Michael Neuhold Homepage
Startseite > Biblica > Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt?

Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt?


„Ist die Bibel richtig übersetzt?“ So fragt Pinchas Lapide in einem Büchlein (dem dann ein zweiter Band gleichen Titels folgte). Und seine Antwort ist natürlich nein: die Bibel der Christen sei voller Fehlübersetzungen. Selbst das NT stecke voller Missverständnisse des jüdischen Hintergrunds Jesu. Wobei Lapide im Eifer für den Glauben seiner Väter öfters die akademische Fairness missen lässt. Neben manchem Bedenkenswerten steht in Lapides Ausführungen vieles, worüber man geteilter Meinung sein kann, und nicht weniges, was man auch bei Nachlass aller Taxen nur als falsch bezeichnen kann. Ob es mir gelungen ist, immer sachlich zu bleiben, mag der Leser beurteilen. In Glaubensfragen kann vermutlich kaum jemand ganz sachlich und neutral sein. Mein Standpunkt ist natürlich ebenso dezidiert (heiden-)christlich, wie Lapides (rabbinisch-)jüdisch ist. Die Bücher, auf die ich mich beziehe:

Ich habe mich bei weitem nicht mit jeder fragwürdigen Behauptung Lapides auseinandergesetzt, sondern Dinge herausgepickt, die mir aus irgendeinem Grund interessant erschienen sind oder bei denen sich mein wortkundliches Interesse gemeldet hat. Manche Anwürfe Lapides sind auch zu kindisch, um ihnen etwas zu entgegenen („Wie blau ist das Rote Meer?“, Bd. 2, S. 46).

Ich werde im folgenden die hebräische Bibel, den Tanach, als Altes Testament (AT) bezeichnen. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern diese Bezeichnung ist die im Christentum seit Jahrhunderten übliche, und ich bin sie seit 40 Jahren gewohnt. Dass hinter alt natürlich auch ein theologisches Programm steckt (Hebr 8,6-13), sei gerne zugegeben. Wir Christen haben eben auch ein Neues Testament (NT), das für uns Priorität genießt. Das gehört zu meinem unverzichtbaren Glauben, und ich werde mich sowenig dafür entschuldigen, wie ich erwarte, dass Juden das NT als Wort Gottes anerkennen. Im übrigen betrachte ich political correctness als Kinderei. Ist es nicht besser, ich spreche mit Hochachtung von Zigeunern als voller Verachtung von Sinti und Roma?

Ich habe die Bibelstellen selbst, und zwar (da es ja um deren Sprache geht) sehr wörtlich übersetzt. Mit Fehlern ist daher zu rechnen und ich empfehle dringend, zum Vergleich eine der gängigen Übersetzungen heranzuziehen. Bei vielen Stellenangaben versteckt sich meine Übersetzung hinter einem Tooltip, z.B. Gen 1,1: mit der Maus überfahren, damit die Übersetzung angezeigt wird. In etlichen Fällen habe ich stattdessen Links auf den BibleServer gesetzt, und zwar auf die Übersetzung, die am besten zeigt, was es zu zeigen gilt.

Ich setze voraus, dass der an Übersetzungsfragen interessierte Bibelleser weiß, was die Septuaginta (abgek. LXX), die Vulgata (abgek. Vulg.), ein Targum ist. Die wenigen Stellenangaben aus dem Talmud sind nach der Zitierweise von Michael Krupp (Einf. in d. Mischna, Frankfurt, Leipzig: Verl. d. Weltreligionen, 2007) angeführt: m = Mischna, b = Babylon. Talmud; Ber = Berakhot, Shab = Shabbat, BQ = Baba Qamma; in eckigen Klammern ist die Foliozählung Bombergs mitgegeben.

Übersetzen

„Kann man die Bibel übersetzen?“ fragt Lapide in einem Kapitel (Bd. 1, S. 26ff), und wenn er die Frage auch letztlich nicht verneint, nicht verneinen kann, führt er doch etliche Seiten Begründungen auf, warum es praktisch (fast) nicht geht. Doch das ist fragwürdiges Gejammer. Alles kann man übersetzen, auch die Bibel. Es ist nur die Frage, wie hoch der „Ölverlust“ dabei ist. Denn natürlich kann eine Übersetzung nicht alle Bedeutungsnuancen und alle formalen Raffinessen des Originals wiedergeben. Eine Übersetzung ist genau dies: eine Übersetzung und nicht das Original. Doch welcher Leser des Originals kann beim ersten Lesen alle diese Feinheiten erfassen? Erst wenn man versucht zu übersetzen, werden einem solche Dinge bewusst. Daher sind es die Übersetzer von Luther bis Rosenzweig, die am lautesten über die Unübersetzbarkeit jammern.

„Denn die Denkstrukturen, die Mentalität und der Sprachgeist von Athen und Jerusalem sind so verschieden voneinander, daß sie, rein semantisch, kaum zu überbrücken sind.“ (Bd. 1, S. 42). Diese Behauptung wird auch von anderen (Thorleif Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen) immer wieder vorgebracht. Aber stimmt sie auch? Zugegeben, es gibt Mentalitätsunterschiede zwischen den Völkern, die sich auch darin zeigen, wie die Wirklichkeit versprachlicht wird. Aber meines Erachtens sind die menschlichen Konstanten letztlich bei weitem größer als die Unterschiede.

Zeitverständnis

„Daher kennt das hebräische Zeitverständnis weder die krasse Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch die sechs Temporalformen des Deutschen.“ (Bd. 1, S. 61) Hier vermischt Lapide Grammatik und Mentalität. Selbstverständlich kennt auch das hebräische Denken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so wie es gestern (אֶתְמוֺל ʾætmôl), heute (הַיּוֺם hajjôm) und morgen (מָחָר māḥār) kennt; dies ist eine menschliche Universalie. Aber versprachlicht werden sie auf der Ebene des Zeitworts anders. Wie übrigens auch das Dt. beim Bezeichnen der Zeitstufen nachlässig ist und die Zukunft häufig, die Vergangenheit mitunter durch das Präsens wiedergibt („Morgen fahre ich nach Wien.“ „Neulich komme ich nach Hause, und was muss ich sehen!“) Es gibt Sprachen (wie das klassische Chin.), die überhaupt keine Tempora haben, und dennoch kann man sie übersetzen. Nebenbei bemerkt: bereits das Mischnische Hebr. der Spätantike hat (durch aram. Einfluss) beim Verb genau diese Dreiteilung in Präsens (qotel), Futur (jiqtol) und Perfekt (qatal) durchgeführt, die das hebräische Zeitverständnis angeblich nicht kennt und die auch typisch für das Verb im modernen Hebr. ist.

Sein


Nachzeichnung von: René Magritte, La trahison des images („Der Verrat der Bilder“), Öl auf Leinwand, 1929, County Museum, Los Angeles.– Magritte starb 1967, daher sind Reproduktionen seiner Bilder noch nicht gemeinfrei. Wikipedia hat eine Reproduktion des Bildes und beruft sich auf das Fair-use-Prinzip. Ich wage das nicht und zeige daher nur eine sehr amateur­hafte Nachzeichnung. (Wahrscheinlich ist auch das verboten.)

Eine nicht totzukriegende Mär bemüht Lapide im Zusammenhang mit der Diskussion um das Abendmahlsverständnis, wenn er behauptet, dass „das Zeitwort in den Stiftungsworten Jesu »Dies ist mein Leib« weder im Hebräischen noch im Aramäischen existiert“ (Er predigte, S. 12). Was Lapide sagen will: es gibt im Hebr. kein Wort, das sein bedeutet (s.a. Bd. 1, S. 33f). Das ist unrichtig. Das Hebr. und Aram. haben sehr wohl ein solches Verbum: hebr. היה hjh (הוה hwh), aram. הוה hwh (הוא hwʾ, הוי hwj) „geschehen; da sein; sein, werden“. Wie anders könnte Gott auf die Frage nach seinem Namen dem Mose antworten: „Ich bin, der ich bin.“ (Ex 3,14)? Was wohl nicht mehr heißt als: das sage ich dir nicht (s. Der alttestamentliche Gottesname: Zur Etymologie des Namens.)

In diese angebliche Selbstbezeugung Gottes wird, auch von christlicher Seite, eine Menge hineingeheimnist; heute meist vom Mit-Sein Gottes. Lapide zitiert (Bd. 1, S. 34) Bubers Übersetzung: „Ich werde da sein, als Der Ich da sein werde.“ In der Stuttgarter Erklärungsbibel heißt es zur Stelle: „»Er wird sein« im Sinne von: »er wird beständig (für euch) dasein«. [...] und macht damit ganz deutlich, daß der Name seine Wesensart offenbart, auf sein Handeln verweist (inhaltlich gleich ist die Aussage in V. 12 [...]).“ Welcher Name? Gott nennt seinen Namen ja gar nicht. Der Verweis auf V. 12 „ich will/werde mit dir sein“ passt nicht, denn die eigentlich Aussage steckt dort im Präpositionalausdruck עִמָּךְ ʿimmāk „mit dir“; das אֶהְיֶה ʾæhjæ̂ „ich bin“ ist kaum mehr als Kopula, es stützt den Präpositionalausdruck, da die Handlung in der Zukunft liegt.

Richtig ist jedoch (und vielleicht wollte Lapide darauf hinaus), dass das atl. Hebr. in Sätzen mit nominalem Prädikat ohne Kopula (d.h. ohne Form von sein) auskommt, was im Dt. höchstens in Sprichwörtern vorkommt („Ende gut, alles gut“). Ein Beispiel ohne Kopula ist Gen 17,1: „ich [erg. bin] El Šaddaj (der allmächtige Gott)“. Doch wird היה auch gelegentlich als Kopula eingesetzt. Es steht insbesondere, wenn die Handlung in der Vergangenheit (Gen 1,2) oder in der Zukunft (Ex 7,1; s.o. Ex 3,12) liegt. Besonders gern wird partizipiales Prädikat mit היה gestützt (Hi 1,14).

Ob Jesus den Satz mit oder ohne Kopula formuliert hat, ist eine unbeantwortbare und letztlich auch müßige Frage. Denn unabhängig davon ist Luthers Argument für sein Abendmahlsverständnis, es stehe ja est („dies ist mein Leib“), ohnehin nicht stichhaltig. Ist bezeichnet nämlich nicht nur die Seinsidentität, sondern kann auch bedeuten „stellt dar, bedeutet, steht für“ o.ä. Das hat auch René Magritte gezeigt mit seinem berühmten Bild einer Pfeife, unter die er geschrieben hat: „Ceci n'est pas une pipe.“ („Dies ist keine Pfeife.“) Auf den Einwand: „Natürlich ist das eine Pfeife!“ hätte Magritte geantwortet: „Dann versuche sie zu rauchen.“ Geht nicht, denn es ist nur die Abbildung einer Pfeife.

Hierher gehören auch Fälle wie: Der stolze Autobesitzer sagt: „Ich bin der rote BMW dort drüben.“ Eine Kellnerin sagt zum Gast: „Sie sind der Schweinebraten.“ Wirklich passiert: die Krankenschwester fragte mich: „Sie sind eine lokale Tonsille?“ D.h. Sie sind hier zum Behufe einer Tonsillektomie (Entfernung der Mandeln) mit lokaler Anästhesie?

Übersetzen, was dasteht

Eine der grundlegenden Fragen, die ein Übersetzer entscheiden muss, ist: soll er übersetzen, was dasteht, oder soll er übersetzen, was (vermutlich) gemeint ist? Entscheidet er sich für ersteres, riskiert er, dass er den Leser im Regen des Nicht-Verstehens oder des Missverständnisses stehen lässt. Entscheidet er sich für letzteres, riskiert er, allzu oft das Verständnis nach einer Richtung einzuschränken. Und vor allem führt es allzu leicht zu fragwürdigen Übersetzungen wie der Neue-Welt-Übersetzung der Zeugen Jehovas oder der Bibel in gerechter Sprache. Hier wird nicht mehr übersetzt, was der Text sagen möchte, sondern was er gemäß der Ideologie des Übersetzers sagen sollte. Und eine bewusste Verfälschung des Textes ist niemals akzeptabel.

