etterne, e io etterno duro. | nur ewige, und ich dauere ewig. | |
9 | Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate.« | Lasst jede Hoffnung zurück, ihr, die ihr eintretet.« | |
Die Inschrift über dem Eingang zur Hölle. Das wohl bekannteste Zitat aus der Commedia ist V.9. Die Hölle wurde also noch vor der Erschaffung von Himmel und Erde geschaffen. | |||
10 | Queste parole di colore oscuro | Diese Worte von dunkler Farbe | |
11 | vid’ïo scritte al sommo d’una porta; | sah ich geschrieben über einem Tor; | al sommo wörtl.: auf dem höchsten Punkt, auf der Spitze, auf dem Gipfel |
12 | per ch’io: "Maestro, il senso lor m’è duro". | weshalb ich (sagte): "Meister, ihr Sinn ist mir hart." | |
13 | Ed elli a me, come persona accorta: | Und er zu mir wie eine umsichtige Person: | elli = egli |
14 | "Qui si convien lasciare ogne sospetto; | "Hier muss man von jedem Argwohn lassen; | |
15 | ogne viltà convien che qui sia morta. | jede Feigheit muss hier sterben. | |
16 | Noi siam venuti al loco ov’i’ t’ ho detto | Wir sind zu dem Ort gekommen, wo ich dir sagte, | |
17 | che tu vedrai le genti dolorose | dass du die schmerzerfüllten Leute sehen wirst, | |
18 | c’ hanno perduto il ben de l’intelletto". | die das Gut der Erkenntnis verloren haben." | |
19 | E poi che la sua mano a la mia puose | Und nachdem er seine Hand auf meine gelegt hatte | puose = pose |
20 | con lieto volto, ond’io mi confortai, | mit freudigem Gesicht, womit ich mich tröstete, | |
21 | mi mise dentro a le segrete cose. | brachte er mich hinein in die geheimen Dinge. | |
22 | Quivi sospiri, pianti e alti guai | Dort Seufzer, Weinen und hohe Weherufe | |
23 | risonavan per l’aere sanza stelle, | erschallten durch die sternenlose Luft, | aer(e) = aria |
24 | per ch’io al cominciar ne lagrimai. | weswegen ich anfangs darüber weinte. | |
25 | Diverse lingue, orribili favelle, | Verschiedene Zungen, schreckliche Sprachen, | Zungen: d.h. Sprachen |
26 | parole di dolore, accenti d’ira, | Worte des Schmerzes, Äußerungen des Zorns, | |
27 | voci alte e fioche, e suon di man con elle | hohe und matte Stimmen, und Klang von Händen mit ihnen | Klang von Händen: das Geräusch klatschender oder schlagender Hände? |
28 | facevano un tumulto, il qual s’aggira | machten einen Aufruhr, der kreiste | |
29 | sempre in quell’aura sanza tempo tinta, | immer in jener zeitlos dunklen Luft | aura bei Dante = aria, tinto gefärbt (PP v. tingere), bei Dante oft dunkel, finster, zeitlos: immer, auf ewig |
30 | come la rena quando turbo spira. | wie der Sand, wenn ein Wirbelwind bläst. | turbo = turbine |
31 | E io ch’avea d’error la testa cinta, | Und ich, der ich das Haupt von Irrtum umhüllt hatte, | error Unwissenheit, Verwirrung, andere lesen: orror Grauen |
32 | dissi: "Maestro, che è quel ch’i’ odo? | sagte: "Meister, was ist das, was ich höre? | |
33 | e che gent’è che par nel duol sì vinta?". | Und welche Leute sind es, die so von der Pein überwältigt scheinen?" | duolo ~ dolore |
34 | Ed elli a me: "Questo misero modo | Und er zu mir: "Diese elende Lebensweise | |
35 | tegnon l’anime triste di coloro | führen die traurigen Seelen jener, | tegnon = tengono (tenere), tristo = triste (hier unglückselig) |
36 | che visser sanza ’nfamia e sanza lodo. | die ohne Niedertracht und ohne Lob gelebt haben. | ’nfamia: v.l. fama Ruhm, lodo = lode |
Es sind die Halbherzigen, die zwar nicht wirklich böse waren, sich aber auch nicht für das Gute entscheiden konnten. Offb 3,15f nennt diese Menschen lau (weder heiß noch kalt). In der Entscheidung zwischen Gut und Böse gibt es keine neutrale Position. | |||
37 | Mischiate sono a quel cattivo coro | Sie sind vermischt mit jenem üblen Chor | |
38 | de li angeli che non furon ribelli | der Engel, die nicht rebellisch waren, | |
39 | né fur fedeli a Dio, ma per sé fuoro. | noch Gott treu waren, sondern für sich blieben. | fur und fuoro (v.l. fôro) = furono (s.a. V.7) |
In dem (biblisch nicht bezeugten) Abfall einer Gruppe von Engel von Gott blieben einige offenbar abwartend. Doch hier gilt Jesu Dictum: Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich (Mt 12,30). | |||
40 | Caccianli i ciel per non esser men belli, | Die Himmel weisen sie ab, um nicht weniger schön zu sein, | |
41 | né lo profondo inferno li riceve, | noch nimmt sie die tiefe Hölle auf, | |
42 | ch’alcuna gloria i rei avrebber d’elli". | damit die Schuldigen keine Ehre von ihnen haben." | alcuna wird von den meisten als nessuna (wie frz. aucun) verstanden. |
43 | E io: "Maestro, che è tanto greve | Und ich: "Meister, was ist so schwer | greve = grave |
44 | a lor che lamentar li fa sì forte?". | für sie, dass es sie so sehr klagen lässt?" | |
45 | Rispuose: "Dicerolti molto breve. | Er antwortete: "Ich werde es dir ganz kurz sagen. | dicerolti = te lo dirò |
46 | Questi non hanno speranza di morte, | Diese haben keine Hoffnung auf den Tod, | |
47 | e la lor cieca vita è tanto bassa, | und ihr blindes Leben ist so niedrig, | |
48 | che ’nvidïosi son d’ogne altra sorte. | dass sie neidisch sind auf jedes andere Schicksal. | |
49 | Fama di loro il mondo esser non lassa; | Die Welt lässt keinen Ruhm von ihnen übrig; | lassare: Nbf. v. lasciare; d.h. die Erinnerung an sie erlischt |
50 | misericordia e giustizia li sdegna: | Mitleid und Gerechtigkeit verwirft sie: | sie verdienen weder Mitleid noch Strafe |
51 | non ragioniam di lor, ma guarda e passa". | Sprechen wir nicht über sie, sondern schau und geh vorbei." | |
52 | E io, che riguardai, vidi una ’nsegna | Und ich, als ich zurückschaute, sah ein Zeichen, | l’insegna Zeichen, Fahne, Wappen |
53 | che girando correva tanto ratta, | das kreisend so schnell lief, | kreisend: unklar, ob sich um die eigene Achse drehend oder im Kreis laufend, ratto = rapido |
54 | che d’ogne posa mi parea indegna; | dass es mir jeder Ruhe zu widerstreben schien; | posa = riposo Ruhe, indegno hier ~ indignato unwillig |
55 | e dietro le venìa sì lunga tratta | und hinter ihm kam ein so langer Trupp | venìa = veniva (nicht la vènia) |
56 | di gente, ch’i’ non averei creduto | von Menschen, dass ich nicht geglaubt hatte, | averei: v.l. avrei mai |
57 | che morte tanta n’avesse disfatta. | dass der Tod so viele zerstört hatte. | |
Es geht um Menschen, die, offenbar ohne nachzudenken, mit der Masse mitlaufen. Ob Dante an eine bestimmte Fahne dachte, kann ich nicht sagen. | |||
58 | Poscia ch’io v’ebbi alcun riconosciuto, | Als ich sodann dort manchen wiedererkannte, | oder: als ich...jemanden wiedererkannte |
59 | vidi e conobbi l’ombra di colui | sah und erkannte ich den Schatten von jenem, | v.l. guardai e vidi schaute und sah ich |
60 | che fece per viltade il gran rifiuto. | der aus Feigheit die große Weigerung begangen hatte. | viltade = viltà |
Dante meint möglicherweise Pietro Angelerio (auch bekannt als Pietro del Murrone), der 1294 nach anfänglicher Flucht nur widerstrebend die Wahl zum Papst als Cölestin V. angenommen hatte, nach 5 Monaten aber bereits wieder zurücktrat (bis 2013 als einziger Papst der Kirchengeschichte überhaupt). Allerdings war der rund 80jährige wenig gebildete Mönch und Einsiedler mit dem Amt hoffnungslos überfordert. Ein so negatives Urteil wurde nur von wenigen geteilt, denn Pietro galt als heiligmäßiger Mann; daher wurde nach anderen Identifikationen gesucht, z.B. Pontius Pilatus. | |||
61 | Incontanente intesi e certo fui | Sogleich verstand ich und war sicher, | intendere verstehen |
62 | che questa era la setta d’i cattivi, | dass dies die Gemeinschaft der Schlechten war, | la setta Partei, Lehre, Sekte, d’i: v.l. de’ |
63 | a Dio spiacenti e a’ nemici sui. | die Gott missfallen und seinen Feinden. | spiacente = dispiacente |
64 | Questi sciaurati, che mai non fur vivi, | Diese Unglückseligen, die niemals lebendig waren, | sciaurato = sciagurato unglückselig, fur s. V.39 |
65 | erano ignudi e stimolati molto | waren nackt und sehr herumgetrieben | |
66 | da mosconi e da vespe ch’eran ivi. | von Bremsen und von Wespen, die dort waren. | |
67 | Elle rigavan lor di sangue il volto, | Jene besprengten ihnen das Gesicht mit Blut, | rigare ~ irrigare berieseln, besprengen, begießen |
68 | che, mischiato di lagrime, a’ lor piedi | das, mit Tränen vermischt, zu ihren Füßen | |
69 | da fastidiosi vermi era ricolto. | von lästigen Würmern getrunken wurde. | ricogliere ~ raccogliere |
70 | E poi ch’a riguardar oltre mi diedi, | Und dann, als ich begann, wieder weiter zu schauen, | |
71 | vidi genti a la riva d’un gran fiume; | sah ich Leute am Ufer eines großen Flusses; | |
