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Jericho
„Joshua fit the battle of Jericho. […] Trumpets begin to sound […] and the walls came tumbling down.“ So heißt es in einem bekannten Negro Spiritual. Dass das nicht mehr Stand der Wissenschaft ist, wurde einer breiteren Öffentlichkeit 2001 bekannt durch das Buch eines Autorenduos mit dem Titel „The Bible Unearthed: Archaeology's New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts“. Im Deutschen hat das Werk den großmäuligen Titel „Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel“. Dieser Titel enthält ein Versprechen („die Wahrheit über die Bibel“), das den Intentionen des Buches nicht gerecht wird. Und er zeigt ein mangelndes Verständis für das Wesen der Archäologie; wie Prof. Indiana Jones so treffend sagte: Archäologie ist nicht die Suche nach Wahrheit (s. Stationen des Exodus# Vorbemerkung 1: Archäologie).
Seit den späten 1950er Jahren ist Jericho die schwärende Wunde im Fleisch evangelikaler Exegese des AT. Was war passiert? John Garstang (1876-1956) hatte auf Grund seiner Ausgrabungen am Tell es-Sultan, dem Ruinenhügel des antiken Jericho, in den Jahren 1930-36 das bronzezeitliche Jericho in vier Bauphasen unterteilt. Die vierte und letzte Bauphase („City IV“) endete irgendwann zwischen 1400 und 1385 v.Chr. (S. xvi u. 135), als die Stadtmauern infolge eines Erdbebens eingestürzt sind und die Stadt anschließend absichtlich mit Feuer verbrannt worden ist. 1400 ist wohl die archäologisch und historisch geschätzte Zeit, 1385 eine aus 1Kön 6,1 abgeleitete Untergrenze. An anderer Stelle sagt Garstang „um 1400 v.Chr.“ (S. 46). Garstang glaubte, damit einen archäologischen Beweis für die Historizität der Eroberung Jerichos durch Josua und für die Frühdatierung des Exodus (um 1450 v.Chr.) gefunden zu haben (s. Stationen des Exodus# Wann fand der Auszug aus Ägypten statt?). Die Landnahme fiel nach Garstang in die Zeit des Amenophis III., für die Garstang aus den Armarna-Briefen eine Vernachlässigung der militärischen Präsenz Ägyptens in Palästina herauslas (S. 143). In späteren Jahrzehnten, als Ägypten sein Engagement in Palästina wieder verstärkte, dürfte es hier nicht viel mehr als einen Militärposten der Ägypter gegeben haben (S. 148f). Es schien alles so schön zusammenzupassen.
Doch in den Jahren 1952-58 grub Kathleen Kenyon (1906-1978) und datierte die Mauern, die Garstang der späten Bronzezeit zugeschrieben hatte, auf die frühe Bronzezeit. Die jüngsten Mauern, die sie fand, datierte sie auf des Ende der mittleren Bronzezeit. Das wäre nach der heute gängigen Chronologie auf ca. 1550 v.Chr. Die Zerstörung dieser Mauern wäre dann wohl den Feldzügen des Pharao Ahmose zuzuschreiben, der die Hyksos aus dem Nildelta vertrieb und anschließend die Wiedereroberung Nubiens und Palästinas betrieb. Nach der Zerstörung der Mauer gab es noch einige Zeit eine Besiedlung mit dörflichem Charakter. Aus der Zeit der Eroberung durch Josua sind keine Reste mehr erhalten.
Dass die Grabungsberichte Kenyons, die ja nun seit über 40 Jahren tot ist, immer noch unter Urheberrechtsverschluss gehalten werden, empfinde ich als ärgerlich. Für wen werden diese Gesetze gemacht?
Dabei stellt Kenyon in ihrem Vorabbericht Diggung up Jericho die Historizität der Eroberungsgeschichte gar nicht in Frage. Sie sagt lediglich, dass sie sich, anders als Garstang gemeint hat, archäologisch nicht bestätigen lässt. Mehrmals weist sie auch auf die starke Erosion hin, die im Laufe der Jahrhunderte an dem Tell genagt hat: so lagen etwa an den höchsten Punkten des Hügels früh- oder mittelbronzezeitliche Schichten obenauf, nichts Jüngeres. Daher gab es dort auch keine Mauern aus der späten Bronzezeit (S. 45/46). Auf der Ostseite gibt es Überreste aus der Spätbronzezeit, aber die Befestigungen sind verschwunden, weil die moderne Straße in die Hügelböschung schneidet (S. 81).
Jüngere Archäologen mochten die Möglichkeit, dass die spätbronzezeitliche Siedlung, die Josua erobert hat, komplett wegerodiert worden ist, nicht mehr in Betracht ziehen. Manches der Argumente erinnert dabei aber an einen Witz über den Ö3-Verkehrsfunk, dessen Urheber ich nicht mehr weiß: „Derzeit keine verkehrsbedingten Behinderungen auf Österreichs Straßen. Das meldet uns ein Ö3ver.“ (Ö3ver = ein den Radiosender Ö3 hörender Autolenker.) Jedenfalls geht man heute davon aus, dass der Tell um 1300 (?) verlassen wurde. Nach der späteren Datierung des Exodus (um 1250 v.Chr.) war Jericho zur Zeit der Landnahme ein unbewohnter Hügel.
Seit etwa 1990 versuchte der amerikanische Archäologe Bryant Wood, Kenyons Datierung in Zweifel zu ziehen (s. Die Bibel: Rätsel der Geschichte# Der Fall Jerichos (Bryant Wood)). Seiner Darstellung nach basiert Kenyons Datierung auf einem argumentum e silentio, darauf, dass sie eine bestimmte Form von Keramik nicht gefunden hat. Doch die Radiokarbondatierung des verbrannten Getreides hat Kenyons Datierung offenbar bestätigt.