Nun behauptet Lapide, die wörtliche Übersetzung der Worte Jesu sei „ohne Kenntnis seiner hebräischen Bibel oft unklar und mißverständlich“ (Bd. 1, S. 123). Anlass für dieses Diktum sind Lk 14,26 und Joh 12,25. Im Text steht „hassen“, gemeint ist dabei (gemäß atl. Sprachgebrauch) „hintanstellen, an die zweite Stelle setzen“. Der ernsthafte Bibelleser aber wird die intendierte Bedeutungsnuance aus dem Kontext und im Vergleich mit ähnlichen Stellen bemerken. Lapide selbst nennt dabei Mt 6,24, Mal 1,2f (zitiert in Röm 9,13). Ich füge noch Gen 29,30f hinzu. Ich habe nie angenommen, dass Jesus wirklich wollte, dass wir uns selbst oder unsere Eltern (Kinder, Geschwister) hassen. Es geht um Prioritäten: was nimmt in unserem Leben die erste Stelle ein? Und der auf den ersten Blick krasse Ausdruck lässt uns auch aufmerken und zeigt uns, wie ernst es Jesus damit ist.

Polysemie

Ein Begriff einer Sprache kann selten mit allen seinen Bedeutungsnuancen in eine andere Sprache übersetzt werden (außer es handelt sich um technische Fachbegriffe). Eine Übersetzung wird daher (in der Regel) den jeweils im Kontext passendsten zielsprachlichen Begriff wählen. (Eine Ausnahme von der Regel wäre, dass man einen etymologischen Zusammenhang aufzeigen möchte, z.B. bei Wortspielen.) Wenn die Mehrdeutigkeit eines Wortes im Kontext wichtig ist, aber nicht passend wiedergegeben werden kann, muss der Übersetzer notfalls zur Fußnote greifen. Dies ist eine prinzipielle Beschränkung beim Übersetzen, deshalb ist die Übersetzung noch nicht falsch. Diesen „Mangel“ an einer Übersetzung zu kritisieren ist unfair und unsachlich. Auch Lapide kann nicht besser oder richtiger übersetzen.

Schalom

„Frieden ist nur einer der Bestandteile von SCHALOM, dessen ganze Bedeutungsbreite in keinem deutschen Einzelwort versprachlicht werden kann.“ (Bd. 1, S. 55) Das gilt nicht nur für Schalom, sondern wohl für fast jedes Abstraktum in jeder Sprache. Denn genau darin liegt das Wesen der Polysemie. Hebr. שָׁלוֺם šālôm „Friede, Heil, Wohlbefinden“ ist einer der Klassiker zum Thema Vieldeutigkeit atl. Begriffe. Aber ist nicht auch dt. Friede keineswegs ein eindimensionaler Begriff? Oder was meint Eichendorff mit Frieden, wenn er dichtet: „O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot“. Nur die Abwesenheit von Kampfhandlungen? Was wünschen Katholiken einander, wenn sie in der Messe sagen: „Friede sei mit dir“? Lediglich das Ausbleiben von Streit und Krieg? Richtig ist, dass im landläufigen Sprachgebrauch der dt. Friede mehr die Ruhe und Stille bezeichnet, der hebr. Schalom mehr den Aspekt der Unversehrtheit und des Heilseins.

Eine auf Lesbarkeit bedachte Übersetzung wird Schalom ohnehin je nach Kontext wiedergeben.

Im übrigen darf man darauf vertrauen, dass ein aufmerksamer Bibelleser rasch die Konnotationen bemerkt, die mitschwingen, wenn der dt. Bibeltext von Frieden spricht.

Richtig ist auch, dass im politischen Kontext lat. pax oft die Friedhofsruhe über den Gräbern derer, die sich der Unterwerfung widersetzt haben, bedeutet (Tac. Agr. 30,5: ubi solitudinem faciunt, pacem appellant. „Wo sie eine Einöde machen, nennen sie es Frieden.“) Aber war nicht auch der Schalom unter König David von derselben Art? 2Sam 10,19: „Alle Könige, die Hadad-Eser dienten, sahen, dass sie geschlagen waren vor Israel. Da schlossen sie Frieden mit Israel und dienten ihnen.“ D.h. die Verbündeten des aramäischen Königs kapitulierten und wurden den Israeliten untertan.

Torah

Dass Lapide mit der Übersetzung von Tora(h) als „Gesetz“ keine Freude hat, liegt natürlich vor allem an dem abwertenden Klang, den dieses Wort in der christlichen Theologie hat (Gesetz im Gegensatz zu Gnade, Freiheit, usw.). Doch was bedeutet es wirklich? תּוֺרָה tōrâ kommt vom Verbum ירה jrh „zeigen, weisen; unterweisen, lehren“ und heißt zunächst „Unterweisung, Lehre“, dann auch „Anweisung, Regelung, Bestimmung, Gebot“ und bezeichnet schließlich die Gesamtheit der Bestimmungen der göttlichen Offenbarung an Mose (z.B. Dt 1,5). Jüdische (!) Schriftgelehrte haben letztere Bedeutung mit griech. νόμος nómos wiedergegeben, was in der Vulg. zu lex und im Dt. zu Gesetz wurde. Torah nennt man auch die fünf Bücher, in denen diese Offenbarung niedergelegt ist, den Pentateuch (Gen, Ex, Lev, Num, Dtn).

Torah ist mehr als Gesetz, aber es ist vor allem Gesetz, Handlungsanweisung, Bestimmung. Das Problem ist weniger das dt. Wort als vielmehr Stellen wie Röm 7 oder Gal 3-4 (3,13: „Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes“). Paulus war in seiner Mission sehr darauf bedacht klarzustellen, dass man sich nicht durch ein Leben nach der Torah (und das heißt durch die Einhaltung von Sabbatgebot, Reinheitsbestimmungen, Speisengesetzen usw.) selbst erlösen kann. Einem Juden mag dies von Haus aus klar sein, den Heidenchristen hat Paulus es mit torahfeindlich klingenden Worten eingehämmert. Diese Haltung gegenüber der Torah werden wir Heidenchristen nicht wirklich los, daher ist es egal, wie wir das Kind nennen.

Prophet

Hebr. נָבִיא nāḇî „Prophet“ ist wohl Part. Präs. der Wurzel נבא nbʾ, die soviel wie „ausrufen, verkünden“ heißt (ass. nabû); die im AT belegten Formen dieses Verbs sind allerdings denominal vom nāḇî abgeleitet. Zur Funktion des Propheten s. z.B. Ex 7,1. Die jüdischen (!) Übersetzer haben das Wort in der LXX mit προφήτης prophḗtēs wiedergegeben. Dieser ist der „Heraussager, Verkünder, Ausleger“ des göttlichen Willens (vgl. προ-αγορεύω pro-agoreúō „laut verkünden, öffentlich bekanntmachen; vorhersagen“, das von Lapide genannte pró-phēmi „vorhersagen“ ist erst ganz spät belegt). Im Gegensatz dazu ist der μάντις mántis der „Seher, Weissager“: μαντεύεο, Μοῖσα, προφατεύσω δ’ ἐγώ (Pind. fr. 150) „weissage, Muse, ich werde (es) auslegen/verkünden“. Insbesondere deutet der Prophet in verständlichen Worten, was der Seher in göttlicher Ergriffenheit gestammelt hat.

Keineswegs ist der griech. prophetes nur einer, der die Zukunft vorhersagt (Bd. 1, S. 49). Und genauso spricht es den atl. Texten Hohn zu behaupten, der hebr. nabi würde niemals die Zukunft weissagen (Bd. 1, S. 48: „Kurzum, die »Propheten« beschäftigen sich mit allem möglichen […] mit einer bemerkenswerten Ausnahme: der eigentlichen Prophetie im klassischen Sinne des Wortes, nämlich als das Vorhersagen der Zukunft.“) Jesaja prophezeit Kap. 13-23 der heidnischen Völkerwelt das Gericht (ähnlich Hes 25-32, Joel 4). Obadja prophezeit das Strafgericht über die Edomiter. Amos prophezeit Kap. 3-5 das Gericht über das Nordreich Israel. Micha prophezeit Kap. 4-5 das kommende Friedensreich usw. Auf die Frage, wie man erkennt, ob ein Prophet zu Recht den Anspruch erhebt, im Namen Gottes zu sprechen, antwortet Dtn 18,22: „Wenn der Prophet redet im Namen JHWHs und das Wort (die Sache) wird (geschieht) nicht und kommt nicht (trifft nicht ein): dies ist das Wort, das JHWH nicht geredet hat.“ Anders gesagt: wenn eine Vorhersage nicht eintrifft, dann war sie nicht von Gott.

Die ersten Christen haben die atl. Prophetie verwendet, um das Jesusgeschehen im Kontext jüdisch-messianischer Heilserwartung theologisch zu verorten und einzubetten. Und die judenchristliche Missionspredigt hat sie verwendet, um aufzuweisen, dass Jesus der verheißene Messias ist (z.B. Pfingstpredigt des Petrus Apg. 2,14-36, Predigt des Petrus im Tempelvorhof Apg 3,12-26).

Wenn ich sage verwendet, gebrauche ich eine Unterscheidung, die ich von Umberto Eco habe: Die Interpretation eines Textes fragt danach, was der Autor wem sagen wollte. Die Verwendung fragt danach, was ich heute für mich dem Text entnehmen kann, unabhängig davon, ob dies vom Autor so intendiert war. Wenn wir die Bibel interpretieren, ist sie ein religionsgeschichtliches Dokument, das uns zeigt, was Menschen vor zwei- bis dreitausend Jahren von Gott geglaubt haben. Wenn wir sie daraufhin befragen, was sie uns heute zu sagen hat, verwenden wir sie.

Es ist Lapides gutes Recht zu bezweifeln, dass sich in Jesus viele Prophezeiungen des AT erfüllt haben (Bd. 1, S. 51-53). Aber deswegen so zu tun, als seien es keine Vorhersagen zukünftiger Ereignisse, ist mehr als nur verschroben. Die entscheidende Frage ist, ob das dt. Wort Prophet den Sachverhalt angemessen wiedergibt. Nun ist dieses Wort ein theologisches Fachwort geworden, bei dem wohl nicht nur ich an Elia, Jesaja und Co. denken muss. Es gibt kein geeigneteres dt. Wort dafür. Und wer die Bibel und die Bücher der Schriftpropheten liest, wird relativ rasch dessen innewerden, was einen atl. Propheten ausmacht.

Notwendige Korrekturen?

Viele der angeblich notwendigen Korrekturen im christlichen Verständnis des AT sind aus meiner Sicht Beschönigungen zur höheren Ehre des Wortes Gottes (und/oder des jüdischen Glaubens).

Heimsuchen

Die Wiedergabe des hebr. פקד pqd „aufsuchen, untersuchen, heimsuchen“ in Ex 20,5 (auch Ex 34,7; Dt 5,9) mit „bestrafen“ liegt durch den Kontext und den jeweils korrespondierenden Vers (Gott erweist Gnade an Tausenden, die ihn lieben und seine Gebote halten) nahe. Ein anderes Verständnis ist möglich, aber nicht richtiger.

Macht euch die Erde untertan

Die Übersetzung „Macht euch die Erde untertan!“ (Gen 1,28) ist mitnichten „so arg verzerrt, so selbstherrlich mißverstanden und fehlgedeutet“ (Bd. 1, S. 62), wie Lapide lautstark behauptet. Hebr. כּבשׁ kbš bedeutet „unterwerfen, unterjochen“ (Jer 34,11.16; 2Chr 28,10). Wo Lapide im Text das „weise und umsichtig zu verwalten, zu erhalten und zu entfalten“ herausliest, ist mir unverständlich. Der Vers wurde nicht als Reaktion auf den Bericht des Club of Rome geschrieben, sondern er ist in einer Zeit entstanden, als die Natur oft als lebensfeindlich erfahren wurde und ihr die Lebensgrundlagen nur unter großen Mühen abgerungen werden konnten – und nach Gottes Auftrag eben auch sollten.

Eine Gehilfin, die um ihn sei

Zu Gen 2,18 behauptet Lapide: „Beide Übersetzungen [Luther und Einheitsübers.] werden jedoch dem hebräischen Grundwort nicht gerecht, das klipp und klar von »einer Hilfe ihm entgegen« spricht“ (Bd. 1, S. 63). Aber abgesehen davon, dass נֶגֶד nægæd nicht „entgegen“ bedeutet, sondern „vor, gegenüber(liegend)“, hat Lapide hier auch einen Buchstaben unterschlagen: die Präp. כְּ ke „wie, gleich(sam), als“: „wie/als ihm gegenüber“. Und dass eine Frau „widersprechen soll und aufbegehren darf“, war in der orientalischen Kultur, aus der der Bibeltext stammt, definitiv nicht vorgesehen.