72 | per ch’io dissi: "Maestro, or mi concedi | deshalb sagte ich: "Meister, gewähre mir jetzt | |
73 | ch’i’ sappia quali sono, e qual costume | zu wissen, wer sie sind und welche Sitte | |
74 | le fa di trapassar parer sì pronte, | sie so bereit erscheinen lässt hinüberzufahren, | v.l. le fa parer di trapassar |
75 | com’i’ discerno per lo fioco lume". | wie ich erkenne bei dem schwachen Licht." | |
76 | Ed elli a me: "Le cose ti fier conte | Und er zu mir: "Die Dinge werden dir bekannt sein, | fier (v.l. fien) = saranno, conto = conosciuto |
77 | quando noi fermerem li nostri passi | wenn wir unsere Schritte anhalten werden | |
78 | su la trista riviera d’Acheronte". | auf dem traurigen Ufer des Acheron." | |
Acheron ist einer der Unterweltsflüsse der griech. Mythologie. | |||
79 | Allor con li occhi vergognosi e bassi, | Da mit beschämten und niedergeschlagenen Augen, | |
80 | temendo no ’l mio dir li fosse grave, | aus Furcht, dass mein Reden ihm schwer sei, | no: nach Vb. des Fürchtens dass (wie lat. timeo ne) |
81 | infino al fiume del parlar mi trassi. | enthielt ich mich des Redens bis zum Fluss. | del: v.l. dal |
82 | Ed ecco verso noi venir per nave | Und siehe, auf uns zu kam zu Schiff | |
83 | un vecchio, bianco per antico pelo, | ein Alter, weiß vor altem Haar, | |
84 | gridando: "Guai a voi, anime prave! | und schrie: "Wehe euch, schlechte Seelen! | pravo schlecht, böse |
85 | Non isperate mai veder lo cielo: | Hofft nicht, jemals den Himmel zu sehen: | isperare = sperare |
86 | i’ vegno per menarvi a l’altra riva | ich komme, um euch ans andere Ufer zu führen, | vegno = vengo |
87 | ne le tenebre etterne, in caldo e ’n gelo. | in die ewige Finsternis, in Hitze und in Frost. | |
88 | E tu che se’ costì, anima viva, | Und du, der du dort bist, lebendige Seele, | |
89 | pàrtiti da cotesti che son morti". | geh weg von denen, die tot sind." | partirsi ~ partire, andarsene |
90 | Ma poi che vide ch’io non mi partiva, | Aber als er sah, dass ich nicht wegging, | |
91 | disse: "Per altra via, per altri porti | sagte er: "Auf anderem Weg, über andere Häfen | v.l. per altre vie auf anderen Wegen |
92 | verrai a piaggia, non qui, per passare: | wirst du zum Ufer kommen, nicht hier, um überzusetzen: | la piaggia Hang, Ufer |
93 | più lieve legno convien che ti porti". | leichteres Holz muss dich tragen." | |
94 | E ’l duca lui: "Caron, non ti crucciare: | Und der Führer zu ihm: "Charon, entrüste dich nicht, | il duca Führer |
95 | vuolsi così colà dove si puote | man will es so dort, wo man kann, | puote = può |
96 | ciò che si vuole, e più non dimandare". | was man will, und mehr frage nicht." | |
Charon war in der griech. Mythologie der Fährmann, der die Toten über den Unterweltsfluss in den Hades brachte. | |||
97 | Quinci fuor quete le lanose gote | Da waren die wolligen Wangen still | la gota Wange |
98 | al nocchier de la livida palude, | dem Steuermann des fahlen Sumpfes, | il nocchiero Steuermann, lìvido blass(blau), bleich |
99 | che ’ntorno a li occhi avea di fiamme rote. | der um die Augen herum Flammenräder hatte. | rota = ruota (v.l.) |
100 | Ma quell’anime, ch’eran lasse e nude, | Aber jene Seelen, die müde und nackt waren, | |
101 | cangiar colore e dibattero i denti, | wechselten die Farbe und klapperten mit den Zähnen, | cangiàr = cangiarono (cangiare ~ cambiare) |
102 | ratto che ’nteser le parole crude. | sobald sie die rohen Worte vernahmen. | ratto che: v.l. tosto che, beides bedeutet sobald |
103 | Bestemmiavano Dio e lor parenti, | Sie verfluchten Gott und ihre Eltern, | |
104 | l’umana spezie e ’l loco e ’l tempo e ’l seme | das Menschengeschlecht und den Ort und die Zeit und den Samen | |
105 | di lor semenza e di lor nascimenti. | ihrer Abkunft und ihrer Geburt. | la semenza Saatgut; Herkunft, Geschlecht, nascimento = nàscita |
106 | Poi si ritrasser tutte quante insieme, | Dann versammelten sie sich alle miteinander zusammen, | |
107 | forte piangendo, a la riva malvagia | laut weinend, zum bösen Ufer, | |
108 | ch’attende ciascun uom che Dio non teme. | das jeden Menschen erwartet, der Gott nicht fürchtet. | |
109 | Caron dimonio, con occhi di bragia | Dämon Charon, mit Glutaugen | dimonio = demonio Teufel, Dämon |
110 | loro accennando, tutte le raccoglie; | ihnen deutend, sammelt sie alle; | |
111 | batte col remo qualunque s'adagia. | er schlägt mit dem Ruder jeden, der säumt. | adagiarsi ~ indugiare (hinaus)zögern |
112 | Come d’autunno si levan le foglie | Wie sich im Herbst die Blätter aufmachen, | d’autunno: nell tempo dell’autunno |
113 | l’una appresso de l’altra, fin che ’l ramo | eines nach dem anderen, bis der Zweig | |
114 | vede a la terra tutte le sue spoglie, | auf der Erde alle seine Gewänder sieht, | vede: v.l. rende der Erde... zurückgibt |
115 | similemente il mal seme d’Adamo | ähnlich der böse Same Adams, | Same: hier die Nachkommenschaft |
116 | gittansi di quel lito ad una ad una, | sie werfen sich von jenem Ufer einzeln | gittare = gettare, il lito Ufer |
117 | per cenni come augel per suo richiamo. | auf Zeichen hin wie ein Vogel auf seinen Ruf. | augel(lo) ~ uccello, il richiamo Ruf |
Der erste Vergleich besagt: wie im Herbst der Baum nach und nach seine Blätter verliert, so leert sich das Ufer von Seelen, da sie auf das Schiff des Charon springen. Der zweite Vergleich sagt, dass die Seelen auf Zeichen hin springen, so wie der Falke auf einen speziellen ("seinen") Ruf hin zurückkommt. | |||
118 | Così sen vanno su per l’onda bruna, | So fahren sie hinüber über die braune Woge, | sen = se ne, hinüber: wörtl. hinauf |
119 | e avanti che sien di là discese, | und bevor sie drüben ausgestiegen sind, | sien = sìano |
120 | anche di qua nuova schiera s’auna. | versammelt sich herüben auch schon eine neue Schar. | la schiera Schar, aunare = adunare (v.l.) |
121 | "Figliuol mio", disse 'l maestro cortese, | "Mein Sohn", sagte der freundliche Meister, | |
122 | "quelli che muoion ne l'ira di Dio | "jene, die im Zorn Gottes sterben, | im Zorn Gottes: d.h. ohne dass sie Buße getan und so das Angebot der Erlösung durch Jesus angenommen haben |
123 | tutti convegnon qui d'ogne paese; | die kommen alle hier zusammen aus jedem Land; | |
124 | e pronti sono a trapassar lo rio, | und sie sind bereit, den Fluss zu überqueren, | |
125 | ché la divina giustizia li sprona, | da die göttliche Gerechtigkeit sie drängt, | |
126 | sì che la tema si volve in disio. | sodass die Furcht sich wendet in Verlangen. | volvere = volgere, disio = desiderio |
Obwohl die Verdammten sich vor der Hölle fürchten, treibt die Erkenntnis von der Gerechtigkeit Gottes sie dazu, sich nach dieser Strafe zu sehnen. | |||
127 | Quinci non passa mai anima buona; | Hierher kommt niemals eine gute Seele; | oder: von hier fährt niemals... hinüber |
128 | e però, se Caron di te si lagna, | und dennoch, wenn Charon sich über dich beklagt, | |
129 | ben puoi sapere omai che ’l suo dir suona". | kannst du jetzt wohl wissen, was seine Rede bedeutet." | omai = ormai |
Das Schimpfen Charons über Dantes Anwesenheit an diesem Ort bedeutet, dass Dante eine gute Seele ist und nicht in die Hölle kommen wird. | |||
130 | Finito questo, la buia campagna | Dieses vollendet, das finstere Land | |
131 | tremò sì forte, che de lo spavento | bebte so heftig, dass vor Schreck | |
132 | la mente di sudore ancor mi bagna. | mich jetzt noch der Geist von Schweiß durchnässt. | De Marzo erklärt: La mente dello spavento, è usato per la memoria dello spavento, "die Erinnerung an den Schrecken" |
133 | La terra lagrimosa diede vento, | Die tränenreiche Erde ließ einen Wind wehen, | |
134 | che balenò una luce vermiglia | dass ein rotes Licht aufblitzte | che: v.l. e |
135 | la qual mi vinse ciascun sentimento; | das mir jede Empfindung überwältigte; | |
136 | e caddi come l’uom cui sonno piglia. | und ich fiel hin wie der Mann, den Schlaf packt. |
Giovanni Boccaccio (1313-1375) wurde in Florenz geboren, verbrachte seine Jugendjahre in Neapel und wirkte seit 1340 wieder überwiegend in Florenz. Er verfasste Werke auf Ital. und (seit den 1350er Jahren) auf Latein. Sein bedeutendstes Opus ist die in den Jahren nach der Pest (1349-1353) verfasste Novellensammlung Il Decameron(e) (der Titel bedeutet etwa soviel wie "Zehn-Tage(-Werk)"). Sieben Mädchen und drei Jünglinge sind vor der Pest in ein Landhaus geflüchtet und erzählen sich 10 Tage lang Geschichten. Erstaunlich für den modernen Leser ist, wieviele der Geschichten sich um verbotenen Sex (Priester, Nonnen, Ehebruch) drehen.