Kenyons Neudatierung war Wasser auf die Mühlen der Bibelkritiker. Zumal Jericho beileibe nicht der einzige Fall war, wo die Archäologie im Widerspruch zum Buch Josua stand. Man entschlug sich zunehmend der biblischen Texte als fiktive, für die Geschichtsforschung irrelevante Hirngespinste und entwickelte nun, befreit vom Hindernis der Bibel, Modelle, wie es zur Entstehung des Volks der Israeliten gekommen sein könnte. Dabei kümmerten sich manche selbst um die archäologischen bzw. historischen Fakten nicht mehr. Als da wären:
Nach dem archäologischen Befund von Finkelstein/Silberman waren die frühen Israeliten ursprünglich Hirtennomaden (S. 128f). Das deckt sich auch mit dem biblischen Bericht von der Wüstenwanderung. Auch in Ägypten waren die Israeliten mitnichten „Wanderarbeiter“ (S. 116, im engl. Original „immigrant laborers“, S. 101); sie waren vielmehr Viehzüchter (Gen 46,32-34), die nach der Exoduserzählung vom ägyptischen Pharao in existenzbedrohendem Umfang zu Bauarbeiten herangezogen und so zunehmend zu Fronarbeitern herabgedrückt wurden.
In Jos 2 wird berichtet, wie Josua von Schittim aus zwei Kundschafter über den Jordan schickt. Die gehen nach Jericho und nehmen Quartier im „Haus einer Hure, und ihr Name Raḥab“ (בֵּית־אִשָּׁה זֹונָה וּשְׁמָהּ רָחָב). Vermutlich handelt es sich um einen Beherbergungsbetrieb, der auch sexuelle Dienstleistungen anbietet. Solche Gasthäuser waren später auch im römischen Bereich nicht unüblich. Ihre Ankunft bleibt nicht unbemerkt. Des Königs Schergen kommen zu Rahab, um die Männer zu holen. Doch Rahab hat sie versteckt, und sie behauptet, die Kundschafter hätten die Stadt vor dem Schließen der Tore wieder verlassen. In der Nacht lässt Rahab, deren Haus an der Stadtmauer liegt, die Männer mit einem Seil hinab. Die Kundschafter kehren schließlich auf die andere Jordanseite zu Josua zurück.
Gesenius18 übersetzt זנה ganz traditionell mit „Prostitution treiben, huren“, während Matheus (Pons) als erste Bedeutung „als freie Frau und sexuell selbstbestimmt leben (Jos 2,1ff)“ hat. Tatsächlich fragt man sich, welche soziale Stellung die „Unternehmerin“ Rahab hatte. Nach orientalischer Vorstellung hat eine Frau immer einen Vormund, der ihre rechtlichen Interessen wahrzunehmen hat. Das ist zunächst der Vater, dann der Ehemann. Sind beide nicht vorhanden, dann ein Onkel, Bruder oder auch ein erwachsener Sohn. Rahab hat zwar einen Vater und Brüder (V. 13), steht aber offenbar nicht unter deren Kuratel. Reicht das schon, um sie nach israelitisch-jüdischer Vorstellung als „Hure“ (im Sinne von „Schlampe, slut“) abzuqualifizieren?
Die militärische Bedeutung dieses Kundschafterganges bleibt unklar. Es wird aber deutlich, dass die Stadt Mauern und Tore hat. Und die Israeliten erfahren, dass die Kanaaniter Angst vor ihnen haben.
Im folgenden wird erzählt, wie die Israeliten auf wunderbare Weise trockenen Fußes durch den Jordan kommen (Jos 3), wie sie zur Erinnerung daran Denksteine aufstellen (Jos 4), wie sie beschnitten werden (Jos 5,2-9) und Passah feiern (Jos 5,10-12). Dann sieht Josua einen Mann mit gezücktem Schwert stehen, der sich als „Fürst von JHWHs Heer“ (שַׂר־צְבָא־יְהוָה) vorstellt (Jos 5,13-15). Sein Auftreten soll wohl zeigen, dass die Schlacht um Jericho auf höherer Ebene gekämpft wird.
Ich gebe hier den masoretischen Text (M) wieder. Die Septuaginta (LXX) hat an vielen Stellen einen leicht geänderten oder gekürzten Text. Das dürfte hauptsächlich an der übersetzerischen Freiheit liegen (stilistische Variation, Straffung, keine konkordante Wiedergabe), nur vereinzelt vermutet Bieberstein eine nachträgliche Erweiterung des M gegenüber der Vorlage der LXX. Eine bewusste Änderung der LXX gegenüber dem M sei, dass die Bedeutung der Priester hervorgehoben wird (s. V. 9c, 13b, 20b). Doch ist die ausdrückliche Nennung der Priester notwendig, weil ein harter Subjektswechsel im Griech. missverständlich wäre.
Bieberstein zeichnet detailliert die Geschichte der redaktionsgeschichtlichen Forschung des Jos-Buches nach. Der Umstand, dass sich in den 120 Jahren seit Wellhausen noch immer kein Minimalkonsens über die Quellenlage eingestellt hat, weist daraufhin, dass diese Art der Forschung bei allem Scharfsinn letztlich zu nichts führt. Auch die verschiedenen Versuche, aus dem M so etwas wie eine Urfassung der Erzählung herauszuschälen, kommen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Die Rekonstruktion der literarischen Schichten durch Bieberkopf und seine Vorgänger ergibt hochgradig hypothetische Konstrukte, die nicht falsifizierbar sind. Jedes Modell ist so gut wie jedes andere, jedes kann stimmen oder auch nicht. Wer will Dillmann, Smend, Rudolph, Noth, Schwienhorst, und wie sie alle heißen, das Gegenteil beweisen?