Sklaven

In Ex 21,2f heißt es: „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen, und im siebten soll er in Freiheit gehen umsonst. Wenn er allein kommt, soll er allein gehen; wenn als Mann einer Frau, dann soll seine Frau mit ihm gehen.“ Dazu merkt Lapide an: „kennzeichnend für die Bibelsprache ist es, daß sie kein Wort für SKLAVE hat“, und: „Das hebräische Wort hingegen, das häufig mit »Sklave« fehlübersetzt wird, lautet ÄWÄD, d.h. Diener oder Arbeiter [...]“ (Bd. 1, S. 65). Hier verschließt Lapide die Augen vor offensichtlichen Tatsachen:

Der ÄWÄD ist also kein eigenes Rechtssubjekt, er (und die von ihm gezeugten Kinder) sind Eigentum eines anderen. Der Fortschritt im AT besteht darin, dass für hebräische Sklaven die Sklaverei nach sieben Jahren endete. Für Kriegsgefangene, seien sie Edomiter, Ammoniter, Moabiter, Aramäer oder was immer, galt diese Schutzbestimmung offenbar nicht. Sie blieben ihr Leben lang ÄWÄD.

Auge um Auge

Ein gutes Beispiel dafür, dass Lapide als Jude keineswegs eine unparteiische, autoritative Instanz für das richtige Verständnis der Bibel ist, dass er vielmehr selber Partei ist, ist Ex 21,23-25 (Lev 24,20; Dtn 19,21). Die christliche Übersetzung Luthers (1984): „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“ (Hingegen V. 18f.22: Ist kein dauernder körperlicher Schaden entstanden, muss der Schuldige nur Kostenersatz bzw. eine Geldstrafe bezahlen.)

Lapides Verständnis: „Folglich mußte jemand, der seinem Mitmenschen eine Verletzung schlug, nicht selbst eine erhalten, sondern ihm den Gegenwert einer Verletzung, das ist gemäß richterlichem Urteil, die entsprechende Ersatzzahlung leisten.“ (Bd. 1, S. 67f) „Das Schlüsselwort in der hebräischen Bibelstelle »tachat« heißt gar nicht »um« oder »für«, sondern »anstelle von«. Daher übersetzt Buber sowohl sinngetreu als auch textgemäß: »Geschieht das Ärgste aber, so gib Lebensersatz für Leben; Augersatz für Auge; Zahnersatz für Zahn.«

Buber übersetzt getreu dem von der talmudischen Auslegung unterstellten Sinn. Hebr. תַּחַת taḥat heißt sowohl „an Stelle, anstatt“ (Gen 22,13; 2Sam 17,25), als auch beim Tauschen und Ent- bzw. Vergelten „für, um“ (Gen 30,15; 1Kön 21,2; Jes 60,15). Das sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille: wenn ich A für B eintausche, dann gebe ich A (als Ersatz) für B und habe dann B an Stelle von A (1Sam 2,20). Der Schädiger muss also geben ein Auge (als Ersatz) für ein Auge – nicht einen Augersatz; hier hat Buber einen sprachlichen Trick angewandt, der den ursprünglichen Sinn verschleiert.

Aus christlicher Sicht ist diese sog. Talion ein Fortschritt: die private Rache wird ersetzt durch eine Bestrafung von Seiten der Gemeinschaft; diese Bestrafung hat auf ein gerechtes Maß zu achten: ein Auge für ein Auge, während persönliche Rache meist darauf hinausläuft, beide Augen für ein Auge zu nehmen oder den Schädiger gleich zu töten; es ist keine ersatzweise Geldbuße vorgesehen (vergleiche V. 18f.22 mit V. 23f). „Durch eine solche Ersatzregelung würden die Reichen vor den Armen begünstigt: sie könnten sich jeden Übergriff erlauben und sich dann durch eine Summe, die ihnen nicht wehtut, auf bequeme Weise der Verantwortung entziehen.“ (Stuttgarter Erklärungsbibel zur Stelle)

Buber/Rosenzweig müssen den im Kontext eigentlich ziemlich klaren Text auf ihr heutiges rabbinisches Verständnis umbiegen. Ihr Problem: für sie ist der Text noch immer gültiges Wort Gottes, das sie befolgen müssen. Ich als Christ kann leicht sagen: wie immer es gemeint ist, es ist für mich nicht mehr verbindlich, ich bin einem neuen Bund verpflichtet. Aber warum kann nicht auch Lapide sagen: die Vorväter haben diese Regelung etwas geändert, als sie nicht mehr zeitgemäß war? Es erschien ihnen dem Willen Gottes gemäßer, den Schädiger nicht auch körperlich zu schädigen, sondern ihn eine ersatzweise Buße bezahlen zu lassen? Warum muss diese neue Regelung dem Text als von vornherein intendiert unterstellt werden? Im Grunde gehört auch Lapide zu den „Buchstabilisten“, die die Bibel wörtlich nehmen und einen papierenen Papst aus ihr machen (Bd. 1, S. 12-15). Seine Wortklauberei zeigt sich auch an den folgenden Beispielen.

Orgeln

In Ps 150,4 hat Hieronymus zwar übersetzt: laudate eum in cordis et organo „lobt ihn mit Saiten und Organum“, aber heißt das wirklich „Lobet den Herrn mit der Orgel!“? (Ich kenne keine dt. Übersetzung, die das so wiedergibt.) Augustinus erklärt in seiner Auslegung des Ps 150 dazu: „Organum aber ist das allgemeine Wort für alle Musikinstrumente; wenn auch bereits die Gewohnheit Platz gegriffen hat, dass als Organa im engeren Sinn die bezeichnet werden, die mit Blasebälgern geblasen werden. Dass diese Art hier gemeint ist, glaube ich nicht.“ (enarr. in Psalm. 150,7). Hier kritisiert Lapide nur sein eigenes falsches Verständnis der Vulg.

Hürden

Gen 49,14: „Issachar ist ein knochiger Esel, der sich lagert zwischen den מִשְׁפְּתָיִם mišpetājim.“ Hier steht ein Wort, das nur noch Ri 5,16 vorkommt und dessen Bedeutung wir nur aus dem Kontext raten können. Wo lagert ein Esel? Das Wörterbuch von Gesenius vermutet „wahrsch. Viehhürden“. Die Übersetzer der LXX hatten offenbar einen anderen Text: „Issachar hat das Gute begehrt, der sich ausruht mitten auf seinen Landgütern.“ Die Vulg. bezieht das Lagern nicht auf den Esel, sondern auf Issachar als Stamm und hat daher: „Issachar (ist) ein tapferer Esel, der sich lagert innerhalb seiner Grenzen.“ Menge: „zwischen den Hürden“; Einheitsübers.: „in seinem Pferch“; Rev. Elberfelder: „zwischen den Hürden“ mit Fußnote „o. der zwischen den beiden Sattelkörben liegt“; King James: „between two burdens“; English Standard Version: „between the sheepfolds“. Woher Lapide weiß, was hier das Richtige ist („zwischen den Sattelkörben“), verrät er leider nicht.

Hornissen

Ex 23,28: „Und ich werde die צִרְעָה ṣirʿâ vor dir (her)senden“ (s.a. Dtn 7,20; Jos 24,12). Was ist die ṣirʿâ? Gesenius: „coll. Wespen, Hornissen“. Zugegeben, das klingt schräg: JHWH als eine Art Gott der Fliegen? Aber so haben es die jüdischen (!) Übersetzer der LXX verstanden: σφηκίας sphēkías „Wespen-, Hornissenschwärme“. Daran hat sich die Vulg. gehalten: crabrones „Hornissen“. Das entspricht nach Lapide aber nicht dem Grundtext (Bd. 1, S. 75), soll heißen: seinem Verständnis des Grundtextes. Neuere dt. Übersetzungen haben jetzt das laut Lapide richtige „Angst und Schrecken“; so z.B. Luther 1984 und die Gute Nachricht, ähnlich die Einheitsübers.: „Panik“. Die neueren Übersetzungen verstehen offenbar die Hornissen hier nur als Metonymie für Schrecken, wohl auch wegen des Parallelismus zum vorhergehenden V. 27 „meinen Schrecken werde ich vor dir aussenden“. Ähnlich wie griech. οἶστρος oístros „Bremse, Dasselfliege“ auch „Wut, Raserei“ bedeutet (Dasselfliegen können angeblich ganze Kuhherden in die Flucht schlagen). (Man vgl. die sprichwörtlichen Hummeln im Hintern.) Übrigens bedeutet צרעה auch im modernen Hebr. „Wespe, Hornisse“. Schwer zu sagen, welche Übersetzung hier die richtige ist.

Das Kreuz mit der Septuaginta

Öfters wirft Lapide den Evangelien bzw. einmal Paulus implizit oder explizit vor, in ihren Zitaten aus dem AT dieses falsch verstanden oder übersetzt zu haben. Doch in praktisch allen diesen Fällen handelt es sich um Zitate aus der LXX, der griechischen Übersetzung des AT, die von jüdischen (!) Schriftgelehrten gemacht wurde. Die ntl. Autoren haben lediglich den Wortlaut der LXX für ihre Argumentation verwendet. Auch wenn dieses Verständnis des griechischen Wortlautes so von den Übersetzern nicht intendiert war: wenn eine Fehlübersetzung vorliegt, so haben die jüdischen (!) Übersetzer sie verschuldet. Und diese Schriftgelehrten haben die Bibel wohl nicht schlechter verstanden als Lapide.

Die Jungfrau wird einen Sohn gebären

Schon ein Gemeinplatz der Bibelkritik ist Mt 1,23: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen.“ Dies ist ein Zitat aus Jes 7,14 (in der LXX heißt es: „du wirst [...] nennen“). Im Hebr. steht: „Siehe, die junge Frau (ist) schwanger, und sie wird [...]“. Was die jüdischen Schriftgelehrten bewogen hat, das hebr. עַלְמָה ʿalmâ „(heiratsfähiges) Mädchen, junge Frau“ mit griech. παρθένος parthénos „(unverheiratetes) Mädchen, Jungfrau“ wiederzugeben, werden wir nie erfahren. Vermutlich erschien ihnen die semantische Differenz nicht allzu groß. Daher wohl sahen sie in (Jung-)Frau – schwanger keinen Widerspruch.

Dass der Evangelist im Wortlaut der LXX eine Prophezeiung sah, die sich in der jungfräulichen Empfängnis erfüllt hat, kann man ihm nicht zum Vorwurf machen. Denn in Jes 8,8 wird Immanuel noch einmal genannt („dein Land, Immanuel“), hier scheinbar als König der Heilszeit. Von daher konnte auch Jes 7,14 auf den Messias bezogen werden. Ob Jes 7,14 auch im hebr. Wortlaut auf Jesus verstanden werden könnte, bleibt allerdings fraglich.

Fluch Gottes

„Eine verunglimpfende Fehlübersetzung leistet sich unser Bruder Paulus in Gal 3,13, wo er Dtn 21,23 falsch wiedergibt.“ (Bd. 2, S. 89) Stimmt nicht: diese Übersetzung stammt aus der LXX. Dort steht: „denn verflucht von Gott ist jeder ans Holz Gehängte (oder: am Holz Hängende)“. Lapides Textverständnis: „Jeder am Holz Hängengelassene ist eine Verfluchung Gottes.“ Im Hebr. steht: „denn ein Fluch Gottes ist ein Aufgehängter“.

Grammatikalisch gesprochen geht es um die Frage, ob Gottes ein Genetivus objectivus (Gott wird verflucht, vgl. die Entdeckung Amerikas) oder ein Genetivus subjectivus (Gott verflucht, vgl. die Entdeckung des Columbus) ist. Das Wörterbuch von Gesenius (s.v. קְלָלָה qelālâ) entscheidet sich für letzteres: „קִלֲלַת אֱלֹהִים Ggst. des göttlichen Fluches Dt 21 23“. Auch die jüdischen (!) Übersetzer der LXX haben es so verstanden. Denn nicht um den Kreuzestod von Märtyrern geht es hier, sondern um das Aufhängen der Leichen von Menschen, die wegen eines todeswürdigen Verbrechens hingerichtet wurden (wie z.B. in Jos 10,26f). Und wer ein solches Verbrechen begangen hatte, wurde von den hellenistischen Schriftgelehrten offenbar als von Gott verflucht (den göttlichen Segen verwirkt habend) betrachtet.

Der Erlöste?

Mt 21,4 heißt es: „Sagt der Tochter Zion: siehe, dein König kommt zu dir sanft und sitzend (wörtl: aufgestiegen) auf einem Esel und auf einem Fohlen, (dem) Jungen eines Lasttiers.“ Das ist ein ungefähres, leicht verkürztes Zitat von Sach 9,9. Gerade „ein Gerechter und ein Helfer“ ist, entgegen der Behauptung Lapides „wie es bei Matthäus (21,24ff.) heißt“ (Bd. 2, S. 41), hier ausgelassen. Dies steht in Luthers Wiedergabe von Sach 9,9. Lapide behauptet aber, dass es im Hebr. „ein Gerechter und ein Erlöster“ heiße, und versteigt sich zu einer mystisch-kabbalistischen Deutung von der Selbstbescheidung Gottes.