Zur Sprache Boccaccios sei noch angemerkt:
Melchisedech giudeo, con una novella di tre anella, cessa un gran pericolo dal Saladino apparecchiatogli. | Der Jude Melchisedek beendet mit einer Geschichte über drei Ringe eine große Gefahr, die ihm von Saladin bereitet worden war. |
Saladin: Salah ad-Din (1137/1138-1193), Begründer der Ayyubiden-Dynastie, Sultan von Ägypten, eroberte 1187 Jerusalem von den Christen zurück. | |
Poiché, commendata da tutti la novella di Neifile, ella si tacque, come alla reina piacque, Filomena così cominciò a parlare. | Als die Geschichte der Neifile von allen gelobt wurde und sie schwieg, begann Filomena so, wie es der Königin gefiel, zu sprechen. |
reina = regina (frz. reine), die Königin ist jenes Mädchen, das für den jeweiligen Tag das Thema und die Reihenfolge der Erzähler bestimmt. | |
La novella da Neifile detta mi ritorna a memoria il dubbioso caso già avvenuto ad un giudeo. Per ciò che già e di Dio e della verità della nostra fede è assai bene stato detto, il discendere oggimai agli avvenimenti e agli atti degli uomini non si dovrà disdire; e a narrarvi quella verrò, la quale udita, forse più caute diverrete nelle risposte alle quistioni che fatte vi fossero. Voi dovete, amorose compagne, sapere che, sì come la sciocchezza spesse volte trae altrui di felice stato e mette in grandissima miseria, così il senno di grandissimi pericoli trae il savio e ponlo in grande e in sicuro riposo. E che vero sia che la sciocchezza di buono stato in miseria altrui conduca, per molti essempli si vede, li quali non fia al presente nostra cura di raccontare, avendo riguardo che tutto ’l dì mille essempli n’appaiano manifesti. Ma che il senno di consolazione sia cagione, come promisi, per una novelletta mosterrò brievemente. | Die Geschichte, die von Neifile gegeben wurde, bringt mir den gefährlichen Vorfall ins Gedächtnis zurück, der einem Juden vormals passiert ist. Weil über Gott und über die Wahrheit unseres Glaubens schon sehr gut gesprochen worden ist, wird jetzt das Hinabsteigen zu den Ereignissen und den Taten der Menschen nicht unpassend sein müssen; und ich werde euch jene erzählen, durch deren Anhören ihr vielleicht vorsichtiger werdet in den Antworten auf die Fragen, die euch gestellt werden. Ihr müsst wissen, liebreiche Gefährtinnen, dass so, wie die Dummheit oftmals andere aus glücklichem Stand reißt und in größtes Elend setzt, so der Verstand den Klugen aus größten Gefahren reißt und ihn in große und sichere Ruhe stellt. Und dass es wahr ist, dass die Dummheit andere aus gutem Stand ins Elend führt, sieht man an vielen Beispielen, die zu erzählen nicht unsere gegenwärtige Obliegenheit sein wird, wenn man berücksichtigt, dass sich den ganzen Tag tausend Beispiele dafür offenkundig zeigen. Aber dass der Verstand die Ursache von Trost ist, werde ich euch, wie ich versprochen habe, durch ein Geschichtchen kurz zeigen. |
per ciò che od. perciocché ~ perché, oggimai ~
ormai, fia = sarà, ponlo = lo pone, mosterrò = mostrerò narrarvi verrò: die Konstr. venire a + Inf. bedeutet meist "kommen um zu...": venire a trovare "besuchen (kommen)", venire a prendere "holen kommen, abholen"; in einigen Fällen bedeutet es "dahin kommen, dass": venire a costare "kosten", venire a sapere "erfahren", venire a mancare "ausbleiben, ausfallen" durch deren Anhören: wörtl. "welche gehört, ihr... werdet"; der Satz ist im Ital. ein Anakoluth. |
|
Il Saladino, il valore del qual fu tanto che non solamente di piccolo uomo il fe’ di Babillonia soldano, ma ancora molte vittorie sopra li re saracini e cristiani gli fece avere, avendo in diverse guerre e in grandissime sue magnificenze speso tutto il suo tesoro, e, per alcuno accidente sopravvenutogli bisognandogli una buona quantità di danari, né veggendo donde così prestamente come gli bisognavano aver gli potesse, gli venne a memoria un ricco giudeo, il cui nome era Melchisedech, il quale prestava ad usura in Alessandria, e pensossi costui avere da poterlo servire quando volesse; ma sì era avaro che di sua volontà non l’avrebbe mai fatto, e forza non gli voleva fare; per che, strignendolo il bisogno, rivoltosi tutto a dover trovar modo come il giudeo il servisse, s’avvisò di fargli una forza da alcuna ragion colorata. E fattolsi chiamare e familiarmente ricevutolo, seco il fece sedere e appresso gli disse: | Saladin, dessen Tüchtigkeit so groß war, dass sie ihn nicht nur von einem geringen Mann zum Sultan von Babylon machte, sondern auch viele Siege über die sarazenischen und christlichen Könige haben ließ, hatte in verschiedenen Kriegen und in seiner riesigen Prachtentfaltung seinen ganzen Schatz ausgegeben, und durch einen Zufall, der ihm widerfahren war, benötigte er eine gute Menge Geldes, und da er nicht sah, woher er es so rasch, wie er es brauchte, haben konnte, fiel ihm ein reicher Jude ein, dessen Name Melchisedek war, der in Alexandrien auf Zinsen verlieh, und er dachte sich, dass dieser habe, um ihm zu Diensten sein zu können, wenn er wollte; aber er war so geizig, dass er es aus eigenem Willen niemals gemacht hätte, und Gewalt wollte er ihm nicht antun; weil er, da die Not ihn drückte, sich ganz darauf richtete, einen Weg finden zu müssen, wie der Jude ihm diene, verfiel er darauf, mit irgendeiner gefärbten Begründung gegen ihn Gewalt anzuwenden. Und nachdem er ihn sich hatte rufen lassen und ihn freundlich empfangen hatte, ließ er ihn mit sich setzen und sagte dann zu ihm: |
il fe’ = lo fece, veggendo = vedendo, pensossi
= si pensò, avvisarsi = frz. s'aviser "auf d. Gedanken kommen,
ersinnen, verfallen auf" Babylon: nicht jenes im Zweistromland, das zu Saladins Zeit nicht mehr existierte, sondern die antike Festung im heutigen Kairo (s. den Wikipedia-Artikel Fortezza di Babilonia) usura: im Lat. "Zinsen", im mod. Ital. "Wucher" (auch das dt. Wort bedeutete ursprl. neutral "Zuwachs, (Zins-)Gewinn") |
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- Valente uomo, io ho da più persone inteso che tu se’ savissimo e nelle cose di Dio senti molto avanti; e per ciò io saprei volentieri da te quale delle tre leggi tu reputi la verace, o la giudaica o la saracina o la cristiana. | "Vortrefflicher Mann, ich habe von mehreren Personen gehört, dass du sehr klug bist und in den Angelegenheiten Gottes sehr verständig bist, und deshalb würde ich von dir gerne wissen, welches der drei Gesetze du für das wahre hältst, das jüdische oder das sarazenische oder das christliche." |
Il giudeo, il quale veramente era savio uomo, s’avvisò troppo bene che il Saladino guardava di pigliarlo nelle parole per dovergli muovere alcuna quistione, e pensò non potere alcuna di queste tre più l’una che l’altra lodare, che il Saladino non avesse la sua intenzione. Per che, come colui al qual pareva d’aver bisogno di risposta per la quale preso non potesse essere, aguzzato lo ’ngegno, gli venne prestamente avanti quello che dir dovesse, e disse: | Der Jude, der wirklich ein kluger Mann war, erkannte zu gut, dass Saladin darauf achtete, ihn in den Worten zu erwischen, um ihm irgendeinen Streit erregen zu müssen, und er bedachte, dass er von keiner von diesen dreien die eine mehr als die andere loben kann, ohne dass Saladin seine Absicht erreicht. Weil er, dem schien, eine Antwort zu brauchen, für die er nicht gefangen werden konnte, den Verstand schärfte, fiel ihm rasch ein, was er sagen sollte, und er sagte: |
venire avanti: wörtl. "vor-, eintreten" | |
- Signor mio, la quistione la qual voi mi fate è bella, e a volervene dire ciò che io ne sento, mi vi convien dire una novelletta, qual voi udirete. | "Mein Herr, die Frage, die Ihr mir stellt, ist schön, und um Euch sagen zu wollen, was ich darüber denke, muss ich Euch ein Geschichtchen erzählen, das Ihr höret werdet. |
Se io non erro, io mi ricordo aver molte volte udito dire che un grande uomo e ricco fu già, il quale, intra l’altre gioie più care che nel suo tesoro avesse, era uno anello bellissimo e prezioso; al quale per lo suo valore e per la sua bellezza volendo fare onore e in perpetuo lasciarlo ne’ suoi discendenti, ordinò che colui de’ suoi figliuoli appo il quale, sì come lasciatogli da lui, fosse questo anello trovato, che colui s’intendesse essere il suo erede e dovesse da tutti gli altri essere come maggiore onorato e reverito. | Wenn ich nicht irre, erinnere ich mich, viele Male sagen gehört zu haben, dass einst ein großer und reicher Mann war, der unter den anderen ziemlich wertvollen Juwelen, die er in seinem Schatz hatte, ein wunderschöner und wertvoller Ring war; weil er diesem wegen seines Wertes und wegen seiner Schönheit Ehre erweisen und ihn für immer seinen Nachkommen hinterlassen wollte, ordnete er an, dass derjenige seiner Söhne, bei dem dieser Ring, da er ihm von ihm hinterlassen wurde, gefunden werde, dass derjenige als sein Erbe verstanden werde, und von allen anderen als Oberhaupt geehrt und geachtet werden solle. |
appo (lat. apud) "bei" der unter den... Juwelen... ein... Ring war: ein Anakoluth (zu erwarten wäre: "der... einen Ring hatte") |
|
E colui al quale da costui fu lasciato il simigliante ordinò ne’ suoi discendenti e così fece come fatto avea il suo predecessore; e in brieve andò questo anello di mano in mano a molti successori; e ultimamente pervenne alle mani ad uno, il quale avea tre figliuoli belli e virtuosi e molto al padre loro obedienti, per la qual cosa tutti e tre parimente gli amava. E i giovani, li quali la consuetudine dello anello sapevano, sì come vaghi d’essere ciascuno il più onorato tra’ suoi, ciascuno per sé, come meglio sapeva, pregava il padre, il quale era già vecchio, che, quando a morte venisse, a lui quello anello lasciasse. | Und derjenige, dem er von diesem hinterlassen wurde, ordnete das gleiche bei seinen Nachkommen an und machte es so, wie es sein Vorfahr gemacht hatte; und kurz gesagt ging dieser Ring von zu Hand auf seine Nachfolger über; und zuletzt gelangte er einem in die Hände, der drei schöne und tugendhafte und ihrem Vater sehr gehorsame Söhne hatte, aus welchem Grund er alle drei gleichermaßen liebte. Und die Jünglinge, die den Brauch des Ringes kannten, baten, weil ein jeder sich sehnte, unter den ihren der geehrteste zu sein, jeder für sich, so gut er es verstand, den Vater, der schon alt war, dass er, wenn er im Sterben liege, jenen Ring ihm hinterlasse. |
simigliante = simile od. eguale, gli amava = li amava, sì come = siccome | |
Il valente uomo, che parimente tutti gli amava, né sapeva esso medesimo eleggere a qual più tosto lasciar lo dovesse, pensò, avendolo a ciascun promesso, di volergli tutti e tre sodisfare; e segretamente ad uno buono maestro ne fece fare due altri, li quali sì furono simiglianti al primiero, che esso medesimo che fatti gli avea fare appena conosceva qual si fosse il vero. E venendo a morte, segretamente diede il suo a ciascun de’ figliuoli. Li quali, dopo la morte del padre, volendo ciascuno la eredità e l’onore occupare, e l’uno negandolo all’altro, in testimonianza di dover ciò ragionevolmente fare ciascuno produsse fuori il suo anello. E trovatisi gli anelli sì simili l’uno all’altro che qual di costoro fosse il vero non si sapeva conoscere, si rimase la quistione, qual fosse il vero erede del padre, in pendente, e ancor pende. | Der vortreffliche Mann, der sie alle gleichermaßen liebte, auch selber nicht zu wählen wusste, wem er ihn lieber hinterlassen sollte, gedachte, da er ihn jedem versprochen hatte, alle drei zufriedenstellen zu wollen; und heimlich ließ er einen guten Meister zwei andere machen, die dem ersten so ähnlich waren, dass er selbst, der sie hatte machen lassen, kaum erkannte, welcher der echte war. Und als er im Sterben lag, gab er heimlich jedem der Söhne den seinen. Welche, als nach dem Tod des Vaters jeder das Erbe und die Ehre einnehmen wollte und einer es dem anderen verweigerte, jeder zum Beweis, dies berechtigterweise machen zu sollen, seinen Ring hervorzog. Und da die Ringe einer dem anderen so ähnlich gefunden wurden, dass man nicht erkennen konnte, welcher von ihnen der echte war, blieb die Frage, welcher der echte Erbe des Vaters war, in der Schwebe, und sie schwebt noch immer. |
primero = primo li quali... ciascuno produsse: wieder ein Anakoluth |
|
E così vi dico, signor mio, delle tre leggi alli tre popoli date da Dio padre, delle quali la quistion proponeste: ciascuno la sua eredità, la sua vera legge e i suoi comandamenti dirittamente si crede avere e fare; ma chi se l’abbia, come degli anelli, ancora ne pende la quistione. | Und so sage ich Euch, mein Herr, über die drei Gesetze, die von Gott Vater den drei Völkern gegeben wurden, über die ihr die Frage vorgebracht habt: jedes glaubt redlicherweise für sich, seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben und zu befolgen; aber wer sie hat, die Frage darüber ist noch immer, wie bei den Ringen, in der Schwebe." |
Il Saladino conobbe costui ottimamente essere saputo uscire del laccio il quale davanti a’ piedi teso gli aveva; e per ciò dispose d’aprirgli il suo bisogno e vedere se servire il volesse; e così fece, aprendogli ciò che in animo avesse avuto di fare, se così discretamente, come fatto avea, non gli avesse risposto. | Saladin erkannte, dass dieser es bestens gewusst hatte, aus der Schlinge herauszukommen, die er ihm vor die Füße gespannt hatte; und deshalb beschloss er, ihm seine Not offenzulegen und zu sehen, ob er ihm dienen wolle; und so tat er, indem er ihm eröffnete, was er im Sinn gehabt hatte zu tun, falls er ihm nicht so verständig geantwortet hätte, wie er getan hatte. |
Il giudeo liberamente d’ogni quantità che il Saladino richiese il servì; e il Saladino poi interamente il soddisfece; e oltre a ciò gli donò grandissimi doni e sempre per suo amico l’ebbe e in grande e onorevole stato appresso di sé il mantenne. | Der Jude diente ihm freiwillig mit jeder Menge, die Saladin verlangte; und Saladin befriedigte ihn dann vollständig; und über das hinaus schenkte er ihm größte Geschenke und betrachtete ihn immer als seinen Freund und behielt ihn in großem und ehrenhaftem Stand in seiner Nähe. |
il servì = lo s. (servire ist transitiv), il soddisfece (=lo s.) "stellte ihn zufrieden, beglich ihm seine Schuld" |
Diese Geschichte ist bei uns als Ringparabel aus Lessings Nathan der Weise bekannt (3. Akt, 7. Auftritt, Text z.B. bei Zeno.org). Das Erstaunliche daran ist, dass sie (und die damit implizierte Behauptung von der Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Weltreligionen) nicht erst in der Aufklärung erfunden wurde, sondern schon im Mittelalter.