Die Quellenscheidung geht von einer falschen ästhetischen Erwartungshaltung aus. (In Einzelfällen erkennt das Bieberstein auch an.) Wir kommen mit unseren modernen Vorstellungen, wie eine in sich logische, konsistente Erzählung auszusehen hat, und überall, wo atl. Texte dem nicht entsprechen, sehen wir „Spannungen“ und Brüche und setzen mit Quellenscheidung an. So als ob die antiken Bearbeiter der Texte zu dumm gewesen wären, diese Spannungen selber zu erkennen und zu beseitigen. Dass die Texte für unser Verständnis Widersprüche enthalten, ist schon richtig. Aber welche Schlüsse wir daraus ziehen, sollten wir noch einmal gründlich überdenken. (Ich verweise auf die Homerforschung, die 150 Jahre lang Quellenscheidung betrieben hat, bis Parry und Lord zeigten, dass die festgestellten Spannungen und Widersprüche nicht in verschiedenen Quellen, sondern in den Entstehungsbedingungen der Oral Poetry wurzeln.)
Offenbar lagen dem Erzähler oder Endredaktor von vielen Geschichten verschiedene Versionen vor. Mir will scheinen, dass er sich aus irgendeinem Grund verpflichtet fühlte, sich nicht für eine stimmige Fassung zu entscheiden, sondern jeweils alle Versionen mitzuteilen. Aber nicht so, wie wir es heute tun würden („Quelle A sagt so, Quelle B berichtet anders“), sondern indem er die Fassungen ineinander verschränkte. Das Ergebnis sind logische Widersprüche zuhauf (Wie viele Paare von jeder Art sollte Noah in die Arche nehmen? Wie lange hat die Sintflut gedauert?). Der Israelit hat wohl verstanden, wie das gemeint war, der „Grieche“ aber stößt sich an den Spannungen. Ich würde mir eine Poetik alttestamentlichen Erzählens wünschen, die die Texte in ihrer jetzigen Gestalt ernst nimmt, so wie Schadewaldt es in seinen Iliasstudien mit dem Homertext getan hat.
Bei der Datierung der gemutmaßten Quelltexte beweist Bieberstein nur, was er ohnedies schon weiß. So macht er aus dem Durchzug durch den Jordan Jos 3 nicht einfach eine „Durchquerung“, sondern er spricht konsequent von „Überschreitung“ (beides wird hebr. durch עבר ʿbr ausgedrückt). Damit wird der Jordan zur politischen Grenze stilisiert, und die Erzählung Jos 3 erhält als terminus post quem den Zeitpunkt, ab dem Israel seine ostjordanischen Gebiete endgültig verloren hatte und somit der Jordan die Ostgrenze Israels war (um 730 v.Chr.). Der symbolische Gehalt der Jordandurchquerung liegt jedoch darin, dass sie den Beginn der Vertreibung der Kanaaniter markiert (3,10f), die ja tatsächlich das Hauptziel der Landnahme ist. Das Wunder besteht darin, dass die Israeliten trotz Frühlinghochwassers (s. die Zeitangaben 4,19; 5,10) trockenen Fußes durch den Jordan kommen. (Heute ist eine Jordandurchquerung im Unterlauf, zumindest im Sommer, keine große Sache, da der Fluss durch massive Wasserentnahmen sehr wasserarm ist und es überdies bei Jericho eine Brücke über den Fluss, die Allenby-Brücke, gibt.) Plausibel ist allerdings, dass die Landnahmeerzählungen dann von besonderem Interesse waren, als das Land zusehends verloren ging und man nach einer theologischen Erklärung für den Landverlust suchte (die vielleicht Jos 24,19f liefert). Möglicherweise wurde Jos also am Ende des 8. Jh. abgefasst.
Wer sich fragt, was der Unterschied zwischen Durchquerung und Überschreitung ist: Caesar hat den Rubicon öfters durch-/überquert, aber nur einmal überschritten. Ein Fluss wird durchquert, eine Grenze wird überschritten.
Meine Übersetzung versucht die kleinteilige Satzstruktur des hebr. Textes nachzuahmen, den Wechsel zwischen finiten Verbformen und Partizipien bzw. Infinitiven. Das macht den dt. Text schwer lesbar. Wer einen lesbaren Text braucht, den verweise ich auf den Bibleserver (s.u. Literaturhinweise und Links).