Tatsächlich hat der masoretische Text וְנֹושָׁע we-nōšāʿ, was Part. Nif'al (also Passiv) ist. Allerdings haben die alten Übersetzungen, jüdische wie christliche, hier offenbar anders gelesen:

Angesichts dieses Befundes sollte man auch eine Textverderbnis im masoretischen Text in Betracht ziehen. Davon gehen neben der Lutherübersetzung offenbar auch Einheitsübersetzung 2006 („Er ist gerecht und hilft“) und Gute Nachricht 1991 („Er bringt das Recht und die Rettung“) aus. Aber auch, wenn man den masoretischen Text als das Richtige und Ursprüngliche gelten lässt, ist ein anderes Verständnis naheliegender als ein kabbalistisches: „der (von Gott im Kampf) gerettet wurde = der gesiegt hat, siegreich“. (Vgl. das zweimalige Hif'il von נצל nṣl „entreißen, retten“ im Sinne von „zum Sieg verhelfen“ in 1Sam 17,37.) So hat es etwa auch die Rev. Elberfelder 2001 verstanden: „Gerecht und siegreich ist er“. Denn nicht um Erlösung geht es hier, sondern um die weltumspannende Herrschaft des messianischen Friedenskönigs.

Das hebräische Original

„Hinzu kam die Einzigartigkeit der hebräischen (und aramäischen) Sprache, die [...] jede Übersetzung zu einer teilweisen Vergewaltigung ihrer semitischen Geisteswelt macht. Denn wer in der Bibel der Form den Inhalt entreißt, der entzweit ein Ganzes, das nur in seiner Gesamtheit den vollen Sinn erschließt.“ (Bd. 1, S. 78f) Was Lapide hier behauptet, ist nicht weniger als dies: nur er als Leser des hebräischen Originaltextes versteht den vollen Sinn der Bibel; wir deutschsprachigen Heidenchristen wissen gar nicht wirklich, worum es in ihr geht. Dieses Prinzip will Lapide auch auf das NT (oder zumindest die Evangelien) angewendet wissen: „[...] gilt insbesondere für die Evangelien, die zwar auf griechisch überliefert wurden, jedoch zwischen den Zeilen und hinter dem Wortlaut ihre hebräische Vorlage deutlich durchschimmern lassen.“ (Bd. 1, S. 79). Als Gewährsmann dafür zitiert Lapide die bekannte Notiz des Papias von Hierapolis: „Matthäus nun hat in hebräischem Dialekt die Logien zusammengestellt, es übersetzte sie aber ein jeder, wie er imstande war.“ (Euseb. Hist. eccl. 3,39,16)

Abgesehen, davon dass die genaue Bedeutung dieser Papiasnotiz umstritten ist (meint Logien nur Aussprüche Jesu oder allgemeiner Jesusgeschichten?), wird ihr geschichtlicher Wert heute allgemein bezweifelt. Gerade das MtEv ist in einem stilistisch so passablen Griechisch geschrieben, dass es kaum glaubhaft ist, dass es sich dabei um eine Übersetzung aus dem Aram. (nur das kann Papias mit dem hebräischen Dialekt gemeint haben) handelt. Aber auch bei den anderen drei Evangelien wird die Frage nach einer aramäischen Vorlage von der akademischen Wissenschaft heute abschlägig beschieden: sie wurden auf Griechisch konzipiert.

Wenn der Grundgehalt des jüdischen Glaubens nur auf Hebr. ausdrückbar ist, dann wussten bereits zu Jesu Lebzeiten viele Juden nicht, worum es in ihrem Glauben ging. Denn sie konnten ihre Bibel, das AT, nur auf Griech. lesen. Und die, die auch des Griech. nicht mächtig waren, konnten gar nicht in der Bibel lesen, sondern waren auf die mündliche Paraphrase der Synagogenpredigt angewiesen.

Nicht bestritten werden kann, dass Jesus seine Predigten auf Aram. gehalten, sein Gleichnisse auf Aram. erzählt, seine Streitgespräche mit den Pharisäern auf Aram. geführt hat. Zweisprachige Christen, wie (vermutlich) Stephanus, Philippus oder (sicher) Paulus werden das in ihrer Missionsarbeit auf Griech. wiedergegeben haben. Ich sehe keinen Anlass, warum man ihnen unterstellen sollte, dass sie so schlecht Aram. verstanden haben, dass sie auf Schritt und Tritt Übersetzungsfehler gemacht hätten. Noch dazu immer so, dass man den aram. Originalwortlaut noch rekonstruieren kann.

Natürlich will ich auch nicht bestreiten, dass es bei dieser Übersetzung vereinzelt zu missverständlichen oder falschen Wiedergaben gekommen sein kann. Es wäre sogar überraschend, wenn es anders wäre. Aber weder sind wir in der Lage zu sagen, welche der Texte im NT auf solchen Fehlern beruhen, noch können wir den ursprünglichen Wortlaut wiederherstellen.

Aramäisch, nicht hebräisch

Lapide geht offenbar von einer hebräischen Urschrift der Evangelien aus; zumindest sind seine „Emendationen“ durchwegs hebr. (In Bd. 2, S. 54 heißt es hingegen, Jesus bediene sich auf aramäisch eines geflügelten Wortes. Nimmt Lapide an, Jesus habe aram. geredet, die Evangelisten aber hebr. geschrieben?) Aber es steht außer Frage, dass die Landessprache Palästinas zur Zeit Jesu und damit die Muttersprache des Nazareners Aramäisch war. Hebräer nannten sich die aus Palästina gebürtigen Juden, die die semitische Landessprache redeten, im Gegensatz zu den Hellenisten, den griechischsprachigen Juden aus der Diaspora (Apg 6,1). Diese Landessprache war aber (West-)Aram. Wenn das NT also vom Hebr. als Sprache spricht, meint sie praktisch immer das Aram., für das sie gar kein eigenes Wort hat. Die Kirchenväter nennen diese Sprache Syrisch. Das Ost-Aram. heißt in der LXX Dan 2,26 Chaldäisch. Der Begriff Aram. für die Sprache taucht nach A. Meyer erstmals bei Joseph Justus Scaliger auf. Dass Aram. das Richtige ist, zeigen auch die Beispiele bei Lapide.

der typisch aram. Status emphaticus auf -a bei Wörtern wie

oder die zahlreichen Eigennamen mit Bar- „Sohn“, wie

Ortsnamen sind nur bedingt aussagekräftig, da sie sich über Jahrtausende halten können. (Vgl. die vorrömischen Ortsnamen in Salzburg.) Namen, die bereits im AT vorkommen, sind daher hebr. Eine kleine Auswahl:

Hebr. Wörter sind zumeist Versatzstücke aus dem AT (Immanuel Jes 7,14; Hos(i)anna Ps 118,25f; Korban z.B. Lev 1,2; Amen z.B. Num 5,22). In welchem Ausmaß die Hebräischkenntnisse Jesu über die Texte hinausgingen, die jeder Jude Palästinas im Original kannte (das Schema Jisrael, der aaronitische Priestersegen, die Psalmen, die bei den großen Festen gesungen wurden), lässt sich nicht feststellen. Auch ob Jesus nicht etwas Griech. konnte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ich würde die Frage nicht so eindeutig verneinen, wie es Meyer (s.u.) tut.

Ob und in welchem Ausmaß das (Mischnische) Hebr. zu Jesu Zeit gesprochene Sprache war oder nur als Schriftsprache für (Rechts-)Texte diente, ist umstritten. Michael Krupp (Einf. in d. Mischna, Frankfurt, Leipzig: Verl. d. Weltreligionen, 2007, S. 80) glaubt, dass sich in der Schefela das Hebr. bis ins 3. Jh. gehalten hat.

Dass es also eine hebr. Urschrift gab, ist unwahrscheinlich. Wenn, dann müsste man von einem aram. Original ausgehen. Die Idee, dass man durch Rückübersetzung der Evangelien ins Aram. ihren ursprünglich(er)en Sinn wiedergewinnen könnte, ist alt, geht aber, wie oben erklärt, letztlich auch von falschen Voraussetzungen aus. Eine umfassende Auflistung von (zumeist unnötigen) Konjekturen, basierend auf dem mutmaßlichen aram. Original, bietet:
Meyer, Arnold: Jesu Muttersprache. Das galiläische Aramäisch in seiner Bedeutung für d. Erklärung d. Reden Jesu u. d. Evangelien überhaupt.- Freiburg i.B., Leipzig: Mohr, 1896. (Buchscan bei Archive.org).

Menschensohn


Matthäus Merian der Ältere, Daniels Vision von den vier Tieren, 1630.– Quelle: Wikipedia.– Lizenz: gemeinfrei.

An etlichen Stellen spricht Jesus vom Menschensohn, griech. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ho hyiós tou anthrṓpou, und meint offenbar sich selbst. Das hebr. בֶּן־אָדָם bæn-ʾādām wie das aram. בַּר אֱנָשׁ bar ʾænāš (wörtl. „Sohn eines Menschen“) bedeuten nun aber „(einzelner) Mensch“. Daher folgert Lapide: „Nicht Menschensohn sollte es daher heißen, sondern sinngemäß: Mensch, oder: jedermann; oder: Unsereiner.“ (Er predigte, S. 14).

Der locus classicus für diese Denkrichtung ist Mk 2,27f: „Der Sabbat wurde wegen des Menschen, nicht der Mensch wegen des Sabbats. Daher ist der Menschensohn Herr auch des Sabbats.“ Doch wenn gemeint ist, dass jeder Mensch frei über den Sabbat befinden darf, warum steht dann nach zweimal der Mensch beim dritten Mal der Sohn des Menschen? Am plausibelsten erscheint mir, dass es sich um eine Parallele zum vorausgehenden Mk 2,10f handelt: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden auf der Erde zu erlassen – sagt er zum Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, hebe dein Bett auf und begib dich in dein Haus.“

Die Gegenstelle ist Mt 25,31f: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit und vor ihm werden versammelt werden alle (Heiden-)Völker.“ (Vgl. a. Mt 24,30; 26,64.) Die Anspielung an Dan 7,13 ist nicht zu verkennen. In der Vision Dan 7 sieht der Prophet zunächst vier tiergestaltige Wesen aus dem Meer heraufsteigen, von denen jedes für ein Weltreich steht. Dann werden Throne aufgestellt und Gott selbst nimmt Platz zum Gericht. „Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam (einer) wie ein Menschensohn, und zu dem an Tagen Alten gelangte er, und vor ihn ließen sie ihn hineingehen.“ Dieser Menschengestalt vom Himmel her (im Gegensatz zu den Tieren aus dem Meer) wird die immerwährende Weltherrschaft übertragen.

Dass Jesus nach dem Verständnis der Evangelisten (in der Regel) sich selbst meint, wenn er vom Menschensohn spricht, zeigt der Vergleich von Parallelstellen wie Mt 16,13 („Was sagen die Menschen, wer der Menschensohn ist?“) mit Mk 8,27 („Was sagen die Menschen, wer ich bin?“).

Spätestens seit Rudolf Bultmann gilt es für die Theologie als ausgemacht, dass die Gleichsetzung des Menschensohnes mit Jesus nachösterlich ist. S.a. Zeller, Dieter: Art. „Menschensohn“, WiBiLex, 2011. Doch nicht um die Historizität der Texte geht es hier, sondern darum, was die Evangelien sagen wollten.

In Daniels Vision ist der wie ein Menschensohn eine Chiffre für das Gottesvolk Israel (V. 18. 27!). Doch in der späteren Tradition hat sich das Bild verselbständigt, und aus dem Menschensohn wurde ein endzeitlicher Richter, ja eine der Erscheinungsweisen des Messias. Belegstellen aus dem äthiopischen Henoch und 4Esra s. den Artikel von Zeller.

Hochzeit am Dienstag

„Und am dritten Tag fand eine Hochzeit statt in Kana in Galiläa“ heißt es in Joh 2,1. Und Lapide fragt: „Warum ausgerechnet »am dritten Tag«, wo doch keinerlei Hinweis in den vorangehenden noch in den darauffolgenden Versen zu finden ist, der diese exakte Zeitangabe erklären oder rechtfertigen könnte.“ (Bd. 1, S. 88) Nun, da hat Lapide schlampig gelesen. Denn in Kap. 1 heißt es in:

Daher übersetzt die Gute Nachricht 2,1 folgerichtig mit „zwei Tage später“.