Gulfardo prende da Guasparruolo denari in prestanza, e con la moglie di lui accordato di dover giacer con lei per quegli, sì gliele dà, e poi in presenzia di lei a Guasparruolo dice che a lei gli diede, ed ella dice che è il vero. | Gulfardo borgt von Guasparruolo Geld und, mit dessen Frau übereingekommen, mit ihr um jenes schlafen zu sollen, gibt er es ihr, und sagt dann in ihrer Gegenwart zu Guasparruolo, dass er es ihr gegeben hat, und sie sagt, das es wahr ist. |
in prestanza = in prestito um jenes: scil. Geld, d.h. um den geborgten Betrag |
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Se così ha disposto Iddio che io debba alla presente giornata dare con la mia novella cominciamento, ed el mi piace. E per ciò, amorose donne, con ciò sia cosa che molto detto si sia delle beffe fatte dalle donne agli uomini, una fattane da uno uomo ad una donna mi piace di raccontarne, non già perché io intenda in quella di biasimare ciò che l’uom fece o di dire che alla donna non fosse bene investito, anzi per commendar l’uomo e biasimare la donna, e per mostrare che anche gli uomini sanno beffare chi crede loro, come essi da cui egli credono son beffati; avvegna che, chi volesse più propriamente parlare, quello che io dir debbo non si direbbe beffa, anzi si direbbe merito; per ciò che, con ciò sia cosa che ciascuna donna debba essere onestissima e la sua castità come la sua vita guardare, né per alcuna cagione a contaminarla conducersi; e questo non potendosi così appieno tuttavia, come si converrebbe, per la fragilità nostra; affermo colei esser degna del fuoco la quale a ciò per prezzo si conduce; dove chi per amore, conoscendo le sue forze grandissime, perviene, da giudice non troppo rigido merita perdono, come, pochi dì son passati, ne mostrò Filostrato essere stato in madonna Filippa osservato in Prato. | Wenn der Herrgott es so eingerichtet hat, dass ich am gegenwärtigen Tag mit meiner Geschichte den Anfang machen soll, so gefällt es mir. Und deshalb, liebreiche Damen, da viel gesagt wurde über Streiche, die den Männern von den Frauen gespielt wurden, beliebt es mir, einen zu erzählen, der von einem Mann einer Frau gespielt wurde, freilich nicht, weil ich vorhabe, in jener zu tadeln, was der Mann gemacht hat, oder zu sagen, dass der Frau nicht recht geschehen sei, vielmehr um den Mann zu loben und die Frau zu tadeln und um zu zeigen, dass auch die Männer zu foppen wissen, wer ihnen vertraut, wie sie von dem, dem sie vertrauen, gefoppt werden; obwohl wer genauer sprechen möchte, das was ich sagen soll, man nicht Fopperei sage, vielmehr sage man Lohn; deswegen, da jede Frau sehr ehrenhaft sein muss und ihre Reinheit wie ihr Leben hüten muss, und sich nicht aus irgendeinem Grund verleiten lassen darf, sie zu beflecken; und da man das jedoch so nicht völlig vermag, wie man sollte, wegen unserer Schwachheit; behaupte ich, dass diejenige des Feuers würdig ist, die sich dazu durch Bezahlung verleiten lässt; wer aus Liebe, weil sie ihre riesige Macht erfährt, dorthin gelangt, verdient von einem nicht allzustrengen Richter Verzeihung, wie vor wenigen Tagen Filostrato gezeigt hat, dass es bei Frau Filippa in Prato befolgt worden ist. |
avvegna che od. avvegnachè ~ quantunque,
con ciò sia cosa che od. conciossiacosaché ~ poiché "da, weil" investire: lat. "bekleiden, schmücken", mlat. (mit den Amtsinsignien bekleiden=) "(ein Amt) verleihen" (daher der Investiturstreit), später wohl auch allgemein "mit Geld ausstatten", daher "(Kapital) anlegen, investieren", militär. (wie ein Gewand umgeben=) "umzingeln, bestürmen, angreifen", von Schiffen (und heute auch von Autos) "auf-, an-, überfahren". Im Text viell. im Sinne eines solchen Zusammenstoßes, "dass der Frau nicht gut aufgefahren worden ist". |
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Fu adunque già in Melano un tedesco al soldo, il cui nome fu Gulfardo, pro’della persona e assai leale a coloro ne’cui servigi si mettea, il che rade volte suole de’ tedeschi a venire; e per ciò che egli era nelle prestanze de’ denari che fatte gli erano lealissimo renditore, assai mercatanti avrebbe trovati che per piccolo utile ogni quantità di denari gli avrebber prestata. | Es war also einmal in Mailand ein Deutscher in Sold, dessen Name Gulfardo (Wolfhart) war, tapfer von Person und sehr loyal gegenüber denjenigen, in deren Dienste er sich stellte, was bei den Deutschen selten vorzukommen pflegt; und weil er bei den Geldern, die ihm geborgt worden waren, ein sehr redlicher Rückerstatter war, hätte er viele Kaufleute gefunden, die ihm für kleinen Profit jede Menge Geldes geliehen hätten. |
pro’ = prode? (vgl. piè = piede) | |
Pose costui, in Melan dimorando, l’amor suo in una donna assai bella, chiamata madonna Ambruogia, moglie d’un ricco mercatante, che aveva nome Guasparruol Cagastraccio, il quale era assai suo conoscente e amico; e amandola assai discretamente, senza avvedersene il marito né altri, le mandò un giorno a parlare, pregandola che le dovesse piacere d’essergli del suo amor cortese, e che egli era dalla sua parte presto a dover far ciò che ella gli comandasse. | Dieser setzte, während er sich in Mailand aufhielt, seine Liebe in eine sehr schöne Frau, genannt Frau Ambruogia, Gattin eines reichen Kaufmanns, der den Namen Guasparruolo Cagastraccio hatte, der sein guter Bekannter und Freund war; und da er sie äußerst zurückhaltend liebte, ohne dass der Ehemann oder andere es bemerkt hätten, schickte er ihr eines Tages eine Botschaft, wobei er sie bat, dass es ihr gefallen solle, ihm willfährig seiner Liebe zu sein, und dass er seinerseits bereit sei, tun zu sollen, was sie ihm befehle. |
presto hier = frz. prêt "bereit" | |
La donna, dopo molte novelle, venne a questa conclusione, che ella era presta di far ciò che a Gulfardo piacesse, dove due cose ne dovesser seguire: l’una, che questo non dovesse mai per lui esser manifestato ad alcuna persona; l’altra, che, con ciò fosse cosa che ella avesse per alcuna sua cosa bisogno di fiorini dugento d’oro, voleva che egli, che ricco uomo era, gliele donasse, e appresso sempre sarebbe al suo servigio. | Die Frau kam nach vielen Geschichten zu diesem Schluss, dass sie bereit war zu tun, was dem Gulfardo gefiele, wofern er zwei Dinge befolgen solle: die eine, dass dies niemals durch ihn irgendeiner Person offenbart werden dürfe; die andere, dass sie, da sie für eine ihrer Angelegenheiten zweihundert Goldflorin benötige, will, dass er, der ein reicher Mann war, sie ihr gebe, und danach stehe sie immer zu seinem Dienst. |
con ciò fosse cosa che od. conciofossecosaché
(wie con ciò sia cosa che) ~ poiché, dato che Goldflorin: seit 1252 in Florenz geprägte Goldmünze (s. Die Entstehung von Groschen und Gulden) |
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Gulfardo, udendo la ’ngordigia di costei, sdegnato per la viltà di lei, la quale egli credeva che fosse una valente donna, quasi in odio trasmutò il fervente amore, e pensò di doverla beffare, e mandolle dicendo che molto volentieri e quello e ogn’altra cosa, che egli potesse, che le piacesse; e per ciò mandassegli pure a dire quando ella volesse che egli andasse a lei, ché egli gliele porterebbe, né che mai di questa cosa alcun sentirebbe, se non un suo compagno di cui egli si fidava molto e che sempre in sua compagnia andava in ciò che faceva. | Als Gulfardo ihre Geldgier hörte, war er über die Gemeinheit jener erzürnt, von der er geglaubt hatte, dass sie eine vortreffliche Frau sei, er verwandelte die glühende Liebe fast in Hass, und er gedachte, sie foppen zu sollen, und er sandte zu ihr, wobei er sagte, dass er sehr bereitwillig sei zu jenem und jeder anderen Sache, die er könne, die ihr gefalle; und deshalb möge sie doch zu ihm schicken, um zu sagen, wann sie wolle, dass er zu ihr gehe, damit er sie ihr mitbringe, und dass niemals jemand von dieser Sache erfahre, außer einer seiner Gefährten, dem er sehr vertraute und der immer in seiner Gesellschaft ging, bei dem was er machte. |