1 | וִירִיחֹו סֹגֶרֶת וּמְסֻגֶּרֶת מִפְּנֵי בְּנֵי יִשְׂרָאֵל | Und Jericho (war) verschließend [die Tore?] und (war) verschlossen vor den Söhnen Israels. | Gesenius16 schlägt vor, סגרת ו „verschließend und“ als Dittographie zu streichen. |
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אֵין יֹוצֵא וְאֵין בָּא׃ | Nicht ein Herausgehender und nicht ein Hineingehender. | d.h.: Keiner ging heraus, keiner ging hinein. | |
2 | וַיֹּאמֶר יְהוָה אֶל־יְהֹושֻׁעַ | Da sagte JHWH zu Josua: | |
רְאֵה נָתַתִּי בְיָדְךָ אֶת־יְרִיחֹו וְאֶת־מַלְכָּהּ גִּבֹּורֵי הֶחָיִל׃ | Sieh, ich gebe (hiermit) in deine Hand Jericho und seinen König, (und) die tüchtigen Krieger. | „die tüchtigen Krieger“: wörtl. die Starken/ Helden der Kraft/ Tüchtigkeit des Heeres. Das Perf. נָתַתִּי „ich habe gegeben“ ist wohl performativ zu verstehen: indem Gott es zusagt, passiert es. | |
3 | וְסַבֹּתֶם אֶת־הָעִיר כֹּל אַנְשֵׁי הַמִּלְחָמָה | Umkreist also die Stadt, alle Kriegsmänner: | |
הַקֵּיף אֶת־הָעִיר פַּעַם אֶחָת | die Stadt ein Mal umrunden. | ||
כֹּה תַעֲשֶׂה שֵׁשֶׁת יָמִים׃ | So sollst du du es sechs Tage machen. | Die iussivische Bedeutung der Imperfekta dieses Kolons und des V. 4 ergibt sich aus dem Kontext. | |
4 | וְשִׁבְעָה כֹהֲנִים יִשְׂאוּ שִׁבְעָה שֹׁופְרֹות הַיֹּובְלִים לִפְנֵי הָאָרֹון | Und sieben Priester sollen (die) sieben Schofare der Widder vor der Lade tragen. | „der Widder“ = aus Widderhörnern. Ein Schofar ist ein aus einem Widderhorn gemachtes rituelles Musikinstrument. Die (Bundes-)Lade ist eine Kiste aus Akazienholz, innen und außen mit Goldfolie überzogen. Sie hat an jeder Ecke einen Metallring; durch jeweils zwei von ihnen ist eine Akazienholzstange gezogen, mit denen die Lade getragen wird. Am goldenen Deckel sind die zwei einander zugewandten Cherubim mit sich berührenden Flügeln (Ex 37,1-9). |
וּבַיֹּום הַשְּׁבִיעִי תָּסֹבּוּ אֶת־הָעִיר שֶׁבַע פְּעָמִים | Und am siebenten Tag sollt ihr die Stadt sieben Mal umkreisen, | ||
וְהַכֹּהֲנִים יִתְקְעוּ בַּשֹּׁופָרֹות׃ | und die Priester sollen in die Schofare stoßen. | ||
5 | וְהָיָה בִּמְשֹׁךְ בְּקֶרֶן הַיֹּובֵל בְּשָׁמְעֲכֶם אֶת־קֹול הַשֹּׁופָר יָרִיעוּ כָל־הָעָם תְּרוּעָה גְדֹולָה | Und es wird geschehen beim In-die-Länge-ziehen (od. Andauern) mit dem Horn des Widders, wenn ihr hört den Klang des Schofars, soll das ganze Volk ein großes Geschrei schreien. | d.h. beim langgezogenen oder andauernden Klang des Hornes; der anhaltende Dauerton war offenbar das Signal, sich in Bewegung zu setzen (vgl. Ex 19,13 בִּמְשֹׁךְ הַיֹּבֵל הֵמָּה יַעֲלוּ בָהָר „beim Andauern des Widderhorns sollen sie hinaufsteigen auf den Berg“; anders dagegen offenbar Lev 25,9); ist das qæræn haj-jôḇel „Widderhorn“ etwas anderes als die sieben šôp̱rôt haj-jôḇlîm „Widderschofare“ von V. 4a? |
וְנָפְלָה חֹומַת הָעִיר תַּחְתֶּיהָ | Und die Mauer der Stadt wird unter sich einstürzen. | ||
וְעָלוּ הָעָם אִישׁ נֶגְדֹּו׃ | Und das Volk soll hinaufsteigen, jedermann vor sich. | Subj. im Sg., Präd. im Pl. = constructio ad sensum; „vor sich“ = geradeaus |
Luther übersetzt šôp̱ār („Schofar“) mit „Posaune“, jôḇel („Widder(horn)“) mit „Halliar“ = Halljahr, d.i. Erlassjahr, Jubeljahr (das ist die zweite Bedeutung des hebr. Wortes; Duden: „nach dem Hall des Widderhorns, das zu Beginn eines solchen Jahres geblasen wurde“). Die King-James-Übersetzung gibt šôp̱ār mit „trumpet“ wieder.
Gottes Anweisung lautet also (Jos 6,1-5): die Krieger sollen sechs Tage lang, begleitet von sieben Priestern, die vor der Bundeslade hergehen, (schweigend) einmal die Stadt umrunden. (Hier ist nicht die Rede davon, dass die Priester bereits die Schofare blasen sollen.) Am siebenten Tag sollen sie die Stadt sieben Mal umrunden, dann sollen die Priester die Schofare blasen, die Krieger sollen ein lautes Kriegsgeschrei anstimmen. Dann wird die Mauer einstürzen, und die Krieger sollen über die Trümmer hinweg in die Stadt steigen. Man kann sich fragen, welchen Zweck dieses Ritual haben soll. Vermutlich soll das Umrunden der Stadt durch Priester und Bundeslade die Gegenwart JHWHs sinnfällig machen.