Lapides Vorschlag, es als am dritten Tag der Woche = Dienstag zu verstehen, ist indes, insbesondere in der Lesart des Codex Vaticanus, nicht unmöglich. Dazu muss man das Aram. gar nicht bemühen, denn auch im hellenistischen Griech. wurden die Wochentage offenbar (nach hebr. Vorbild?) durchgezählt. Das zeigt auch das Neugriech., wo der Dienstag immer noch Τρίτη tríti, wörtl. „dritter (Tag)“, heißt (s. Die Namen der Wochentage). Doch erscheint mir „und am Dienstag fand eine Hochzeit statt“ irgendwie seltsam deplaziert und wäre auch singulär im NT.

Begierden des Fleisches


Fleisch ist nicht Fleisch (man verzeihe mir diesen visuellen Kalauer). Hebr. שְׁאֵר bezeichnet nur das obere.
Oben: Claude Monet, Nature Morte, le quartier de viande („Stilleben, das Fleischstück“), Öl auf Leinwand, 1864, Musée d'Orsay, Paris.– Quelle: Wikipedia.– Urheber: Mefusbren69 / Repro from artbook.– Lizenz: gemeinfrei.
Unten: Francisco de Goya, la Maja desnuda („die nackte Maja“), Öl auf Leinwand, etwa 1795-1800, Museo del Prado, Madrid.– Quelle: Wikipedia.– Urheber: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei.– Lizenz: gemeinfrei.

Die „Begierden nach dem Übrigen“ (Mk 4,19) findet Lapide nicht tiefgründig genug und vermutet eine Verwechslung der Wörter שְׁאָר šeʾār „das Übriggebliebene, Übrige“ und שְׁאֵר šeʾēr „Fleisch“ (Er predigte, S. 16f). Hier verwechselt aber Lapide vermutlich שְׁאֵר mit בָּשָׂר bāśār „Fleisch; Leib; was körperlich (und somit sterblich) ist“. (Der Unterschied ist nicht unähnlich dem der engl. Wörter flesh und meat.) Denn šeʾer ist im atl. Hebr. der Stoff, aus dem Menschen und Tiere bestehen (Mi 3,2); er blutet, wenn man hineinschneidet; er ist Teil unserer Nahrung (Ex 21,10). Im Lev bedeutet es mehrmals „Blutsverwandte(r)“ (Lev 18,12f). Das Wort kommt bei Dalman nicht vor, dürfte also im nachbibl. Hebraismus nicht mehr verwendet worden sein. Dieser Stoff begehrt nichts (Gen. subjectivus) und das Begehren nach ihm (Gen. objectivus) haben höchstens Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen vegetarisch ernähren müssen.

Was das NT als ἐπιθυμία σαρκός epithymía sarkós „Begierde des Fleisches“ (Gal 5,16) oder σαρκικαὶ ἐπιθυμίαι sarkikaí epithymíai „fleischliche Begierden“ (1Petr 2,11) bezeichnet, heißt nach Franz Delitzsch auf Hebr. תַּאֲוֹת הַבָּשָׂר taʾawōt habbāśār. Was damit gemeint ist, zeigt das wohl weitgehend Synonyme ἀνθρώπων ἐπιθυμίαι anthrōpōn epithymíai „Begierden von Menschen (=menschliche B.)“ in 1Petr 4,2 und die Aufzählung im folgenden Vers: „in Ausschweifungen, Begierden, Trunkenheiten, Festschmäusen, Trinkgelagen, frevelhaften Götzendiensten“.

Wein mit Galle

„Sie gaben ihm zu trinken Wein mit Galle gemischt“ (Mt 27,34). Dazu sagt Lapide: „Was auf griechisch und deutsch wie ein Akt des Sadismus für den zum Kreuze Verurteilten klingt, wird auf hebräisch ein letzter Ausdruck tatkräftigen Mitleids.“ (Er predigte, S. 17). Wieso das auf Hebr. ein Ausdruck des Mitleids sein soll, kann ich nicht nachvollziehen. Was steckt wirklich dahinter? Mk 15,23 spricht davon, dass man Jesus „ge-myrrhe-ten“ (d.h. mit Myrrhe versetzen) Wein zu trinken gab. Die Myrrhe (das Harz einiger Balsambaumgewächse) sollte wohl betäubend wirken. Ob das Mitleid war, weiß ich nicht. Ich glaube eher, dass es für die Soldaten einfacher war, einen betäubten Delinquenten zu kreuzigen, weil er sich weniger wehrte. Es hat aber wohl auch, wie Lapide sagt, jüdischer Sitte entsprochen (Spr 31,6f).

Aber Mt zitiert wieder einmal das AT, diesmal Ps 69,22, wo es nach der LXX heißt: „Und sie gaben zu meiner Speise Galle, und für meinen Durst tränkten sie mich mit Essig.“ Das, was die LXX hier mit Galle wiedergibt, ist im Hebr. רֹאשׁ rôš, eine giftige Pflanze mit offenbar bitterem Geschmack. Da auch Myrrhe bitter schmeckt, fand Mt in diesem Psalmvers eine Präfiguration des Leidens Jesu und band ihn als Zitat in seine Erzählung ein. Die ändere Hälfte des Verses erfüllte sich dann mit V. 48. Essig bzw. sauer gewordener Wein, mit Wasser verdünnt, war den Kommentaren zufolge ein beliebter und billiger Durstlöscher.

Der ungerechte Haushalter

Lk 16,1-8 hat zu vielerlei Deutungen Anlass gegeben. Rätselhaft ist vor allem der V. 8: „Und der Herr lobte den un(ge)rechten Verwalter, dass er klug gehandelt hat; denn die Söhne dieser Weltzeit sind klüger gegen ihr (eigenes) Geschlecht als die Söhne des Lichts.“ Aber wenn Lapide diesen Vers (bzw. seine mutmaßliche hebr. Vorlage) übersetzt: „Und der Herr verdammte den betrügerischen Verwalter, weil er hinterlistig gehandelt hatte.“ (Bd. 1, S. 92), dann gibt es dagegen einerseits sprachliche Einwände: hebr. ברךְ brk heißt im Pi'el „segnen, (be)grüßen; loben, preisen“ und an einigen Stellen auch „lästern, fluchen“; aber „verdammen“ im Sinne von nicht gutheißen, verurteilen heißt es eben nicht. Aber vor allem nimmt Lapide der Geschichte damit ihre Pointe. Wozu erzählt Jesus sie? Um seine Jünger zu Ehrlichkeit in Gelddingen anzuspornen? Die doch so wie er kaum Geld hatten?

Lapide scheint anzunehmen, dass die von Jesus erzählte Geschichte bis einschließlich V. 8 geht. Denn bei ihm ist es der vom Verwalter übers Ohr gehauene reiche Mann, der seinen Verwalter lobt. Aber heutige Auslegung lässt die Geschichte mit V. 7 enden. V. 8 spricht wieder der Evangelist: mit dem Herrn, der den Verwalter aus der Geschichte lobt, ist Jesus gemeint (wie Lk 7,13). Nicht dafür wird der Verwalter gelobt, dass er betrogen hat. Aber dafür, dass er hellsichtig seine Lage erkannt, einen Ausweg für die Zukunft gefunden und dann konsequent das dafür Notwendige getan hat. Angesichts des absehbaren Endes dieser Weltzeit sollten wir alle darüber nachdenken, was uns noch retten kann, und es dann konsequent in die Tat umsetzen.

Der böse Knecht

Lapide stößt sich an Mt 24,51, dass der Herr den Knecht, der seine Mitknechte geschlagen hat und geschlemmt und gezecht hat, zuerst entzweihauen lässt (was eine unmenschliche Grausamkeit sein soll) und ihm dann seinen Anteil mit den Heuchlern gibt (was absurd ist, weil er dann ja schon tot ist). Und findet ein hebr. Wort, das das Problem lösen soll: גזר gzr „in zwei Teile zerschneiden“ (1Kön 3,25), „beschließen“ (Hi 22,28). Mithin übersetzt er: „Er wird beschließen, seinen Anteil (...)“ (1. Bd., S. 94).

Warum die harte Bestrafung (es handelt sich ja um ein Gleichnis!) im Widerspruch zur jesuanischen Ethik stehen soll, weiß ich nicht. (Zwei Seiten später zählt Lapide süffisant die sechs Stellen auf, an denen Jesus „Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein“ sagt.) Der Anteil bei den Heuchlern ist nach Lapide „ein Hebraismus, der seine Anprangerung als Heuchler bedeutet, wovon noch niemand gestorben ist“ (Bd. 1, S. 93). Nach christlichem Verständnis ist es ein Platz in der Hölle. Auch die Strafe des Entzweihauens ist ein Bild für das Geschick des bösen Knechts im Jenseits. Und zur Frage, warum der Knecht ein Heuchler ist (oder mit ihnen auf eine Stufe gestellt wird): „Mit »Heuchelei« ist nicht bewußte Unredlichkeit und Verstellung gemeint, sondern die (schuldhafte) Blindheit für das Auseinanderklaffen von Sein und Schein, von Anspruch und Wirklichkeit.“ (Stuttgarter Erklärungsbibel zu Mt 23,13).

Erscheinung des Auferstandenen

Dass Lk nur Erscheinungen des Auferstandenen in Jerusalem kennt, hingegen Mk und (soweit es den Zwölferkreis betrifft) Mt nur solche in Galiläa, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen des NT. Doch Lapides Konjektur, dass hebr. גָּלִיל gālîl „Galiläa“ verwechselt wurde mit גְּלִילָה gelîlâ „Umkreis, Landstrich“ wird hinfällig mit Joh 21, wo der auferstandene Jesus sieben Jüngern am See Tiberias (d.i. der See Genezareth in Galiläa) erscheint. Die Evangelisten wussten, wo Galiläa liegt. Eine Verwechslung mit irgendeinem Landstrich bei Jerusalem ist ziemlich unwahrscheinlich.

Die Einleitungswissenschaften machen es gerne zu einem Kriterium für die Herkunft der Evangelisten, wie gut sie über die Geographie Palästinas Bescheid wissen. Das ist natürlich Unsinn. Ich kenne mich in dem Bundesland, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, so gut wie gar nicht aus. Hingegen habe ich von der Geographie des Heiligen Landes nach einigen Jahrzehnten der Bibellektüre schon eine gewisse Vorstellung. In Rechnung stellen muss man dabei auch, dass genaue und zuverlässige Landkarten heutigentags leicht zu haben sind (über die diversen Geoinformationssysteme auch online). In der Antike konnte man nicht einfach zum Regal gehen und den Atlas (den in Österreich jeder Schüler als Schulbuch erhält) aufschlagen und sich ausrechnen, wie weit Jerusalem von Jericho entfernt ist.

Was an der Formulierung Mt 28,1 obskur sein soll, kann ich nicht erkennen. (Griech. ὀψὲ σαββάτων opsé sabbátōn kann im Kontext nur heißen „nach Ablauf des Sabbats“, vgl. ὀψὲ τούτων „nach diesen Dingen“; ἐπιφώσκω epiphṓskō „hell werden, dämmern“; μία σαββάτων mía sabbátōn „erster Wochentag, Sonntag“). Zwar endet der Sabbat am Samstag abend mit dem Sonnenuntergang. Aber dann ist es auch finster, es hätte keinen Sinn, im Dunkeln zum Grab zu gehen. Der Morgen danach ist das sachlich einzig Sinnvolle.

Essener

Warum findet sich im NT keine einzige Erwähnung der Essener, die doch von Flavius Josephus als bedeutende religiöse Gruppierung (neben Pharisäern und Sadduzäern) beschrieben wird? Vielleicht weil Josephus maßlos übertrieben hat. Ob er persönlich Essener kannte, ist umstritten. Philo von Alexandrien und Plinus der Ältere sicher nicht, ihre Beschreibung der Essener sind Lesefrüchte. Vielleicht sollte man das NT auch diesbezüglich als Quelle ernst nehmen: wo Jesus lebte und lehrte, war die Bedeutung der Essener offenbar so gering, dass ihr Name es nicht in die ntl. Überlieferung geschafft hat.

Dass Simon „der Aussätzige“ zu der Zeit, da Jesus bei ihm zu Gast ist, nicht mehr aussätzig war, versteht sich von selbst. Aber Namen haften hartnäckig. Auch Simon „der Zelot“, einer der zwölf Apostel, war als Jünger Jesu sicher kein Zelot mehr. Hebr. צָנוּעַ ṣānûaʿ heißt im AT und im Talmud „züchtig, fromm“. Dass das auch eine Bezeichnung der Essener war, geht aus den Wörterbüchern (Dalman, Jastrow) nicht hervor.