La donna, anzi cattiva femina, udendo questo, fu contenta, e mandogli dicendo che Guasparruolo suo marito doveva ivi a pochi dì per sue bisogne andare infino a Genova, e allora ella gliele farebbe assapere e manderebbe per lui. | Als die Frau, vielmehr das schlechte Frauenzimmer, dies hörte, war sie zufrieden, und schickte zu ihm, wobei sie sagte, dass ihr Gatte Guasparruolo in wenigen Tagen wegen seiner Geschäfte bis nach Genua gehen sollte, und dann werde sie es ihn wissen lassen und nach ihm schicken. |
Gulfardo, quando tempo gli parve, se n’andò a Guasparruolo
e sì gli disse: - Io son per fare un mio fatto, per lo quale mi bisognano fiorini dugento d’oro, li quali io voglio che tu mi presti con quello utile che tu mi suogli prestare degli altri. |
Gulfardo ging, als es ihm Zeit schien, zu Guasparruolo und sagte zu ihm
so: "Ich bin dabei, eines meiner Unternehmen durchzuführen, für das ich zweihundert Goldflorin brauche; ich will, dass du sie mir leihst mit jenem Profit, den du mir von den anderen zu leihen pflegst." |
Guasparruolo disse che volentieri, e di presente gli annoverò i denari. | Guasparruolo sagte, dass (er das) gerne (tue), und zählte ihm sogleich das Geld vor. |
Ivi a pochi giorni Guasparruolo andò a Genova, come la donna
aveva detto; per la qual cosa la donna mandò a Gulfardo che a lei dovesse
venire e recare li dugento fiorin d’oro. Gulfardo, preso il compagno suo,
se n’andò a casa della donna, e trovatala che l’aspettava, la prima cosa
che fece, le mise in mano questi dugento fiorin d’oro, veggente il suo
compagno, e sì le disse: - Madonna, tenete questi denari, e daretegli a vostro marito quando serà tornato. |
Nach wenigen Tagen ging Guasparruolo nach Genova, wie die Frau gesagt
hatte; aus diesem Grund schickte die Frau zu Gulfardo, dass er zu ihr
kommen und die zweihundert Goldflorin bringen solle. Gulfardo nahm seinen
Gefährten und ging zum Haus der Frau, und da er sie fand, wie sie ihn
erwartete, war das erste, was er tat, er legte ihr diese zweihundert
Goldflorin in die Hand, wobei sein Gefährte es sah, und sagt so zu ihr: "Gnädige Frau, nehmt dieses Geld und gebt es Eurem Mann, wenn er zurückgekehrt ist." |
La donna gli prese, e non s’avvide perché Gulfardo dicesse così; ma si credette che egli il facesse, acciò che ’l compagno suo non s’accorgesse che egli a lei per via di prezzo gli desse. Per che ella disse: | Die Frau nahm es, und sie war sich nicht im Klaren darüber, warum Gulfardo so redete; aber sie meinte, dass er es mache, damit sein Gefährte nicht bemerkte, dass er es ihr zum Zweck der Bezahlung gibt. Daher sagte sie: |
- Io il farò volentieri, ma io voglio vedere quanti sono; - e versatigli sopra una tavola e trovatigli esser dugento, seco forte contenta, gli ripose, e tornò a Gulfardo, e lui nella sua camera menato, non solamente quella volta, ma molte altre, avanti che ’l marito tornasse da Genova, della sua persona gli sodisfece. | "Das werde ich gerne tun, aber ich möchte sehen, wieviel es ist." und schüttete es auf einen Tisch und da sie fand, dass es zweihundert waren, legte sie sie, mit sich sehr zufrieden, weg und kehrte zu Gulfardo zurück, und nachdem sie ihn in ihr Zimmer geführt hatte, befriedigte sie ihn mit ihrer Person nicht nur jenes Mal, sondern viele andere Male, bevor der Ehemann aus Genua zurückkehrte. |
Tornato Guasparruolo da Genova, di presente Gulfardo, avendo appostato che insieme con la moglie era, [preso il compagno suo], se n’andò a lui, e in presenza di lei disse: | Als Guasparruolo aus Genua zurückgekehrt war, ging Gulfardo sogleich [nachdem er seinen Gefährten genommen hatte] zu ihm, wobei er darauf gelauert hatte, dass er mit der Gattin zusammen war, und sagte in ihrer Gegenwart: |
- Guasparruolo, i denari, cioè li dugento fiorin d’oro che l’altrier mi prestasti, non m’ebber luogo, per ciò che io non pote’fornir la bisogna per la quale gli presi; e per ciò io gli recai qui di presente alla donna tua, e sì gliele diedi; e per ciò dannerai la mia ragione. | "Guasparruolo, das Geld, d.h. die zweihundert Goldflorin, die du mir neulich geliehen hast, kamen mir nicht zum Einsatz, da ich das Geschäft nicht erbringen konnte, für das ich es genommen habe; und deshalb habe ich es sogleich hierher zu deiner Frau gebracht und es ihr so gegeben; und deshalb annulliere meine Rechnung." |
l’altrier = l'altro ieri "vorgestern,
neulich" kamen nicht zum Einsatz: wörtl. "fanden nicht statt" |
|
Guasparruolo, volto alla moglie, la domandò se avuti gli
avea. Ella, che quivi vedeva il testimonio, nol seppe negare, ma disse: - Mai sì che io gli ebbi, né me n’era ancora ricordata di dirloti. |
Guasparruolo wandte sich zu seiner Frau und fragte sie, ob sie es
bekommen hatte. Sie, da sie den Zeugen hier sah, konnte es nicht leugnen,
sondern sagte: "Aber ja, ich habe sie bekommen, aber ich habe noch nicht daran gedacht, es dir zu sagen." |
nol = no lo | |
Disse allora Guasparruolo: - Gulfardo, io son contento; andatevi pur con Dio, che io acconcerò bene la vostra ragione. |
Nun sagte Guasparruolo: "Gulfardo, ich bin zufrieden; geht nur mit Gott, da ich Eure Rechnung gut erledigen werde." |
Gulfardo partitosi, e la donna rimasa scornata diede al marito il disonesto prezzo della sua cattività; e così il sagace amante senza costo godé della sua avara donna. | Als Gulfardo weggegangen war und die Frau gefoppt zurückblieb, gab sie ihrem Ehemann den ehrlosen Lohn ihrer Schlechtigkeit; und so genoss der schlaue Liebhaber ohne Kosten seine habgierige Dame. |
rimaso = rimasto?, scornare (wörtl. "enthörnen") ~ schernire, beffare (vgl. engl. to scorn, hier liegt wohl eine Vermischung von vlat. *excoronare und e. germ. Wurzel, die z.B. im ahd. sceron "ausgelassen sein" steckt, vor) |
Boccaccios Quelle war ein franz. Fabliau (eine Schwankerzählung in Versen). Dieses Motiv findet sich auch in einer der Geschichten in Geoffrey Chaucers Canterbury Tales, in The Shipman's Tale (7. Fragment, Wiedergabe in modernem Engl. bei eChaucer). Chaucer hat das Decameron gekannt, seine Quelle ist viell. dasselbe Fabliau, aus dem auch Boccaccio geschöpft hat.
Seit der Mitte des 15.Jh. entwickelte sich der Hof der Este in Ferrara zu einem kulturellen Zentrum. Hier wirkten der Humanist Pietro Bembo (1470-1547), der wesentlich dazu beitrug, dass das Toskanische zur ital. Literatursprache wurde, und Ludovico Ariosto (1474-1533), dessen Versepos Orlando furioso (1505-1516, überarbeitete Fassungen 1521 und 1532) zu den wichtigsten Werken der frühen ital. Literatur gehört. Es erzählt die (häufig märchenhaften) Abenteuer, Liebeswirrungen und blutigen Kämpfe der Paladine Karls des Großen, allen voran des Orlando (dt. Roland), während des Krieges mit den Mauren. (Im Epos führt Karl einen Abwehrkampf gegen die Sarazenen, die Paris belagern. In Wahrheit hat Karl 778 einen wenig erfolgreichen Kriegszug nach Spanien unternommen. Beim Rückzug wurde die Nachhut des fränk. Heeres von einheimischen Basken als Rache für die Plünderung Pamplonas in der Schlacht von Roncesvalles vernichtet, unter ihnen auch Hruotland, Graf der bretonischen Mark.) Den Titel hat das Epos daher, dass Orlando, der unsterblich in die schöne Angelica verliebt ist, in Wahnsinn verfällt, als er erfährt, dass sie einen anderen liebt.
Wie es sich für das Proömium eines Heldenepos gehört, nennt Ariost zuerst den Gegenstand seiner Dichtung (man vgl. Hom.Il. "den Zorn besinge, Göttin, des Peleussohns Achill" od. Verg.Aen. "die Waffen und den Mann besinge ich, der als erster von Troias Küsten..."). Außerdem enthält es eine Widmung an seinen Brotherrn und exponiert die Handlung.