6 | וַיִּקְרָא יְהֹושֻׁעַ בִּן־נוּן אֶל־הַכֹּהֲנִים | Da rief Josua, der Sohn Nuns, nach den Priestern. | |
---|---|---|---|
וַיֹּאמֶר אֲלֵהֶם | Und er sagte zu ihnen: | ||
שְׂאוּ אֶת־אֲרֹון הַבְּרִית | Tragt die Bundeslade! | ||
וְשִׁבְעָה כֹהֲנִים יִשְׂאוּ שִׁבְעָה שֹׁופְרֹות יֹובְלִים לִפְנֵי אֲרֹון יְהוָה׃ | Und sieben Priester sollen sieben Schofare von Widdern tragen vor der Lade JHWHs. | vgl. V. 4a | |
7 | וַיֹּאמֶרו אֶל־הָעָם | Und er sagte zum Volk: | Die gedruckte Ausg. der BHS hat nach dem Qere die Vokale der 3. Pers. Sg. (vgl. LXX: καὶ εἶπεν αὐτοῖς λέγων „und er sprach zu ihnen und sagte“), die Online-Ausg. vokalisiert hingegen nach dem Ketiv וַיֹּאמְרוּ, d.i. die 3. Pl. „und sie [d.i. wohl die Priester] sagten“. Aber vgl. 8a. |
עִבְרוּ וְסֹבּוּ אֶת־הָעִיר | Geht hin(über) und umkreist die Stadt. | ||
וְהֶחָלוּץ יַעֲבֹר לִפְנֵי אֲרֹון יְהוָה׃ | Und der Gerüstete soll hin(über)ziehen vor der Lade JHWHs. | „der Gerüstete“ = diejenigen, die gerüstet sind, d.h. die Kämpfer (LXX: οἱ μάχιμοι „die Kriegerischen, die Kampffähigen“ [i.Ggs. zum Tross]) | |
8 | וַיְהִי כֶּאֱמֹר יְהֹושֻׁעַ אֶל־הָעָם | Und es geschah, als Josua zum Volk geredet hatte: | כְּ „wie, als“ + Inf. sagt nichts über das Zeitverhältnis, es muss aus dem Kontext erschlossen werden, hier kann es wohl nur vorzeitig sein. |
וְשִׁבְעָה הַכֹּהֲנִים נֹשְׂאִים שִׁבְעָה שֹׁופְרֹות הַיֹּובְלִים לִפְנֵי יְהוָה | die sieben Priester (waren) tragend die sieben Schofare der Widder vor JHWH, | ||
עָבְרוּ וְתָקְעוּ בַּשֹּׁופָרֹות | sie zogen hin(über) und stießen in die Schofare, | ||
וַאֲרֹון בְּרִית יְהוָה הֹלֵךְ אַחֲרֵיהֶם׃ | und die Lade des Bundes JHWHs (war) gehend hinter ihnen. | ||
9 | וְהֶחָלוּץ הֹלֵךְ לִפְנֵי הַכֹּהֲנִים | Und der Gerüstete (war) gehend vor den Priestern. | vgl. V. 7c |
תָּקְעוּ הַשֹּׁופָרֹות | Sie bliesen die Schofare. | Wer? Doch wohl die Priester (Wiederholung von V. 8c)? Bieberstein nimmt aber hæ-ḥālûṣ „der Gerüstete“ (d.i. hier die Vorhut) von V. 9a als Subjekt an. | |
וְהַמְאַסֵּף הֹלֵךְ אַחֲרֵי הָאָרֹון | Und der den Zug Beschließende (war) gehend hinter der Lade. | d.h. die den Zug beschlossen, Luther: „das übrige Volk“, LXX: οἱ ἱερεῖς οἱ οὐραγοῦντες „die die Nachhut bildenden Priester“ | |
הָלֹוךְ וְתָקֹועַ בַּשֹּׁופָרֹות׃ | Und fortwährend in die Schofare stoßen (d.h. man stieß fortw.). | Der Inf. abs. sagt nichts über die Person, daher übersetzen Luther und Elberfelder „man“. | |
10 | וְאֶת־הָעָם צִוָּה יְהֹושֻׁעַ לֵאמֹר | Und dem Volk hatte Josua befohlen: | |
לֹא תָרִיעוּ וְלֹא־תַשְׁמִיעוּ אֶת־קֹולְכֶם | Ihr sollt nicht schreien, und ihr sollt eure Stimme nicht hören lassen, | vgl. V. 5a | |
וְלֹא־יֵצֵא מִפִּיכֶם דָּבָר עַד יֹום אָמְרִי אֲלֵיכֶם הָרִיעוּ וַהֲרִיעֹתֶם׃ | und aus eurem Mund soll nicht ein Wort herausgehen, bis zu dem Tag, da ich zu euch sage: Schreit! Und (dann) schreit ihr! |
Josua gibt die Anweisung des Gottesboten an Priester und Volk weiter. In diese Weitergabe (V. 6f.10) mischt sich bereits der Bericht über die Ausführung (V. 8f). Die Priester ziehen vor der Bundeslade her und blasen (anscheinend abweichend vom in V. 4 gegegebenen Auftrag) die Schofare. Vor den Priestern gehen die gerüsteten Kämpfer, hinter der Bundeslade das übrige, ungerüstete Volk. Das Volk soll schweigen, bis es von Josua den Befehl zum Schreien erhält. (Steht das im Widersprucht zu V. 5a, wo Gott anordnet, dass das Volk ein lautes Geschrei anstimmen soll, sobald es den Schofarklang hört?)