Dass ein „Mensch, der einen Wasserkrug trägt“ (Mk 14,13) gerade ein Essener sein soll, ist so wenig zu erweisen wie, dass das letzte Abendmahl wahrscheinlich in einem Essener-Gemach stattfand oder die Hochzeit zu Kana in einer essenischen Wohnstätte (Bd. 1, S. 105-107).

Jesus und die beiden Schächer

Zusammen mit Jesus werden zwei Schächer (altes Wort für Räuber) gekreuzigt. Das entsprechende griech. Wort dafür bei Mt 27,38 und Mk 15,27 lautet λῃστής lēstḗs und heißt „Räuber, Pirat, Freibeuter“, kann aber auch soviel wie „Freischärler, Partisan, Guerillakämpfer“ bedeuten. Josephus hat die zelotischen Kämpfer so bezeichnet, wobei sich mit diesem Begriff auch eine moralische Verurteilung verbindet (s. Hengel, Martin: Die Zeloten. Untersuchungen z. Jüdischen Freiheitsbewegung i. d. Zeit v. Herodes I. bis 70 n. Chr.– 2. verb. u. erw. Aufl. Leiden, Köln: Brill, 1976. S. 42ff). Auch christliche Auslegung vermutet in den beiden Schächern Zeloten, „vielleicht Gefährten des Barabbas“ (Stuttgarter Erklärungsbibel zu Mk 15,27). Doch ist das nur Mutmaßung.

Wie Hengel (S. 35ff) darlegt, kommt das Wort in seiner hebr. Form לֵיסְטֵיס lêsṭês bzw. לִיסְטֵיס lîstês samt zahlreichen Ableitung auch in der rabbinischen Literatur vor. Doch ist ein besonderer Bezug zu den Zeloten nicht zu erkennen. Das Wort heißt meist einfach „Räuber, Wegelagerer“ (z.B. mBQ 10,2 [114a], Bd. 7?, S. 426 in Goldschmidts Talmudausg.).

Für einen Zivilisten, der mit Waffengewalt zur materiellen Unterstützung des Freiheitskampfes gezwungen wird, ist der Unterschied zwischen einem Räuber und einem Guerillero gering. Und für die Angehörigen jemandes, der wegen angeblicher Kollaboration von den Partisanen getötet wird, ist der Unterschied zu Mördern faktisch unerheblich. Die Opfer des Sendero Luminoso in Peru, der Frente Polisario in Westsahara oder des IS im Irak können ein Lied davon singen, dass die Befreiungskämpfer oft schlimmer wüten als Regierung oder Besatzungmacht. Was Lapide als „heißblütige Patrioten und Märtyrer für ihren Glauben“ beschönigt (Bd. 1, S. 113), würden wir heute vielleicht sogar als Terroristen bezeichnen.

Die beiden Schächer könnten theoretisch so schuldlos sein wie Jesus. Doch in Lk 23, 32f.39 werden sie als κακοῦργος kakoúrgos „Übeltäter, (Schwer-)Verbrecher“ bezeichnet, und in V. 41 bekennt der eine, dass seine Bestrafung gerecht ist und seinen Taten entspricht.

Lapide macht mit umgekehrten Vorzeichen genau das, was er dem NT als „systematische Entpolitisierung der griechischen Umredigierung" (Bd. 1, S. 111) vorwirft: er stilisiert Jesus und seine Jünger zu einer Freischärlertruppe hoch, deren Anführer von den Römern, und nur von ihnen, verhaftet und hingerichtet wurde. Richtig ist, dass einige, wenn nicht die meisten der Jünger wohl bis zuletzt hofften, Jesu Messianität werde sich ganz konkret politisch manifestieren. Und ihre gelegentlichen Ausbrüche von Gewalt oder Gewaltbereitschaft (und dass sie offenbar auch Schwerter dabeihaben) zeigen, wie sehr sie noch in alten Bahnen dachten. Unterschlagen wird von Lapide dabei, dass Jesus seine Jünger gerade deswegen immer aufs neue zurecht-, ja zurückweist. (An anderer Stelle, Er predigte, S. 51, zitiert Lapide einige der Repliken Jesu sehr wohl.)

Unbestritten ist, dass es ein römischer Präfekt war, der Jesus zum Tod verurteilt hat, dass es römische Soldaten waren, die ihn hingerichtet haben. Es gibt aber auch keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass es die jüdischen Autoritäten, dass es die Priesteraristokratie war, die (mit aus ihrer Sicht guten Gründen) die Festnahme und Verurteilung jenes Mannes betrieb, der mit seiner Kritik am bestehenden Tempelkult (Mk 11,15-18) ein Ärgernis und mit seiner von messianischer Hoffnung erfüllten Anhängerschaft (Mk 11,8-10) eine Gefahr darstellte.

Die Behauptung, das NT habe im Interesse der Ausbreitung des Christentums die Rolle der Römer bei Jesu Verurteilung schöngeredet und die Juden zum Sündenbock gemacht, wird auch von christlicher Seite gelegentlich vorgebracht. Tatsächlich ist das JohEv spürbar distanzierter, feindlicher gegenüber den jüdischen Autoritäten (die Joh meist „die Juden“ nennt) als die Synoptiker. Viele bibelkritische Ausleger möchten dem Pilatus soviel Menschlichkeit nicht zutrauen, dass er erkannt hat, dass Jesus kein politischer Aufrührer ist, und er (wenn auch halbherzige) Versuche unternommen hat, ihn nicht verurteilen zu müssen. Kann sein, dass unter den nach der Zerstörung Jerusalems geänderten Umständen, in religiöser (stärkere Abgrenzung des Judentums vom Christentum) wie auch politischer (das Zentrum der Christenheit ist nicht mehr in Palästina) Hinsicht, die bekanntermaßen selektive Erinnerung römerfeindliche Überlieferung stärker ausgefiltert hat als judenfeindliche. Muss aber nicht sein.

Ziemlich viele Schweine


Palästina und die Dekapolis.– Urheber: Wikipedia-User Nichalp.– Lizenz: GFDL und CC BY-SA 3.0.– Quelle: Wikipedia.– Bearb.: Beschriftungen eingedeutscht, Kursi hinzugefügt.

Der befreite Besessene kniet vor Jesus; rechts die Schweine im See. Mosaik in Sant'Apollinare Nuovo in Ravenna (6. Jh.), linke Seitenwand, oberste Reihe, viertes Bildfeld.

Jesus überquert den See Genezareth und kommt ins Gebiet der Gerasener (oder Gadarener).

Nach den modernen Ausgaben (Tischendorf, Westcott/Hort, Weiss, Nestle/Aland) hat Mk 5,1 „Gerasener“ (ℵ* B D, „Gadarener“ A C, „Gergesener“ ℵc), Lk 8,26.37 ebenfalls „Gerasener“ (B D, „Gergesener“ ℵ , „Gadarener“ A), Mt 8,28 hingegen „Gadarener“ (B C, „Gazarener“ ℵ*, „Gergesener“ ℵc). Die Vulg. hat an allen drei Stellen „Gerasener“.
(ℵ Sinaiticus, ℵ* ursprl. Text, ℵc korrig. Text; A Alexandrinus; B Vaticanus; C Ephraemi Rescriptus; D Bezae Cantabrigiensis.)

In diesem heidnischen Gebiet befreit Jesus einen Besessenen von einem Geist (bzw. einer Vielzahl von Geistern), der sich Legion nennt. Das ist nach A. Meyer nicht lat. legio, sondern das aus dem Lat. übernommene aram. לִגְיוֺן ligjôn, hier „Befehlshaber einer Legion“ (das Wörterbuch von Levy nennt als Belegstelle für diese Bedeutung z.B. bBer 5,1 [32b], Bd. 1, S. 121, Z. 16 in Goldschmidts Talmudausg.). Jesus erlaubt den Dämonen, in eine Herde von Schweinen zu fahren, diese stürzen in den See und ertrinken.

Auch christliche Ausleger denken bei den Schweinen an die Legio Decima Fretensis, die wohl bereits seit Augustus in Nordsyrien stationiert war und im Jüdischen Krieg eine maßgebliche Rolle spielte. Eines ihrer Symbole war der Eber (neben Stier, Schiff und Delphin). Die Zahl 2000 in Mk 5,13 wäre dann kein Übersetzungsfehler, sondern bezieht sich auf die römische Legion (bzw. einen Legionsteil, eine sog. Vexillation). Jedenfalls dürfte diese Zahl keine realistische Zahl für eine antike Schweineherde sein. Auch die auf 960 Tiere geschrumpfte (!) Herde im Besitz des Odysseus in Hom. Od. 14,13-15.20 dürfte für frühe eisenzeitliche Verhältnisse deutlich zu hoch sein. Vielleicht will 2000 auch gar nicht als Zählzahl verstanden sein, sondern nur dasselbe besagen wie Mt 8,30 und Lk 8,32: „eine Herde von vielen Schweinen“. Wie man auch im Dt. manchmal übertreibend Tausende im Sinne von eine große Zahl sagt.

Aus einer Statistik für Österreich aus 2009 geht hervor, dass es nur 14 Schweinebetriebe mit 2000 oder mehr Tieren gab, die häufigste Betriebsgröße lag bei 200 bis 400 Tieren (Kleinbetriebe mit lediglich einer Handvoll Tiere nicht mitgerechnet). Angemerkt sei noch, dass Schweine eigentlich schwimmen können. Umso entsetzter mussten die Schweinehirten gewesen sein, als sie sahen, dass ihre Tiere ertrunken sind.

Allerdings haben die Evangelisten die Geschichte wohl kaum erzählt, um einer antirömischen Hoffnung oder dem „durchaus verständlichen Wunsch der Überlebenden jenes Gemetzels [von Gadara] [...], die ›Römerschweine‹ mögen [...] in den Meeresfluten versinken“ (Bd. 1, S. 117) Ausdruck zu verleihen. (Das stünde ja auch im Widerspruch zu der römerfreundlichen Tendenz, die Lapide den Evangelisten zuvor S. 111 unterstellt hat.) Vielmehr soll wohl gezeigt werden, dass vor Jesu Vollmacht auch eine unfassbare (und unzählbare) Übermacht von bösen Kräften kapitulieren muss. (Martin Luther: „Und wenn die Welt voll Teufel wär [...] so fürchten wir uns nicht so sehr“.) Was freilich Anspielungen an politische Verhältnisse oder Ereignisse nicht ausschließt.

Die geringsten Gebote

Jesus hat gelegentlich Dinge gesagt, die man als Aufhebung des Gesetzes (miß-)verstehen konnte (z.B. zum Sabbat Mk 2,23-28, zum Händewaschen Mt 15,2.11.17). In der Bergpredigt (oder der „Berglehre“, wie Lapide sie Bd. 1, S. 119 genannt wissen möchte) stellt Jesus der herkömmlichen Gesetzesauslegung („ihr habt gehört, dass gesagt worden ist“) seine Auslegung entgegen („ich aber sage euch“). Unmittelbar vorher stellt Jesus seine Beziehung zum Gesetz klar: „Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben; ich bin nicht gekommen um aufzuheben, sondern um zu erfüllen (Gute Nachricht: volle Geltung zu verschaffen). | Denn Amen, ich sage euch: bis der Himmel und die Erde vergeht, wird nicht vergehen ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz, bis alles geschieht. | Wer nun eines der geringsten dieser Gebote löst (lockert? aufhebt?) und die Menschen so lehrt, wird der Geringste genannt werden im Himmelreich. Wer (es) aber tut und lehrt, dieser wird groß genannt werden im Himmelreich.“ (Mt 5,17-19).

Dagegen erhebt Lapide zwei Einwände: Erstens gibt es im jüdischen Gesetz keine geringen Gebote; Gebot ist Gebot und muss erfüllt werden. Zweitens wird, wer ein Gebot aufhebt, nicht der Geringste im Himmelreich heißen, sondern er wird gar nicht erst hineinkommen.

Der erste Einwand ist theoretischer Natur. Denn in der Praxis müssen auch Juden (spätestens im Konfliktfall) unterscheiden zwischen wichtigeren (wie die ethischen Forderungen des Dekalogs) und weniger wichtigen (wie die Reinheitsbestimmungen) Geboten. Zumindest der Jude Paulus hat das getan, indem er einerseits dafür gekämpft hat, dass die Heidenchristen die Reinheitsbestimmungen und auch das Gebot der Beschneidung nicht erfüllen müssen (Gal 2,3-5); indem er sie aber andererseits in seinen Briefen unermüdlich darauf hingewiesen hat, dass ein Leben in der Nachfolge Jesu die Erfüllung eines ethischen Forderungskatalogs bedeutet (Gal 5,19-26).