1 | Le donne, i cavallier, l’arme, gli amori, | Die Frauen, die Ritter, die Waffen, die Liebschaften, |
le cortesie, l’audaci imprese io canto, | die Höflichkeiten, die mutigen Unternehmen besinge ich, | |
che furo al tempo che passaro i Mori | die geschahen zu der Zeit, als die Mauren Afrikas das Meer überquerten und in Frankreich soviel Schaden anrichteten, | |
d’Africa il mare, e in Francia nocquer tanto, | ||
seguendo l’ire e i giovenil furori | folgend dem Zorn und den jugendlichen Rasereien | |
d’Agramante lor re, che si diè vanto | Agramentes, ihres Königs, der sich die Prahlerei erlaubte, | |
di vendicar la morte di Troiano | zu rächen den Tod Troianos | |
sopra re Carlo imperator romano. | an König Karl, dem römischen Kaiser. | |
furo = furono, passaro = passarono, diè = diede Mauren: Das Ital. unterscheidet nicht zwischen Mauren und Mohren (beides ital. Mori). Tatsächl. waren es nicht negride Schwarzafrikaner, die Spanien erobert haben, sondern islamisierte Berber unter arab. Führung. Troiano: Agramentes Vater, wurde von Orlando (s. nächste Stanze) im Zweikampf getötet. | ||
2 | Dirò d’Orlando in un medesmo tratto | Sagen werde ich von Orlando im selben Zug |
cosa non detta in prosa mai, né in rima: | etwas, was niemals gesagt wurde in Prosa noch in Dichtung: | |
che per amor venne in furore e matto, | dass er aus Liebe in Raserei geriet und verrückt wurde, | |
d’uom che sì saggio era stimato prima; | von einem Menschen, der zuvor für so klug gehalten wurde – | |
se da colei che tal quasi m’ha fatto, | wenn von jener, die mich fast zu einem solchen gemacht hat, | |
che ’l poco ingegno ad or ad or mi lima, | die mir Stunde für Stunde das bisschen Talent verzehrt, | |
me ne sarà però tanto concesso, | mir dennoch soviel davon zugestanden wird, | |
che mi basti a finir quanto ho promesso. | dass es mir genügt zu vollenden, wieviel ich versprochen habe. | |
Orlando: dt. Roland, Markgraf der Bretagne,
Neffe und einer der Paladine Karls d.Gr. von jener: die Rede ist von Alessandra Benucci, die Ariost (1528?) geheiratet hat zu einem solchen: nämlich zu einem Verrückten | ||
3 | Piacciavi, generosa Erculea prole, | Es gefalle Euch, großmütiger Nachkomme des Herkules, |
ornamento e splendor del secol nostro, | Zierde und Glanz unseres Jahrhunderts, | |
Ippolito, aggradir questo che vuole | Hippolytus, das zu schätzen, was Euch Euer bescheidener Diener geben will und nur geben kann. | |
e darvi sol può l’umil servo vostro. | ||
Quel ch’io vi debbo, posso di parole | Was ich Euch schulde, kann ich in Worten | |
pagare in parte e d’opera d’inchiostro; | zum Teil bezahlen und in einem Werk von Tinte; | |
né che poco io vi dia da imputar sono, | auch dass ich Euch wenig gebe, bin ich nicht zu verklagen, | |
che quanto io posso dar, tutto vi dono. | denn wieviel ich geben kann, Euch schenke ich alles. | |
piacciavi = piaccia (Konj.Präs. v. piacere) + vi Hippolytus: Ippolito (I.) d’Este (1479-1520), Sohn des Ercole d’Este (daher "Nachkomme des Herkules"), des Herzogs von Ferrara, Erzbischof von Mailand, Bischof von Ferrara, Kardinal. Ariost stand ca. 15 Jahre in seinem Dienst, fühlte sich von ihm aber zu wenig geschätzt und schlecht entlohnt. | ||
4 | Voi sentirete fra i più degni eroi, | Ihr werdet hören unter den würdigsten Helden, |
che nominar con laude m’apparecchio, | die mit Lob zu nennen ich mich vorbereite, | |
ricordar quel Ruggier, che fu di voi | wie erwähnt wird jener Ruggiero, der war von Euch | |
e de’ vostri avi illustri il ceppo vecchio. | und von Euren berühmten Ahnen der alte Stamm. | |
L’alto valore e’ chiari gesti suoi | Die hohe Tapferkeit und seine berühmten Taten | |
vi farò udir, se voi mi date orecchio, | werde ich Euch hören lassen, wenn Ihr mir Gehör gebt | |
e vostri alti pensier cedino un poco, | und Eure hohen Gedanken ein wenig zurückweichen, | |
sì che tra lor miei versi abbiano loco. | sodass meine Verse zwischen ihnen Raum haben. | |
Ruggiero di Risa (=Reggio di Calabria):
ital. Form von Roger, dt. Rüdiger, Sohn eines christl. Ritters und einer
Muslimin, in Afrika als Moslem erzogen, kämpft er zunächst auf Seiten der
Sarazenen, bevor er sich in die Christin Bradamante verliebt und schließlich
die Seite wechselt. Er erscheint hier als einer der Stammväter des Hauses
d’Este. berühmten Taten: chiari gesti heißt im modernen Ital. "klare Gebärden", hier ist aber wohl eher lat. clara gesta mitzuhören. | ||
5 | Orlando, che gran tempo innamorato | Orlando, der lange Zeit verliebt |
fu de la bella Angelica, e per lei | war in die schöne Angelica, und für sie | |
in India, in Media, in Tartaria lasciato | in Indien, in Persien, in Russland zurückgelassen | |
avea infiniti ed immortal trofei, | hatte unendliche und unsterbliche Trophäen, | |
in Ponente con essa era tornato, | war mit ihr in den Westen zurückgekehrt, | |
dove sotto i gran monti Pirenei | wo am Fuß der großen Pyrenäenberge | |
con la gente di Francia e de Lamagna | mit dem Volk von Frankreich und von Deutschland | |
re Carlo era attendato alla campagna, | König Karl im Feld die Zelte aufgestellt hatte, | |
Lamagna = franz. Allemagne (das Land des
german. Stammes der Alemannen), im heutigen Ital. Germania Angelica: die Tochter des Groß-Khans von Cathay (Region in China) Tartaria: zu Ariosts Zeit wohl das Khanat von Kasan an der mittleren Wolga Media: Gebiet im Westen des heutigen Iran | ||
6 | per far al re Marsilio e al re Agramante | um König Marsilio und König Agramante dazu zu bringen, |
battersi ancor del folle ardir la guancia, | sich noch ob des wahnwitzigen Wagnisses die Wange zu schlagen, | |
d’aver condotto, l’un, d’Africa quante | der eine, hergeführt zu haben von Afrika, wieviele | |
genti erano atte a portar spada e lancia; | Völker fähig waren, zu tragen Schwert und Lanze; | |
l’altro, d’aver spinta la Spagna inante | der andere, das Spanien vorangetrieben zu haben | |
a destruzion del bel regno di Francia. | zur Vernichtung des schönen Königreichs von Frankreich. | |
E così Orlando arrivò quivi a punto: | Und so traf Orlando hier im rechten Augenblick ein: | |
ma tosto si pentì d’esservi giunto: | aber er bereute es bald, hier angekommen zu sein: | |
ardir wagen inante: nach dem Wörterbuch von Gabrielli Aldo bei Dizionario Italiano online Hoepli eine alte Form von innanzi. Das Wort kommt bei Dante nicht vor, jedoch bei Tasso. Croker scheint es mit "in vaunt" zu übersetzen, die Wörterbücher geben für das Subst. vaunt nur die Bedeutung "Prahlerei". Marsilio: König von Spanien, Verbündeter Agramantes | ||
7 | Che vi fu tolta la sua donna poi: | Weil dort seine Dame dann weggenommen wurde: |
ecco il giudicio uman come spesso erra! | Sieh, wie das menschliche Urteil oft irrt! | |
Quella che dagli esperi ai liti eoi | Jene, die er von den westlichen zu den östlichen Küsten | |
avea difesa con sì lunga guerra, | geschützt hatte mit so langem Krieg, | |
or tolta gli è fra tanti amici suoi, | wurde ihm jetzt weggenommen mitten unter so vielen seiner Freunde, | |
senza spada adoprar, ne la sua terra. | ohne ein Schwert zu benutzen, in seinem (eigenen) Land. | |
Il savio imperator, ch’estinguer volse | Der kluge Kaiser, der löschen wollte | |
un grave incendio, fu che gli la tolse. | einen schweren Brand, war es, der sie ihm wegnahm. | |
volse = volle (pass.rem. v. volere) esperi(i): lat. Hesperius abendländisch, westlich (Hesperus = Abendstern) eoi: lat. Eous morgenländisch, östlich (Eos = Morgenröte) | ||
8 | Nata pochi dì inanzi era una gara | Wenige Tage zuvor war ein Wettstreit entstanden |
tra il conte Orlando e il suo cugin Rinaldo, | zwischen dem Grafen Orlando und seinem Vetter Rinaldo, | |
che entrambi avean per la bellezza rara | die beide wegen der seltenen Schönheit | |
d’amoroso disio l’animo caldo. | ein von Liebessehnsucht heißes Herz hatten. | |
Carlo, che non avea tal lite cara, | Karl, der solchen Streit nicht gern hatte, | |
che gli rendea l’aiuto lor men saldo, | der ihm ihren Beistand weniger stark machte, | |
questa donzella, che la causa n’era, | nahm dieses Fräulein, das die Ursache davon war, weg und gab sie dem Herzog von Bayern in die Hand; | |
tolse, e diè in mano al duca di Bavera; | ||
Rinaldo di Montalbano (=Montauban): Sohn
des Herzogs Amone (dt. Haimon) von Dordogne, Bruder der Bradamante, Cousin
Orlandos, Paladin Karls Herzog von Bayern: Namo (dt. Naims), Verbündeter Karls | ||
9 | in premio promettendola a quel d’essi, | sie als Preis demjenigen von ihnen versprechend, |
ch’in quel conflitto, in quella gran giornata, | der in jenem Kampf, an jenem großen Tag, | |
degl’infideli più copia uccidessi, | von den Ungläubigen die größere Menge tötete | |
e di sua man prestasse opra più grata. | und von eigener Hand willkommeneres Werk vollbrachte. | |
Contrari ai voti poi furo i successi; | Entgegengesetzt den Wünschen waren dann die Erfolge; | |
ch’in fuga andò la gente battezzata, | denn zur Flucht wandte sich das getaufte Volk, | |
e con molti altri fu ’l duca prigione, | und mit vielen anderen wurde der Herzog gefangengenommen | |
e restò abbandonato il padiglione. | und das Zelt blieb verlassen. | |
infideli: die Ungläubigen sind aus christl.
Sicht die muslimischen Sarazenen gente battezzata: das Heer der Christen blieb verlassen: Angelica konnte entkommen |
Gustave Doré: Ruggiero rettet Angelica.
Quelle: Wikimedia.-
Reprod.: Holger Thölking.-
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Vgl. dazu das Gemälde
Roger
délivrant Angélique von Jean Auguste Dominique Ingres (1819), das wohl
Dorés Vorbild war.
Der Zauberer Atlas hält Ritter Ruggiero in einem Zauberschloss in den Pyrenäen gefangen, um ihn so davor zu schützen, den ihm vorbestimmten Tod durch Verrat zu finden. Niemand konnte Atlas bisher besiegen, denn er verfügt über zwei besondere Waffen: den Hippogryph, eine Art fliegendes Reittier, und einen Zauberschild, der den Gegner blendet und so kampfunfähig macht. Der weibliche Ritter Bradamante besiegt Atlas, Hippogryph und Schild nimmt Ruggiero an sich (4. Gesang).
Später gelangt Ruggiero auch in den Besitz eines Zauberrings, der unsichtbar macht und ursprl. Angelica gehörte, ihr aber gestohlen wurde. Schließlich kommt Ruggiero auf dem Hippogryphen nach England und nimmt dort an der Musterung des Heeres teil, das Karl, der in Paris belagert wird, entsetzen soll. Ruggiero fliegt von dort weiter und sieht plötzlich – Angelica, splitterfasernackt, an einen Felsen angekettet.