11 | וַיַּסֵּב אֲרֹון־יְהוָה אֶת־הָעִיר הַקֵּף פַּעַם אֶחָת | Und er ließ die Lade JHWHs die Stadt umkreisen, umrunden ein Mal. | der M hat als Hiphil vokalisiert, viele verstehen aber (sinngemäß) ein Qal: „und die Lade JHWHs umkreiste die Stadt“ (als ob וַיָּ֫סָב zu vokalisieren wäre). Auch die LXX hat die Bundeslade als Subjekt: καὶ περιελθοῦσα ἡ κιβωτὸς […] τὴν πόλιν „und die Lade […] umgangen habend die Stadt“ (das Pt. Aor. wohl vorzeitig). |
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וַיָּבֹאוּ הַמַּחֲנֶה | Und sie kamen zum Lager (zurück). | ||
וַיָּלִינוּ בַּמַּחֲנֶה׃ | Und sie übernachteten im Lager. | ||
12 | וַיַּשְׁכֵּם יְהֹושֻׁעַ בַּבֹּקֶר | Und Josua machte sich früh am Morgen auf. | |
וַיִּשְׂאוּ הַכֹּהֲנִים אֶת־אֲרֹון יְהוָה׃ | Und die Priester trugen die Lade JHWHs. | ||
13 | וְשִׁבְעָה הַכֹּהֲנִים נֹשְׂאִים שִׁבְעָה שֹׁופְרֹות הַיֹּבְלִים לִפְנֵי אֲרֹון יְהוָה | Und die sieben Priester (waren) tragend die sieben Schofare der Widder vor der Lade JHWHs. | |
הֹלְכִים הָלֹוךְ וְתָקְעוּ בַּשֹּׁופָרֹות | Gehend stießen sie fortwährend in die Schofare. | Es ist nicht ganz klar, wohin man „gehend“ zu ziehen hat:
zum Tragen der Schofare (voriges Kolon) oder zum Blasen der Schofare. Die
Elberfelder tut letzteres („stießen im Gehen immerfort in die Hörner“),
ebenso Menge, Luther lässt es unter den Tisch fallen. LXX: καὶ οἱ ἱερεῖς ἐσάλπισαν ταῖς σάλπιγξι „und die Priester trompeteten mit den Posaunen“. |
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וְהֶחָלוּץ הֹלֵךְ לִפְנֵיהֶם | Und der Gerüstete (war) gehend vor ihnen. | ||
וְהַמְאַסֵּף הֹלֵךְ אַחֲרֵי אֲרֹון יְהוָה | Und der den Zug Beschließende (war) gehend hinter der Lade JHWHs. | ||
הֹולֵךְ וְתָקֹועַ בַּשֹּׁופָרֹות׃ | Man stieß fortwährend in die Schofare. | ||
14 | וַיָּסֹבּוּ אֶת־הָעִיר בַּיֹּום הַשֵּׁנִי פַּעַם אַחַת | Und sie umkreisten die Stadt am zweiten Tag ein Mal. | |
וַיָּשֻׁבוּ הַמַּחֲנֶה | Und sie kehrten zum Lager zurück. | ||
כֹּה עָשׂוּ שֵׁשֶׁת יָמִים׃ | So taten sie sechs Tage (lang). |
Es wird ziemlich viel gegangen und ziemlich viel in die Schofare geblasen. Das klingt anstrengend und langweilig zugleich. Doch die Bundeslade, und damit die Präsenz JHWHs, zieht mit.
Der Tell es-Sultan hat heute eine Ausdehnung von ca. 350 m in N-S-Richtung und 150 m in W-O-Richtung. Sein Umfang beträgt etwas über 900 m. Allerdings schneidet die Straße in den östlichen Abhang des Tells und trennt diesen von der Quelle. Auch ist nicht klar, ob man sich die Stadt auf den Tell beschränkt vorzustellen hat. Doch wird – mit einem gewissen Sicherheitsabstand – eine Umrundung in 20 bis 30 Minuten zu schaffen gewesen sein.
15 | וַיְהִי בַּיֹּום הַשְּׁבִיעִי | Und es geschah am siebenten Tag: | |
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וַיַּשְׁכִּמוּ כַּעֲלֹות הַשַּׁחַר | Und sie machten sich früh auf, als die Morgenröte anbrach. | ||
וַיָּסֹבּוּ אֶת־הָעִיר כַּמִּשְׁפָּט הַזֶּה שֶׁבַע פְּעָמִים | Und sie umkreisten die Stadt in dieser Weise sieben Mal. | ||
רַק בַּיֹּום הַהוּא סָבְבוּ אֶת־הָעִיר שֶׁבַע פְּעָמִים׃ | Nur an jenem Tag umkreisten sie die Stadt sieben Mal. | ||
16 | וַיְהִי בַּפַּעַם הַשְּׁבִיעִית | Und es geschah beim siebenten Mal: | |
תָּקְעוּ הַכֹּהֲנִים בַּשֹּׁופָרֹות | Die Priestern hatten in die Schofare gestoßen. | Das Pf. ist vorzeitig wiedergegeben, weil es auf ein wa-jhî „und es geschah“ folgt und somit den Erzählgang unterbricht, der erst mit waj-jômær „und er sagte“ wieder aufgenommen wird. | |
וַיֹּאמֶר יְהֹושֻׁעַ אֶל־הָעָם הָרִיעוּ | Und Josua sagte zum Volk: Schreit! | ||
כִּי־נָתַן יְהוָה לָכֶם אֶת־הָעִיר׃ | Denn JHWH hat euch die Stadt gegeben. | ||
17 | וְהָיְתָה הָעִיר חֵרֶם הִיא וְכָל־אֲשֶׁר־בָּהּ לַיהוָה | Und die Stadt soll Banngut für JHWH sein, sie (selbst) und alles, was in ihr ist. | Zum Bann s.u. V. 21 |
רַק רָחָב הַזֹּונָה תִּחְיֶה הִיא וְכָל־אֲשֶׁר אִתָּהּ בַּבַּיִת | Nur die Hure Rahab soll leben, sie (selbst) und alle, die mit ihr im Haus sind. | ||
כִּי הֶחְבְּאַתָה אֶת־הַמַּלְאָכִים אֲשֶׁר שָׁלָחְנוּ׃ | Denn sie hat die Boten versteckt, die wir geschickt hatten. | ||