Der zweite Einwand hat Gewicht. Wenn, wie Jesus sagt, das Gesetz gilt, solange der Kosmos existiert, dann ist die Aufhebung auch nur eines Gebotes eigentlich undenkbar. Vielleicht muß also die Wendung der Geringste genannt werden im Himmelreich verstanden werden im Sinne von: gar nicht hineinkommen. Aber ich gestehe: ich weiß es nicht.

Eine Frau begehren

Zu Mt 5,28 hat Lapide zwar in der Sache recht – im Kontext des jüdischen Eheverständnisses kann Jesus hier nur eine verheiratete Frau gemeint haben –, nicht jedoch in der Begründung: „auf hebräisch heißt jedoch »Ischah« im allgemeinen nur eine verheiratete Frau“ (Bd. 1, S. 121). Dagegen das Wörterbuch von Gesenius: „1. Weib, jedes Alters und Standes, verehelicht oder nicht“ (s.v. אִשָּׁה ʾiššâ).

Hebr. ʾiššâ, griech. gynḗ, lat. mulier und dt. Frau bedeuten jeweils weibliche Person im allgemeinen und Ehefrau im besonderen. Was gemeint ist, muss aus dem Kontext erschlossen werden.

In Versuchung führen

Zur Bitte „führe uns nicht in Versuchung“ im Vater-Unser (Mt 6,13) wendet Lapide ein: „Dieser Wortlaut der sechsten Vater-Unser-Bitte scheint anzudeuten, daß Gott selbst den Gläubigen verführen wolle – was alle biblischen Vorstellungen vom gütigen Gott der Liebe Lügen strafen würde. Das kann doch Jesus nicht gemeint haben.“ (Bd. 1, S. 124). Lapides Lösung ist der hebräische Urtext, in dem das Hiph'il von בוא bwʾ „kommen“ gestanden haben soll, welches kausativ ist und „kommen lassen“ bedeutet (im AT „hineinführen, bringen, (Opfer) darbringen“). Dieses „lassen“ könne nach Lapide auch permissiv sein („zulassen“), was er mit einem jüdischen Gebet belegt, in dem es heißt: „Laß mich nicht kommen in die Gewalt der Sünde“ (im Sinne von „lass nicht zu, dass ich ...“).

Natürlich gebe ich Lapide dahingehend recht, dass Gott uns – zumindest nach christlicher Vorstellung – nicht „verführt“, d.h. dass es nicht sein Ziel ist, dass wir der Versuchung erliegen, dass wir in Sünde, Rebellion oder auch Mutlosigkeit und Unglauben fallen. Aber er erlegt uns manchmal Prüfungen auf, führt uns in Situationen, in denen unser Glaube an seine Liebe hart auf die Probe gestellt wird, so schwer verständlich uns das auch erscheint. 1Petr 1,6f deutet an, dass, wie Gold im Feuer geprüft (und geläutert) wird, so auch unser Glaube durch Leid und Anfechtung auf seine Echtheit geprüft und so wertvoller gemacht wird. Aber Paulus sagt dazu (1Kor 10,13): „Euch hat keine Versuchung ergriffen außer menschliche; treu aber ist Gott, der nicht zulassen wird, dass ihr versucht werdet über (das hinaus), was ihr vermögt, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang des Ertragenkönnens (=den ihr od. sodass ihr es ertragen könnt) machen wird.“ Genau darum bitten wir, wenn wir beten „führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse (errette, bewahre) uns von dem Bösen“.

Heilung eines Aussätzigen

Lapide behauptet, die Handschriften des NT seien voller Fehler, woraus er offenbar das Recht ableitet, über den richtigen Text wilde Spekulationen anzustellen: „den Hunderten von Auslassungen und Abschreibfehlern in den griechischen Evangelienschriften entsprechend“ (Bd. 1, S. 126). Aber das Gegenteil ist wahr: bei der großen Zahl von Handschriften, in denen uns das NT überliefert ist, können geringfügige Variationen im Text nicht ausbleiben. Aber der Grundbestand des Textes ist textkritisch sehr gut gesichert, wesentlich besser als es bei den meisten antiken Autoren der Fall ist.

Dass Lapide nicht daran glaubt, dass Jesus von Aussatz geheilt hat, ist sein gutes Recht. Und er hat damit viele bibelkritische Exegeten protestantischer Provenienz auf seiner Seite. Dass er diese Ansicht allerdings auch dem Text abzwingen will, führt zu seltsamen argumentativen Verrenkungen. Die Erzählung Mk 1,40-45 ist eigentlich ziemlich klar und geradlinig.

Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist

Dazu habe ich eine eigene Seite gemacht: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Kurze Zusammenfassung: Lapides Übersetzung „Gebt doch dem Kaiser zurück, was des Kaisers ist“ ist zwar sprachlich möglich. Die Schlussfolgerung, dass hier ein gewaltloser Bruch mit der politischen Ordnung empfohlen wird (Bd. 2, S. 58), ist aber doch eine Engführung. Zustimmen muss man Lapide darin, dass Jesus hier sicher nicht der Lutherschen Zwei-Reiche-Lehre das Wort reden wollte. Aber dass Lapide die Greuelgeschichten über die römische Steuereintreibung aus der Feder des Christen Laktanz für bare historische Münze nimmt (Bd. 2, S. 56f), ist doch ziemlich seltsam für jemanden, der Christlichem gegenüber sonst sehr schnell Ideologieverdacht entgegenbringt.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr

Auch dazu gibt es von mir eine eigene Seite: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr. Kurze Zusammenfassung: Es gilt unter christlichen Exegeten als ausgemacht, dass es tatsächlich ein großes Tier mit Höcker ist, das nicht durch ein Loch in einer Nadel geht. Die Mär, dass hier ein dickes Tau gemeint sei, ist zwar nicht umzubringen, aber ziemlich sicher falsch. Ein (aram.) Wort gamta, das Lapide hier ins Treffen führt, ist in keinem Wörterbuch auffindbar und beruht wohl auf einem Missverständnis Lapides, oder es ist ein Satzfehler (für gamla).

Dreißig Silberlinge


Verschiedene Silberlinge.
  1. Links oben: Tetradrachme des Kaisers Augustus, geprägt 2 v.Chr. in Antiochia. Urheber: Classical Numismatic Group, Inc. http://www.cngcoins.com.– Quelle: Wikimedia.– Lizenz: GFDL 1.2 und CC BY-SA 2.5.
  2. Rechts oben: Denar des Kaisers Tiberius (18-35 n.Chr.), auch Zinsgroschen („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“) genannt.– Urheber: DrusMAX.– Quelle: Wikipedia.– Lizenz: GFDL und CC BY-SA 3.0.
  3. Links unten: Tyrischer Schekel (Kopf des Baal Melkart/ Herakles).– Urheber: Wikipedia-User PetarM.– Quelle: Wikipedia.– Lizenz: unklar. (If you feel that I have violated your copyright please let me know immediately.)
  4. Rechts unten: Cistophor des Octavian, geprägt 28 v.Chr. in Ephesus. Urheber: Classical Numismatic Group, Inc. http://www.cngcoins.com.– Quelle: Wikipedia.– Lizenz: GFLD 1.2 und CC BY-SA 3.0.

Seit alters war Silber das gängigste Zahlungsmittel, das vor Erfindung der genormten Münze nach Bedarf abgewogen wurde. Daher bedeuten sowohl hebr. כֶּסֶף kæsæf als auch griech. ἀργύριον argýrion „Silber, Geld“, letzteres insbes. „Silbermünze, Geldstück“.

Mk 14,10f; Mt 26,14-16; Lk 22, 3-6 berichten vom Verrat des Judas. Während es bei Mk von den Hohenpriestern heißt: sie „versprachen, ihm argyrion zu geben“, bei Lk: „sie vereinbarten, ihm argyrion zu geben“, heißt es bei Mt: „sie stellten ihm hin (oder: wogen ab) dreißig argyria (Pl.)“. Luther gab die argyria (Silbermünzen) als „Silberlinge“ wieder. Gemeint sind wohl Tyrische Schekel, auf die die Hohenpriester im Tempelschatz leichten Zugriff hatten (s. das Kapitel Geld in der Bibel).

Richtig verweist Lapide darauf, dass Mt 26,15 eine Anspielung an Sach 11,12 enthält, wo es in der LXX heißt: „und sie wogen meinen Lohn ab: dreißig Silbermünzen“; wobei hier ein anderes griech. Wort steht: ἀργύρεος, kontr. ἀργυροῦς argyroús „silbern, versilbert“, als Subst. „Silbermünze“. Im Hebr. steht: „sie wogen (=bezahlten) meinen Lohn: dreißig Silber (kæsæf)“. Wenn das Wort kæsæf mit einer Zahlenangabe verbunden ist, muss man zumeist das Wort שֶׁקֶל šæqæl „Schekel“ ergänzen. Christliche Ausleger datieren diesen Teil des Prophetenbuches in die Alexanderzeit, es ist also ziemlich sicher bereits von dreißig Schekelmünzen (Luther 1545 „Silberlinge“, 1984 „Silberstücke“) die Rede, das Abwiegen des Geldes nur im übertragenen Sinne zu verstehen.

Soweit, so klar. Doch Lapide behauptet: „Nebenbei sei hier bemerkt, dass es zu Jesu Lebzeiten zwar Denare, Minen, Schekel und Drachmen gab, aber keine Münze oder Währung, die als »Silberlinge« bekannt war. Sie kamen etwa dreihundert Jahre zuvor aus dem Umlauf.“ (Bd. 2, S. 48; vgl. auch Bd. 1, S. 51: „eine Münzwährung, die es zu Jesu Zeiten längst nicht mehr gab“). Abgesehen davon, dass die Mine nur eine Verrechnungseinheit war und nicht ausgemünzt wurde: Denare, Schekel und Drachmen waren Silbermünzen und konnten daher alle als argyria „Silberlinge“ bezeichnet werden. Welche Art von Silberling da 300 Jahre vor dem Verrat des Judas aus dem Verkehr gekommen war, ist leider völlig unklar. Manchmal scheint Lapide sehr schlecht informiert zu sein.

Dass Lapide Judas vom Vorwurf des Verrates reinwaschen will, führt zu seltsamen Verrenkungen. Griech. paradidonai heißt schon „dahingeben, überliefern“, aber wenn es hinter dem Rücken des Überlieferten passiert, sagt man auf Dt. „verraten“. „Was hatte Judas eigentlich zu verraten?“ Nun, vermutlich Jesu jeweiligen nächtlichen Aufenthaltsort. „Man bedurfte also kaum eines Geheimagenten, um ihn zu identifizieren.“ Wahrscheinlich doch. Fahndungsfotos gab es noch nicht, und angesichts fehlender Straßenbeleuchtung war man (trotz des Vollmonds um die Zeit des Passahfestes) auf jemand angewiesen, der ihn auch bei Nacht zweifelsfrei identifizieren konnte. Über die Beweggründe des Judas wird auch von christlicher Seite viel gerätselt und gemutmaßt. Aber das historische Faktum des Verrates zu bezweifeln, gibt es vom NT her keinen Anlass.

Hosianna in der Höhe

Beim Einzug Jesu in Jerusalem rufen seine Anhänger aus: „Hosanna dem Sohn Davids; gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn; Hosanna in den Höhen.“ (Mt 21,9; ähnlich Mk 11,9f und Joh 12,13; etwas anders Lk 19,38). Hier liegt ein Zitat aus Ps 118,25f vor. Hosanna (Luther „Hosianna“) ist die griech. Wiedergabe des hebr. הוֺשִׁיעָה נָּא hôšîʿâ-nnâ „hilf doch, rette doch, befreie doch“ (wahrscheinlich in der gekürzten aram. Form הוֺשַׁעְנָא hôšaʿnâ). Und ob beabsichtigt oder nicht, es ist ein Wortspiel mit Jesu Namen (hebr. יֵשׁוּעַ Jēšûaʿ), der von derselben Wortwurzel stammt. Lapide wendet ein, dass „rette doch in der Höhe“ keinen rechten Sinn ergibt, und konjiziert statt des mutmaßlichen hebr. bam-merōmīm „in den Höhen“ ein revolutionäres min-harōmīm „von den Römern“ (Bd. 2, S. 39).

Richtig ist, dass „Sohn Davids“ bei Mt, „die kommende Königsherrschaft unseres Vaters David“ bei Mk, „der König im Namen des Herrn“ bei Lk und „der König Israels“ bei Joh deutlich auf die messianischen Erwartungen der Volksmenge verweisen. Doch geht Lapide von der falschen Voraussetzung aus, dass die Zeitgenossen Jesu hebr. sprachen und den buchstäblichen Sinn von hôšîʿâ-nnâ verstanden. Tatsächlich kannten sie es wohl nur als Fremdwort aus Ps 118. Das sieht man auch daran, dass aram. הוֺשַׁעְנָא hôšaʿnâ „Bachweide; Lulav“ (d.i. der Feststrauß für das Laubhüttenfest; s.a. Citrus: Judentum, über den Lulav und die Rolle der Zitronatzitrone als einer seiner Bestandteile) heißt, nach Levy deshalb, „weil man dabei dieses Gebet sagte“.