91 | Quindi Ruggier, poi che di banda in banda | Daraufhin ging Ruggiero, nachdem er Truppe für Truppe die Engländer gesehen hatte, Richtung Irland. |
vide gl’Inglesi, andò verso l’Irlanda. | ||
92 | E vide Ibernia fabulosa, dove | Und er sah das sagenhafte Irland, wo |
il santo vecchiarel fece la cava, | der heilige Alte die Höhle gemacht hatte, | |
in che tanta mercé par che si truove, | in der anscheinend soviel Gnade sich befand, | |
che l’uom vi purga ogni sua colpa prava. | dass sie den Menschen dort reinigt von aller seiner bösen Schuld. | |
Quindi poi sopra il mare il destrier muove | Von dort bewegte er dann das Ross über das Meer | |
là dove la minor Bretagna lava: | dorthin, wo es das kleinere Britannien umspült: | |
e nel passar vide, mirando a basso, | und im Vorüberfliegen sah er, nach unten schauend, | |
Angelica legata al nudo sasso. | Angelica an den nackten Fels gebunden. | |
fabulosa = favolosa, la cava ~ il cavo der heilige Alte...Höhle: der Legende nach hat St. Patrick (5.Jh.) auf der Insel eine Höhle angelegt, in welcher sich die Menschen durch Feuer von ihren Sünden reinigen konnten. Ross: der Hippogryph das kleinere Britannien: wohl die Bretagne in Frankreich i.Ggs. zu Großbritannien | ||
93 | Al nudo sasso, all’Isola del pianto; | Am nackten Fels, auf der Insel des Weinens; |
che l’Isola del pianto era nomata | denn die Insel des Weinens war benannt | |
quella che da crudele e fiera tanto | jene, die von grausamem und so wildem | |
ed inumana gente era abitata, | und unmenschlichem Volk bewohnt war, | |
che (come io vi dicea sopra nel canto) | das (wie ich euch gesagt habe oben im Gesang) | |
per vari liti sparsa iva in armata | über die verschiedenen Küsten verstreut auf einer Kriegsflotte fuhr, | |
tutte le belle donne depredando, | alle schönen Frauen raubend, | |
per farne a un mostro poi cibo nefando. | um dann davon einem Ungeheuer schändliche Speise zu machen. | |
iva wohl = andava (lat. ibat) | ||
94 | Vi fu legata pur quella matina, | Dort wurde sie angebunden eben jenen Morgen, |
dove venìa per trangugiarla viva | wo jenes unermessliche Ungeheuer, die Seeorca, kam, um sie lebendig zu verschlingen, | |
quel smisurato mostro, orca marina, | ||
che di aborrevole esca si nutriva. | die sich von abscheulichem Futter nährte. | |
Dissi di sopra, come fu rapina | Ich habe oben gesagt, wie der Raub geschah | |
di quei che la trovaro in su la riva | durch jene, die sie am Ufer fanden | |
dormire al vecchio incantatore a canto, | schlafend neben dem alten Zauberer, | |
ch’ivi l’avea tirata per incanto. | der sie dorthin gezogen hatte durch Zauberei. | |
Orca: lat. orca bedeutet "bauchiges Gefäß, Tonne" und wurde in der Biologie zur Bezeichnung großer, unförmiger Tiere verwendet. So kam der Schwertwal zu seinem wenig schmeichelhaften Namen (Orcinus orca). Davon zu unterscheiden ist ital. orco (s. 17,29 ff) "Oger, menschenfressender Unhold" (vgl. auch den Ork aus den Werken Tolkiens) von lat. orcus "Totenreich, Gott der Unterwelt". Gries übersetzt orco mit "Oger", orca mit "Kraken". | ||
95 | La fiera gente inospitale e cruda | Das wilde Volk, ungastlich und roh, |
alla bestia crudel nel lito espose | dem grausamen Untier an der Küste setzte es aus | |
la bellissima donna, così ignuda | die wunderschöne Frau, so nackt, | |
come Natura prima la compose. | wie die Natur sie einst gebildet hat. | |
Un velo non ha pure, in che richiuda | Nicht einmal einen Schleier hat sie, in den sie einschlösse | |
i bianchi gigli e le vermiglie rose, | die weißen Lilien und die roten Rosen, | |
da non cader per luglio o per dicembre, | die nicht fallen im Juli oder im Dezember, | |
di che son sparse le polite membre. | mit denen bestreut sind die reinen Glieder. | |
Lilien, Rosen: offenbar Metaphern für Blässe und Röte, die über den Leib der Angelica verteilt sind (braungebrannte Körper sind ein modernes Schönheitsideal) – oder geht da meine Phantasie mit mir durch? | ||
96 | Creduto avria che fosse statua finta | Geglaubt hätte, dass es eine künstliche Statue sei, |
o d’alabastro o d’altri marmi illustri | entweder aus Alabaster oder aus anderen vornehmen Marmorarten, | |
Ruggiero, e su lo scoglio così avinta | Ruggiero, und auf der Klippe so befestigt | |
per artificio di scultori industri; | durch Kunstfertigkeit fleißiger Bildhauer, | |
se non vedea la lacrima distinta | wenn er nicht die deutliche Träne gesehen hätte | |
tra fresche rose e candidi ligustri | zwischen frischen Rosen und weißen Ligustern | |
far rugiadose le crudette pome, | die prallen Äpfel taunass machen | |
e l’aura sventolar l’aurate chiome. | und den Wind die goldenen Haare flattern lassen. | |
avria = avrebbe Alabaster ist eine dem Marmor ähnliche, aber wenig witterungsbeständige Varietät von Gips (Kalziumsulfat). Marmor ist unter Hitze und Druck umgewandelter Kalkstein (Kalziumkarbonat, meist Kalzit, Aragonit), im weiteren Sinn auch andere polierfähige Karbonate wie Dolomit, Travertin, Kalksinter u.ä. (also sprach Wikipedia). Crudetto heißt "ein bisschen roh, nicht ganz gar/reif", laut dizionario.org auch "der Berührung nicht nachgebend, hart, fest, prall, straff". | ||
97 | E come ne’ begli occhi gli occhi affisse, | Und wie er die Augen auf die schönen Augen heftete, |
de la sua Bradamante gli sovvenne. | erinnerte er sich an seine Bradamante. | |
Pietade e amore a un tempo lo trafisse, | Mitleid und Liebe durchbohrten ihn zur gleichen Zeit, | |
e di piangere a pena si ritenne; | und zu weinen enthielt er sich mit Mühe; | |
e dolcemente alla donzella disse, | und sanft sagte er zum Fräulein, | |
poi che del suo destrier frenò le penne: | nachdem er das Gefieder seines Rosses gezügelt hatte: | |
- O donna, degna sol de la catena | "O Frau, würdig nur der Kette, | |
con chi i suoi servi Amor legati mena, | mit der Amor seine Diener gebunden führt, | |
98 | e ben di questo e d’ogni male indegna, | und dieses und jedes Übels ganz unwürdig. |
chi è quel crudel che con voler perverso | Wer ist jener Grausame, der mit niederträchtigem Willen | |
d’importuno livor stringendo segna | aus lästiger Missgunst zusammenziehend kennzeichnet | |
di queste belle man l’avorio terso? - | das reine Elfenbein dieser schönen Hände?" | |
Forza è ch’a quel parlare ella divegna | Bei jener Rede musste sie werden, | |
quale è di grana un bianco avorio asperso, | wie ein weißes Elfenbein ist, besprengt mit Karmesin, | |
di sé vedendo quelle parti ignude, | an sich jene Körperteile nackt sehend, | |
ch’ancor che belle sian, vergogna chiude. | welche, obgleich sie schön sind, Scham verschließt. | |
forza ~ necessario, inevitabile, divegna = diventa grana: hier "Kermes-, Scharlachkörner", die getrockneten Weibchen der Kermesschildlaus, aus denen der rote Farbstoff Karm(es)in gewonnen wird. zusammenziehend: die Fesseln od. Ketten kennzeichnet: durch Abschürfungen, blaue Flecken o.ä.? Karmesin: ein leuchtendroter Farbstoff, Angelica wird vor Scham über ihre Nacktheit knallrot. | ||
99 | E coperto con man s’avrebbe il volto, | Und sie hätte sich mit Händen das Gesicht bedeckt, |
se non eran legate al duro sasso; | wenn sie nicht an den harten Fels gebunden gewesen wären; | |
ma del pianto, ch’almen non l’era tolto, | Aber mit dem Weinen, das wenigstens nicht weggenommen war, | |
lo sparse, e si sforzò di tener basso. | benetzte sie es, und sie bemühte sich, es niederzuhalten. | |
E dopo alcun’ signozzi il parlar sciolto, | Und nachdem einige Schluchzer die Rede gelöst, | |
incominciò con fioco suono e lasso: | begann sie mit heiserem und schlaffem Ton: | |
ma non seguì; che dentro il fe’ restare | aber sie fuhr nicht fort; denn drinnen ließ er innehalten, | |
il gran rumor che si sentì nel mare. | der große Lärm, den man im Meer hörte. | |
di tener: v.l. tenerlo, signozzi = singhiozzi, fe’ = fece il = egli, esso, costui? | ||
100 | Ecco apparir lo smisurato mostro | Siehe, da erscheint das unermessliche Ungeheuer |
mezzo ascoso ne l’onda e mezzo sorto. | halb verborgen in der Welle und halb aufgetaucht. | |
Come sospinto suol da borea o d’ostro | Wie getrieben vom Nordwind oder Südwind ein langes Schiff zu kommen pflegt, in den Hafen einzulaufen, | |
venir lungo navilio a pigliar porto, | ||
così ne viene al cibo che l’è mostro | so kam zur Speise, die ihm gezeigt wurde, | |
la bestia orrenda; e l’intervallo è corto. | das grauenhafte Untier; und der Abstand ist kurz. | |
La donna è mezza morta di paura; | Die Frau ist halbtot vor Angst; | |
né per conforto altrui si rassicura. | und sie beruhigt sich nicht durch Trost von anderen. | |
ascoso (Part. v. ascondere) = nascosto (nascondere),
navilio ~ nave, mostro = mostrato pigliare porte: "Hafen erwischen/kriegen = einlaufen" | ||
101 | Tenea Ruggier la lancia non in resta, | Ruggiero hielt die Lanze nicht im Rüsthaken, |
ma sopra mano, e percoteva l’orca. | sondern überhändig, und er schlug die Orca. | |
Altro non so che s’assimigli a questa, | Anderes weiß ich nicht, das jener gleichkommt, | |
ch’una gran massa che s’aggiri e torca; | als eine große Masse, die sich dreht und biegt; | |
né forma ha d’animal, se non la testa, | und sie hat keine Gestalt eines Tieres außer dem Kopf, | |
c’ha gli occhi e i denti fuor, come di porca. | der die Augen und Zähne außen hat, wie von einer Sau. | |
Ruggier in fronte la ferìa tra gli occhi; | Ruggiero verletzte sie an der Stirn zwischen den Augen; | |
ma par che un ferro o un duro sasso tocchi. | aber es scheint, als berührt er ein Eisen oder einen harten Fels. | |
Rüsthaken, überhändig: der Rüsthaken ist ein ausklappbarer Ausleger an spätmittelalterl. Rüstungen zum Auflegen der Lanze; überhändig heißt hier wohl, dass die Lanze am Unterarm aufgelegt war. | ||
102 | Poi che la prima botta poco vale, | Da der erste Hieb wenig vermag, |
ritorna per far meglio la seconda. | kehrt er zurück, um den zweiten besser zu machen. | |
L’orca, che vede sotto le grandi ale | Die Orca, die unter den großen Flügeln sieht | |
l’ombra di qua e di là correr su l’onda, | den Schatten auf der Welle herüber- und hinüberlaufen, | |