18 | וְרַק־אַתֶּם שִׁמְרוּ מִן־הַחֵרֶם פֶּן־תַּחֲרִימוּ וּלְקַחְתֶּם מִן־הַחֵרֶם וְשַׂמְתֶּם אֶת־מַחֲנֵה יִשְׂרָאֵל לְחֵרֶם וַעֲכַרְתֶּם אֹותֹו׃ | Nur ihr hütet euch vor dem Banngut, damit ihr nicht bannt und nehmt von dem Banngut und macht das Lager Israels zum Banngut und stürzt es ins Unglück. | שׁמר bedeutet im Qal „jmd. bewahren, beschützen“, die reflexive Bedeutung „sich hüten (vor)“ eignet dem Niphal; daher ist wohl statt שִׁמְרוּ Ni. Imptv. הִשָּׁמְרוּ zu lesen. Statt „damit ihr nicht bannt“ übersetzen manche nach der LXX (ἐνθυμηθέντες „nachdenkend, sich zu Herzen nehmend“), als ob תַּחְמְדוּ (vgl. 7,21) „damit ihr nicht begehrt“ o.ä. stünde. |
19 | וְכֹל כֶּסֶף וְזָהָב וּכְלֵי נְחֹשֶׁת וּבַרְזֶל קֹדֶשׁ הוּא לַיהוָה | Und alles Silber und Gold und Gerät von Bronze und Eisen: heilig (sei) es JHWH; | |
אֹוצַר יְהוָה יָבֹוא׃ | in den Schatz JHWHs soll es kommen. |
20 | וַיָּרַע הָעָם | Und das Volk schrie. | |
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וַיִּתְקְעוּ בַּשֹּׁפָרֹות | Und sie stießen in die Schofare. | Wer? Doch wohl die Priester. So auch die LXX: καὶ ἐσάλπισαν ταῖς σάλπιγξιν οἱ ἱερεῖς „und die Priester trompeteten mit den Posaunen“. Bieberstein nimmt das Volk von V. 20a als Subjekt an. | |
וַיְהִי כִשְׁמֹעַ הָעָם אֶת־קֹול הַשֹּׁופָר | Und es geschah, als das Volk den Klang des Schofars hörte: | ||
וַיָּרִיעוּ הָעָם תְּרוּעָה גְדֹולָה | Und das Volk schrie ein großes Geschrei. | vgl. V. 5a; constructio ad sensum wie V. 5c | |
וַתִּפֹּל הַחֹומָה תַּחְתֶּיהָ | Und die Mauer stürzte unter sich ein. | vgl. V. 5b | |
וַיַּעַל הָעָם הָעִירָה אִישׁ נֶגְדֹּו | Und das Volk stieg hinauf in die Stadt, jedermann vor sich. | ||
וַיִּלְכְּדוּ אֶת־הָעִיר׃ | Und sie nahmen die Stadt ein. | ||
21 | וַיַּחֲרִימוּ אֶת־כָּל־אֲשֶׁר בָּעִיר מֵאִישׁ וְעַד־אִשָּׁה מִנַּעַר וְעַד־זָקֵן וְעַד שֹׁור וָשֶׂה וַחֲמֹור לְפִי־חָרֶב׃ | Und sie bannten alles, was in der Stadt war, von Mann bis Frau, von Jung bis Alt und bis Rind und Schaf und Esel, mit der Schärfe des Schwertes. | „bannen“ bedeutet: vernichten, töten. Die Soldaten machen keine Beute und keine Gefangenen, sondern überantworten alles Lebendige, Mensch und Vieh, durch Vernichtung an Gott. Nach V. 19 kommen Gold und Silber in den Schatz des JHWH-Heiligtums. |
Mit seinen kurzen, am Schluss fast stakkatoartigen Kola, und dem refrainartig wiederholten „sie stießen in die Schofare“ erinnert der Text fast ein bisschen an Poetry Slam. Es ist nicht klar, was der Unterschied ist zwischen dem Schreien des Volkes in V. 20a (auf den Befehl Josuas in V. 16c hin) und dem Schreien in V. 20d nach dem Ertönen des Schofarklanges. Außerdem versteht Bieberstein den Text so, dass nicht nur die Priester, sondern auch die Vorhut („der Gerüstete“) und sogar das Volk Schofare blies. Doch das wird nirgends ausdrücklich gesagt. Aufgrund des Kontextes muss man zwischen V. 9a-b und zwischen V. 20a-b einen Subjektswechsel annehmen. (Das ist für atl. Texte nicht ungewöhnlich, vgl. V. 23-24a.)
Warum stürzt die Mauer ein? Der Jordangraben ist eine stark erdbebengefährdete Zone. Was liegt also näher, als an ein Erdbeben zu denken?
22 | וְלִשְׁנַיִם הָאֲנָשִׁים הַמְרַגְּלִים אֶת־הָאָרֶץ אָמַר יְהֹושֻׁעַ | Und zu den zwei Männern, die das Land auskundschaftet hatten, hatte Josua gesagt: | Das Pf. vorzeitig übersetzt, weil es zwischen zwei Sätze im Narrativ eingeschoben ist. |
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בֹּאוּ בֵּית־הָאִשָּׁה הַזֹּונָה | Geht zum Haus der Hure | ||
וְהֹוצִיאוּ מִשָּׁם אֶת־הָאִשָּׁה וְאֶת־כָּל־אֲשֶׁר־לָהּ | und bringt von dort heraus die Frau und alles, was ihr gehört, | ||
כַּאֲשֶׁר נִשְׁבַּעְתֶּם לָהּ׃ | wie ihr (es) ihr geschworen habt. | ||
23 | וַיָּבֹאוּ הַנְּעָרִים הַמְרַגְּלִים | Und die jungen Männer, die auskundschaftet hatten, gingen hin. | |
וַיֹּצִיאוּ אֶת־רָחָב וְאֶת־אָבִיהָ וְאֶת־אִמָּהּ וְאֶת־אַחֶיהָ וְאֶת־כָּל־אֲשֶׁר־לָהּ | Und sie führten heraus Rahab und ihren Vater und ihre Mutter und ihre Brüder und alles, was ihr gehörte. | ||
וְאֵת כָּל־מִשְׁפְּחֹותֶיהָ הֹוצִיאוּ | (Und alle ihre Sippschaften haben sie herausgeführt.) | Das Pf. ist wieder zwischen zwei Sätze im Narrativ eingeschoben, doch kann es im Kontext nicht vorzeitig sein. | |
וַיַּנִּיחוּם מִחוּץ לְמַחֲנֵה יִשְׂרָאֵל׃ | Und sie brachten sie unter außerhalb des Lagers Israels. | ||
24 | וְהָעִיר שָׂרְפוּ בָאֵשׁ וְכָל־אֲשֶׁר־בָּהּ | Und die Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was in ihr war. | |
רַק הַכֶּסֶף וְהַזָּהָב וּכְלֵי הַנְּחֹשֶׁת וְהַבַּרְזֶל נָתְנוּ אֹוצַר בֵּית־יְהוָה׃ | Jedoch das Silber und das Gold und das Gerät aus Bronze und Eisen gaben sie in den Schatz des Hauses JHWHs. | ||