Aber auch Ps 118,25 „ach JHWH, hilf doch; ach JHWH, lass doch gelingen!“ wirkt im Kontext des Dankspsalms etwas deplaziert. Mitten im Dank und Jubel plötzlich ein Hilferuf? Die christliche Auslegung hat das Hosianna daher auch hier schon eher als Huldigungsruf (im Sinne von „du bist unser Retter“) denn als Hilferuf in konkreter Not verstanden. Angemerkt sein noch, dass die LXX bei Hosianna anders als die Evangelien nicht einfach das hebr. Wort übernimmt, sondern es übersetzt: „o Herr, rette doch, o Herr, führe doch einen guten Weg!“ (griech. σῶσον δή sṓson dē).

Artikel mit Tücke

Mk 9,22f grenzt für Lapide ans Unverständliche. Da bittet der Vater eines fallsüchtigen Knaben um Jesu Hilfe und Jesus entgegnet ihm (dem Vater, nicht dem Knaben!). Der Text lautet: „Aber wenn du etwas vermagst, erbarme dich über uns und hilf uns! Jesus aber sagte ihm: Das ‚Wenn du vermagst‘: alles (ist) möglich dem Glaubenden.“ Lapide macht aus dem Anfang der Antwort Jesu: „Das, wenn du kannst“ (Er predigte, S. 17). Das ist freilich unverständlich. Lapides Konjektur, dass die hebr. Fragepartikel הֲ ha mit dem Artikel הַ ha verwechselt wurde, erledigt sich schon dadurch, dass Jesus mit dem Vater nicht hebr., sondern aram. geredet hat, und es im Aram. keinen Artikel gibt. (Überdies sehe ich nicht, wie das mutmaßliche ha-im tuchal „wenn du nur könntest“ bedeuten kann. Übrigens hat Luther genau so übersetzt.)

Wie kann der Satz nun aber verstanden werden? Friedrich Blass (Grammatik d. Ntl. Griech., 2. Aufl. 1902, S. 160) erklärt es so: Der Artikel wird im Griech. verwendet, um ganze Wortgruppen, ja Sätze zu substantivieren. Vor allem, wenn auf zuvor Gesagtes verwiesen werden soll. (Da es zur Zeit der Evangelisten noch keine Interpunktion und keine Groß-/Kleinschreibung gegeben hat, war hierfür der Artikel zum Verständnis sogar notwendig.) Z.B.: Eph 4,8f: „Deshalb heißt es: ‚Hinaufgestiegen in die Höhe [...]‘ Aber das ‚Hinaufgestiegen‘: was bedeutet es, wenn nicht [...]?“ (Weitere Beispiele: Heb 12,27; Mt 19,17f; Gal 5,14; Röm 13,9.)

Die Schwierigkeit wird verstärkt durch die Neigung der gesprochenen Sprache, das, worüber man etwas sagen möchte, grammtikalisch beziehungslos an die Satzspitze (selten ans Satzende) zu stellen (sog. Casus pendens). Z.B.: Joh 1,12: „Alle aber, die ihn aufnahmen: er gab ihnen Vollmacht Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ (Ähnlich Joh 3,26; Jak 1,26; Joh 1,18.)

Was also Jesus (dem überlieferten Text zufolge) sagt, ist: „Du sagst: ‚Wenn du kannst‘; ich entgegne dir darauf: Alles ist möglich für den, der glaubt.“ Aber schon die Abschreiber der ntl. Handschriften hatten offenbar ihre Probleme mit dem Satz, und so gibt es alternative Lesarten. Eine Gruppe von Handschriften hat „wenn du glauben kannst“ (so auch die Vulg.). Luther übersetzte: „Wenn du könntest glauben; alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet.“ F. Blass konjizierte „was (heißt) ‚wenn du kannst‘?“

Es braucht nicht geleugnet zu werden, dass es im NT schwer verständliche Passagen gibt. Manches können wir nicht schlüssig erklären. Aber das macht einen verschwindend geringen Anteil am Text aus.

Nimm dein Bett


Der Geheilte vom Teich Bethesda trägt sein Bett. Mosaik in Sant'Apollinare Nuovo in Ravenna (6. Jh.), linke Seitenwand, oberste Reihe, zweites Bildfeld.– Urheber: Desconegut.– Quelle: Wikipedia.– Lizenz: gemeinfrei.

„Steh auf, nimm dein Bett und geh.“ sagt Jesus in Joh 5,8 zu dem Mann, der seit 38 Jahren krank war und am Teich Bethesda auf Heilung wartete. „Und sogleich wurde der Mensch gesund, und er nahm sein Bett und ging.“ (V. 9) Aber es war Sabbat, weshalb die Juden zu ihm sagten: „Es ist Sabbat, und du darfst dein Bett nicht tragen.“ (V. 10). Das hält Lapide für unglaubwürdig (Bd. 2, S. 52). Denn einerseits darf man nach Tosefta Jom Tob 2,18 ein Bett sehr wohl auch am Sabbat tragen. Und andererseits kann ein Gelähmter sein Bett gar nicht herumtragen. Also muss wieder ein hebr. Wort herhalten: מִטָּה miṭṭâ „Lager, Bett, Bahre“, hier angeblich fehlerhaft für מַטֶּה maṭṭæ̂ „Stab, Stecken; Stamm“. (Wie in Gen 47,31 der masoret. Text „Bett“ hat, die Übersetzer der LXX aber „Stab“ gelesen haben. Aber dieser Vers ist so eindeutig nicht, wie Lapide glauben macht.) Der Geheilte habe also seinen Stock genommen und davongetragen.

Doch der Sinn der von Lapide zitierten Tosefta-Stelle ist nach Michael Kern, dem Herausgeber einer übersetzten und erklärten Ausgabe von Tos. Jom Tob (Der Tosefta-Traktat Jom Tob. Einl., Text, Übers. u. Erkl. Inaugural-Diss. [...] v. Michael Kern.– Würzburg, 1934), ein ganz anderer.

Tos. Jom Tob 2,18f:
.רַבִּי שִׁמְעוֺן אוֺמֵר׃ גוֺרֵר אָדָם מִטָּה, כִסֵּא, וְסַפְסָל, וְקַתֶּדְרָא אֶצְלוֺ בַשַּׁבָּת, וְאֵין צָרִיךְ לוֺמַר בְּיוֺם טוֺב
„Rabbi Šim'on sagt: man schleppt/rückt ein Bett, einen Sessel, eine Bank, einen Lehnstuhl neben sich am Sabbat, und nicht nötig zu sagen, (auch) an einem Feiertag.“ Der Herausgeber Kern erklärt in einer Fußnote: „ohne zu befürchten, daß man durch das Fortrücken einen Ritz im Fußboden machen könnte.“ (S. 48) Nicht um das Tragen geht es also nach Kern, sondern darum, dass das Entstehen von Kratzern oder Furchen im Boden als Arbeit (des Pflügens?) angesehen werden könnte. Über diese Deutung mag man freilich geteilter Meinung sein.
.דֶלֶת הַגֹּרֶרֶת, מַחֲצֶלֶת הַגֹּרֶרֶת, וְקַנְקְלָא הַגֹּרֵר פּוֺתְחִין וְנוֺעֲלִין בָּהֵן בַּשַּׁבָּת, וְאֵין צָרִיךְ לוֺמַר בְּיוֺם טוֺב
„Eine kratzende Tür, eine kratzende Matte und ein kratzendes Gitter öffnet und schließt man am Sabbat, und nicht nötig zu sagen, (auch) an einem Feiertag.“ Und Kern: „der Grund dafür ist derselbe wie der, der für vorige Alinea angeführt wurde.“ Die Stelle zeigt m.E., dass es um das Bewegen von Gegenständen im Haus geht, nicht um das Tragen in der Öffentlichkeit.

Es darf mit gutem Grund angenommen werden, dass es verboten war, am Sabbat ein Bett durch die Straßen Jerusalems zu tragen. So heißt es in der Mischna mShab 7,2 [73a] (Bd. 1, S. 488, Z. 20ff in Goldschmidts Talmudausg.):
אֲבוֺת מְלָאכוֺת אַרְבָּעִים חָסֵר אַחַת [...] הַמּוֺצִיא מֵרְשׁוּת לִרְשׁוּת
„Hauptklassen von [am Sabbat verbotenen] Arbeiten [gibt es] vierzig weniger eine: [...] wer aus einem Bezirk (Gebiet) in einen anderen hinausträgt.“ (Also z.B. aus dem privaten Bereich des Hauses in den öffentlichen einer Straße.) Lapide hätte einmal versuchen sollen, an einem Sabbat eine Campingliege durch Me'a Sche'arim zu tragen!

Natürlich hat der Gelähmte sein Bett nicht selbst zum Teich Bethesda getragen, er hat sich von hilfsbereiten Mitmenschen tragen lassen. Nach seiner Heilung konnte er sein Bett selber tragen. Was hier mit Bett wiedergegeben ist, griech. κράβ(β)ατ(τ)ος kráb(b)at(t)os (davon ngr. κρεβάτι [krɛˈvati] „Bett“, vgl. lat. grab(b)ātus) „Liege, Pritsche, Feldbett, Bahre“, ist den Abbildungen von römischen grabati bei Antike Tischkultur zufolge ein einfacher Holzrahmen mit einer Bespannung aus Riemen oder Stricken. Im übrigen kann man auf Mk 2,1-12 verweisen, wo ein Gelähmter auf einem Bett durch ein Loch im Dach zu Jesus heruntergelassen wird (V. 4) und Jesus dann zu ihm sagt: „Ich sage dir: steh auf, nimm dein Bett und begib dich in dein Haus.“ (V. 11) – „Und er stand auf und nahm sogleich das Bett und ging vor allen hinaus.“ (V. 12) Und selbst wenn Lapides hebr. Urschrift existiert hätte: diese Geschichte funktioniert mit einem Stock nicht!

Fazit

Dass ich Lapide oft so kleinlich zerpflückt habe, mag mich als Kritikaster erscheinen lassen. Wahrscheinlich bin ich ja ein Buchstabilist. (Und irgendwer wird sich wahrscheinlich nicht entblöden, mir Antisemitismus vorzuwerfen.) Ich habe mich deshalb so ausführlich mit Lapides Auslassungen auseinandergesetzt, da seine Thesen und Behauptungen im Netz zu Hauf nachgeplappert werden, auch von christlicher Seite, ohne dass sich jemand die Mühe machen würde, sie auch nachzuprüfen, ganz nach dem Motto: er ist Jude, da muss er es ja schließlich wissen. Doch wenn man nachprüft, stellt man fest, dass Lapide seinen Lesern ganz viel Sand in die Augen streut. Ich bin natürlich auch nicht der Weisheit letzter Schluss und nicht frei von Irrtum. Auch meine Argumente sollen nicht einfach ungeprüft nachplappert werden. Jeder möge selbst nachprüfen und den Dingen auf den Grund gehen.

Dass die Juden nach fast 2000 Jahren christlicher Judenverfolgung auf uns Heidenchristen nicht gut zu sprechen sind, kann ihnen niemand verdenken. Dass sie das Christentum für einen Irrweg halten und ihre eigene Religion für die einzig wahre und authentische, ist ihr gutes Recht. Allerdings wäre es sehr blauäugig, wenn Lapide glaubte, das heutige rabbinisch-talmudische Judentum sei identisch mit dem Glauben eines Josua, David oder Elia. Auch das Judentum hat sich im Laufe der Jahrhunderte weit von der Opferreligion, die Mose gestiftet hat, entfernt. Zumindest das hat es mit dem Christentum gemeinsam. Und gemeinsam sind wir von den für unseren Glauben konstitutiven Schriften durch zwei bis drei Jahrtausende getrennt.

„Ist die Bibel richtig übersetzt?“ Darauf kann man im deutschsprachigen Raum guten Gewissens mit Ja antworten. Überdies gibt es im Dt. eine erkleckliche Anzahl von Übersetzungen mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen und Adressaten, und nur vor wenigen muss man wirklich warnen. Aber ich kann nur jedem raten, der sich ernsthaft für die Bibel interessiert, sich wenn möglich der biblischen Sprachen zu bemeistern. Damit man sich weder von Lapide noch von mir ein X für ein U vormachen lassen muss.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 15. Feb. 2022