lascia la preda certa litorale, | läßt die sichere Beute an der Küste | |
e quella vana segue furibonda: | und verfolgt rasend jene vergebliche: | |
dietro quella si volve e si raggira. | sie wälzt sich hinter jener her und dreht sich umher. | |
Ruggier giù cala, e spessi colpi tira. | Ruggiero sinkt herab und versetzt häufige Stöße. | |
volve = volge | ||
103 | Come d’alto venendo aquila suole, | Wie ein Adler, von oben kommend, pflegt |
ch’errar fra l’erbe visto abbia la biscia, | die Natter, die er zwischen dem Gras umherschweifen gesehen hat, | |
o che stia sopra un nudo sasso al sole, | oder die auf einem nackten Fels in der Sonne liegt, | |
dove le spoglie d’oro abbella e liscia; | wo sie die goldene Haut schmückt und glättet, | |
non assalir da quel lato la vuole | sie nicht von jener Seite angreifen will, | |
onde la velenosa e soffia e striscia, | von wo die Giftige zischt und sich schlängelt, | |
ma da tergo la adugna, e batte i vanni, | sondern sie von hinten mit den Krallen packt und die Flügel schlägt, | |
acciò non se le volga e non la azzanni: | damit sie sich nicht dreht und ihn nicht beißt: | |
adugnare = adunghiare Wie man den Satz auch wendet, er bleibt m.E. ein Anakoluth. O che ist nur dann syntaktisch sinnvoll, wenn man auch das vorangehende ch’ auf die Schlange bezieht. Dann wäre la biscia Obj. zu einem Vb., das aber fehlt. | ||
104 | così Ruggier con l’asta e con la spada, | so Ruggiero mit der Lanze und mit dem Schwert, |
non dove era de’ denti armato il muso, | nicht wo das Maul mit Zähnen bewaffnet war, | |
ma vuol che ’l colpo tra l’orecchie cada, | sondern zwischen den Ohren will er, dass der Hieb fällt, | |
or su le schene, or ne la coda giuso. | nun auf den Rücken, nun in den Schwanz hinunter. | |
Se la fera si volta, ei muta strada, | Wenn das Tier sich dreht, ändert er die Bahn, | |
ed a tempo giù cala, e poggia in suso: | und zu gegebener Zeit sinkt er herab, und er steht oben: | |
ma come sempre giunga in un diaspro, | aber als ob er immer an einen Jaspis gelangte, | |
non può tagliar lo scoglio duro ed aspro. | kann er die harte und rauhe Klippe nicht zerschneiden. | |
schene = schiena, giuso = giù, ei = egli, suso = su Jaspis: Varietät des Quarzes, hier als harter Stein | ||
105 | Simil battaglia fa la mosca audace | Ähnlichen Kampf kämpft die dreiste Fliege |
contra il mastin nel polveroso agosto, | gegen die Dogge im staubigen August, | |
o nel mese dinanzi o nel seguace, | oder im Monat davor oder im nachfolgenden, | |
l’uno di spiche e l’altro pien di mosto: | der eine voll von Ähren, der andere von Most: | |
negli occhi il punge e nel grifo mordace, | in die Augen sticht sie und in die bissige Schnauze, | |
volagli intorno e gli sta sempre accosto; | fliegt um sie herum und bleibt ihr immer nahe; | |
e quel suonar fa spesso il dente asciutto: | und jene lässt oft den trockenen Zahn erschallen: | |
ma un tratto che gli arrivi, appaga il tutto. | aber ein Zug, der sie erreicht, entschädigt für alles. | |
Dogge: wörtl. "Mastiff", eine
Gruppe doggenartiger Hunderassen il punge, gli arrivi: obwohl mask., müssen sich die Pron. auf la mosca beziehen lässt den Zahn erschallen: gemeint wohl das Geräusch, wenn der Hund zubeißt, aber die Fliege nicht erwischt. | ||
106 | Sì forte ella nel mar batte la coda, | So stark schlägt sie im Meer den Schwanz, |
che fa vicino al ciel l’acqua inalzare; | dass sie das Wasser nahe dem Himmel ansteigen lässt; | |
tal che non sa se l’ale in aria snoda, | dermaßen dass er nicht weiss, ob es die Flügel in der Luft bewegt, | |
o pur se ’l suo destrier nuota nel mare. | oder ob sein Ross im Meer schwimmt. | |
Gli è spesso che disia trovarsi a proda; | Ihm ist oft, dass er wünscht, sich an Bord zu befinden; | |
che se lo sprazzo in tal modo ha a durare, | denn wenn das Spritzen in dieser Art weitergehen wird, | |
teme sì l’ale inaffi all’ippogrifo, | fürchtet er, es benetze dem Hippogryph die Flügel so, | |
che brami invano avere o zucca o schifo. | dass er vergeblich entweder Kürbis oder Boot zu haben begehrt. | |
o pur = oppure, disiare = desiderare,
proda = prora, inaffare = innaffiare nahe dem Himmel: bis in die Nähe des Himmels, fast bis zum Himmel ha a durare: Aus dieser Konstruktion hat sich das Fut. entwickelt (durare ha > durer-a), daher habe ich es hier so übersetzt; davon zu unterscheiden ist die Konstruktion mit da: ha da scrivere "er hat zu schreiben, muss schreiben". Kürbis: hier offenbar eine Schwimmhilfe, Gries übersetzt "Schwimmblas’" schifo: "Boot" (vgl. frz. esquif, dt. Schiff) | ||
107 | Prese nuovo consiglio, e fu il migliore, | Er fasste neuen Entschluss, und er war der beste, |
di vincer con altre arme il mostro crudo: | das rohe Ungeheur mit anderen Waffen zu besiegen: | |
abbarbagliar lo vuol con lo splendore | blenden will er es mit dem Glanz, | |
ch’era incantato nel coperto scudo. | welcher gezaubert war in den zugedeckten Schild. | |
Vola nel lito; e per non fare errore, | Er fliegt zum Ufer; und um keinen Fehler zu begehen, | |
alla donna legata al sasso nudo | lässt er der an den nackten Fels gebundenen Frau | |
lascia nel minor dito de la mano | am kleinsten Finger der Hand | |
l’annel, che potea far l’incanto vano: | den Ring, der den mächtigen Zauber vollbringen konnte: | |
abbarbagliare = abbagliare zugedeckten Schild: der Zauberschild musste, wenn er nicht verwendet wurde, mit einem Tuch bedeckt transportiert werden. um keinen Fehler zu begehen: s. V.109f mächtigen Zauber: vano heißt eigentl. "leer, nichtig, erfolglos, nutzlos", aber sowohl Gries als auch Croker übersetzen "mächtig". | ||
108 | dico l’annel che Bradamante avea, | ich rede von dem Ring, den Bradamante hatte, |
per liberar Ruggier, tolto a Brunello, | um Ruggiero zu befreien, dem Brunello weggenommen, | |
poi per trarlo di man d’Alcina rea, | dann, um ihn aus der Hand der schuldigen Alcina zu ziehen, | |
mandato in India per Melissa a quello. | durch Melissa jenem nach Indien gesandt. | |
Melissa (come dianzi io vi dicea) | Melissa (wie ich euch vor kurzem sagte) | |
in ben di molti adoperò l’annello; | benutzte den Ring zum Wohle vieler; | |
indi l’avea a Ruggier restituito, | danach hatte sie ihn Ruggiero zurückgegeben, | |
dal qual poi sempre fu portato in dito. | von welchem er dann immer am Finger getragen wurde. | |
109 | Lo dà ad Angelica ora, perché teme | Ihn gibt er jetzt Angelica, weil er fürchtet, |
che del suo scudo il fulgurar non viete, | dass er das Blitzen seines Schildes verwehrt, | |
e perché a lei ne sien difesi insieme | und damit ihr davon zugleich geschützt sind | |
gli occhi che già l’avean preso alla rete. | die Augen, die ihn schon im Netz gefangen hatten. | |
Or viene al lito e sotto il ventre preme | Nun kommt es zum Ufer, und unter dem Bauch drückt | |
ben mezzo il mar la smisurata cete. | gut das halbe Meer das maßlose Riesentier. | |
Sta Ruggiero alla posta, e lieva il velo; | Ruggiero ist auf dem Posten, und er hebt die Verhüllung; | |
e par ch’aggiunga un altro sole al cielo. | und es scheint, dass er dem Himmel eine zweite Sonne hinzufügt. | |
fulgurare ~ frz. fulgurer che... non: wie lat. ne nach Vb. des Fürchtens cete: vgl. cetaceo "Wal(fisch)", Gries: "Ungethüm" | ||
110 | Ferì negli occhi l’incantato lume | Das Zauberlicht traf in die Augen |
di quella fera, e fece al modo usato. | jenes Tieres und wirkte in gewohnter Weise. | |
Quale o trota o scaglion va giù pel fiume | Wie Forelle oder Schuppenfisch hinabschwimmt durch den Fluss, | |
c’ha con calcina il montanar turbato, | den der Bergbewohner mit Kalk getrübt hat, | |
tal si vedea ne le marine schiume | so sah man in den Meeresschäumen | |
il mostro orribilmente riversciato. | das schrecklich umgedrehte Ungeheuer. | |
Di qua di là Ruggier percuote assai, | Hüben und drüben schlägt Ruggiero sehr, | |
ma di ferirlo via non truova mai. | aber niemals findet er einen Weg, es zu verletzen. | |
pel = per il, riversciare = rovesciare Schuppenfisch: ital. scaglion ist wohl Augm. zu la scaglia "Schuppe"; Croker übersetzt mit "Stör" (ital. storione), aber mir ist unklar, ob und welche spezielle Fischart gemeint ist. | ||
111 | La bella donna tuttavolta priega | Die schöne Frau bittet immerfort, |
ch’invan la dura squama oltre non pesti. | dass er nicht weiter vergeblich die harte Schuppe trete. | |
- Torna, per Dio, signor: prima mi slega | "Kehr um, Herr, bei Gott: binde mich los", | |
(dicea piangendo), che l’orca si desti: | sagte sie weinend, "bevor die Orca erwacht: | |
portami teco e in mezzo il mar mi anniega: | trag mich mit dir und ertränke mich mitten im Meer: | |
non far ch’in ventre al brutto pesce io resti. - | mach nicht, dass ich dem hässlichen Fisch im Bauch bleibe." | |
Ruggier, commosso dunque al giusto grido, | Ruggiero, nun bewegt vom gerechten Aufschrei, | |
slegò la donna, e la levò dal lido. | band die Frau los und hob sie vom Strand. | |
112 | Il destrier punto, ponta i piè all’arena | Das angespornte Ross stemmt die Hufe in den Sand |
e sbalza in aria, e per lo ciel galoppa; | und springt in die Luft, und es galoppiert über den Himmel; | |
e porta il cavalliero in su la schena, | und es trägt den Ritter auf dem Rücken, | |
e la donzella dietro in su la groppa. | und das Fräulein dahinter auf der Kruppe. | |
Così privò la fera de la cena | So beraubte es das Tier seiner Mahlzeit, | |
per lei soave e delicata troppa. | für es zu lieblich und erlesen. | |
Ruggier si va volgendo, e mille baci | Ruggiero fliegt, sich umwendend, und tausend Küsse | |
figge nel petto e negli occhi vivaci. | drückt er auf die Brust und auf die lebhaften Augen. |
Ruggiero ist geil auf Angelica und erwartet sich Entlohnung in Naturalien. Er landet mit ihr in der Bretagne und reißt sich sogleich die Rüstung vom Leib. Doch sie benutzt den Zauberring, den sie immer noch am Finger trägt, macht sich unsichtbar und verschwindet ungehindert. Die Orca treibt immer noch ihr Unwesen. Ihr (und den Piraten) den Garaus zu machen, bleibt Orlando überlassen (11. Gesang).
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 25. Mai 2023