25 | וְאֶת־רָחָב הזֹּונָה וְאֶת־בֵּית אָבִיהָ וְאֶת־כָּל־אֲשֶׁר־לָהּ הֶחֱיָה יְהֹושֻׁעַ | Und die Hure Rahab und das Haus ihres Vaters und alles, was ihr gehörte, ließ Josua am Leben. | |
וַתֵּשֶׁב בְּקֶרֶב יִשְׂרָאֵל עַד הַיֹּום הַזֶּה | Und sie wohnte mitten in Israel bis zu diesem (=zum heutigen) Tag. | ||
כִּי הֶחְבִּיאָה אֶת־הַמַּלְאָכִים אֲשֶׁר־שָׁלַח יְהֹושֻׁעַ לְרַגֵּל אֶת־יְרִיחֹו׃ | Denn sie hatte die Boten versteckt, die Josua geschickt hatte, um Jericho auszukundschaften. |
Wie in Kap. 2 versprochen, wird Rahab mit ihrer Familie von der Vollstreckung des Banns verschont. Als Kanaaniterin und „Hure“ darf sie natürlich nicht im Kriegslager leben. Doch kann sie später im Lande Israel wohnen. Das wird von vielen Theologen anscheinend als Ätiologie dafür gesehen, warum die nicht-israelitische Sippe Rahabs in Jericho wohnte. Nach atl. Überlieferung war Jericho seit der Richterzeit wieder besiedelt (s. Ri 3,13; 2Sam 10,5; 1Kön 16,34). Im 6. Jh. wurde es von den Babyloniern erneut zerstört. In pers. Zeit wurde der Tell es-Sultan schließlich weitgehend aufgegeben. Das ntl. Jericho lag etwa 2 km südwestlich des alten Siedlungshügel am Wadi el-Qelt (heute Tulûl ʾAbû l-ʿAlâjiq).
Finkelstein/Silberman wollen zeigen, dass die Landnahmeerzählung (und eigentlich auch die Tora) im späten 7. Jh. v.Chr. unter König Josia entstanden ist, der sich damit als neuer Josua (Eroberer Israels) empfehlen und seinen panisraelitischen Herrschaftsanspruch (ein geeintes Israel unter der Herrschaft des in Jerusalem residierenden judäischen Königs) untermauern wollte. Dieser Absicht alles unterordnend stellt das Autorenduo viele Dinge einseitig und verzerrt dar und stellt viele unbewiesene Behauptungen auf, meist unzureichend abgemildert durch „könnte“, „dürfte“, „(wird) wohl“, von deren Faktizität aber im weiteren nichtsdestoweniger ausgegangen wird. Dass es zu vielen Themen (z.B. dem Feldzug in Gen 14) eine Fülle an Detailliteratur gibt, die zeigt, wie komplex die Sachverhalte in Wahrheit sind, wird schlicht übergangen. (Wer nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.)
Zweifelsohne Recht haben die Autoren mit ihrer (allerdings nicht neuen) Behauptung, dass die fraglichen Bibeltexte in ihrer heutigen Form die Interessen und den Kenntnisstand der Königszeit widerspiegeln. Das zeigen schon die fraglosen Anachronismen wie die Nennung von Philistern zur Zeit Abrahams oder wohl auch die Erwähnung von Kamelen.
Der literarische, beschwörend-repetitive Charakter der Eroberungserzählung besagt noch nichts über die Historizität des beschriebenen Ereignisses. Wenn Finkelstein/Silberman zum Richterbuch schreiben „Hier geht es um Theologie, nicht um Geschichte“ (S. 137), dann zeigt das ein tendenziöses Missverständnis theologischer Geschichtsdeutung. Denn jede Geschichtsschreibung ist Geschichtsdeutung (s. #Auch Klio dichtet). Aber Jos und Ri sind nicht Geschichtsschreibung im modernen Sinn (s. #Historiographisches Bewusstsein). Sie geben Überlieferungen weiter, über deren Quellen und deren historischen Wert sich nichts mehr sagen lässt. Sie in Bausch und Bogen abzutun mit der Behauptung, die theologische Deutung habe sich erst Hunderte von Jahren nach den vorgeblichen Ereignissen entwickelt (S. 137), ist unseriös. (Auch wenn das heute die communis opinio zu sein scheint.) Denn das wissen wir in Wahrheit nicht.
Was sich über Jericho sicher sagen lässt, ist, dass nach dem derzeitigen archäologischen Kenntnisstand eine Eroberung der Stadt durch die Israeliten in der Spätbronzezeit nicht bestätigt werden kann. Ob das bereits platterdings als Beweis gegen eine solche Eroberung genommen werden kann, wie das die biblischen Minimalisten mit großer Selbstverständlichkeit tun, kann ich als Nicht-Archäologe schwer beurteilen.
Wenn der aktuelle Forschungsstand recht hat, stellt sich die Frage, wie die Eroberungserzählung zustande gekommen ist. Woher wussten die Israeliten von der Existenz der (in Wahrheit mittelbronzezeitlichen) Mauern? Waren die in der Eisenzeit nicht längst verschwunden? Muss die Erzählung nicht in einer Zeit entstanden sein, als man die umgestürzten Mauern noch sah? Wann war das?
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 30. Juli 2023