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Klippschliefer oder Hirsch?


Im Blogeintrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Genf vom 7. Mai 2020 erzählt Pfarrer Matthias Burghardt eine Anekdote, die seiner Erinnerung nach von dem bekannten Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen stammt. Es geht in ihr um Ps 42,2, der nach Luther so laute: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so dürstet meine Seele nach dir, o Gott.“ Ein baltischer Pfarrer habe im Freundeskreis die Ergebnisse der historischen Bibelforschung dazu wie folgt referiert:


Klippschliefer (Procavia capensis, ältere Bezeichnung: Hyrax syriacus) in Südafrika.– Quelle: Wikimedia (ursprl. Flickr).– Urheber: Bernard DUPONT, 2012.– Lizenz: CC BY-SA 2.0.– Bearbeitung: verkleinert, geringfügig beschnitten, leicht aufgehellt.

Rothirschkuh (Cervus elaphus, Weibchen) in der Nähe von Chemnitz.– Quelle: Wikimedia.– Urheber: Jörg Hempel, 2011.– Lizenz: CC BY-SA 3.0.– Bearbeitung: verkleinert, etwas beschnitten, horizontal gespiegelt.

Mithin müsste der Vers wissenschaftlich korrekt so übersetzt werden: „Wie der Klippschliefer nach denaturiertem Naphta fiept, so hechelt mein Schlund nach dir, o Gott.“ – Aber wie solle man das der Gemeinde klarmachen?

Das ist natürlich nur eine Anekdote, aber ich möchte dennoch hoffen, dass kein Bibelwissenschaftler so einen Mist behauptet.

Der hebr. Text lautet: כְּאַיָּל תַּעֲרֹג עַל־אֲפִיקֵי־מָיִם כֵּן נַפְשִׁי תַעֲרֹג אֵלֶיךָ אֱלֹהִים.

Eine einigermaßen wörtliche Wiedergabe des Psalmverses wäre: „Wie ein Hirsch lechzt nach Bächen von Wasser, so lechzt meine Seele nach dir, Gott.“

Die Anekdote ist zwar amüsant, aber inhaltlich ziemlich falsch. Man muss gegenüber Behauptungen, der Bibeltext bedeute im hebr. oder griech. Original eigentlich etwas anderes, das sei falsch übersetzt usw., immer misstrauisch sein. Dabei will ich nicht verkennen, dass in dem einen oder anderen Fall die historischen Wissenschaften eine Klärung gebracht haben (z.B. bei der Entdeckung, was ein Pim ist, oder bei der Identifikation des Einhorns). In vielen Fällen wurde aber auch nur eine Vermutung durch eine andere, die auch nicht viel besser ist, ersetzt (z.B. bei der angeblichen Mauer aus Zinn oder beim ominösen Tachasch, den Luther – sicher falsch – als „Dachs“ übersetzte). S. dazu auch die Links unten. Mir ist klar, dass Pfarrer Burghardt, der die Geschichte nur weitergibt, Dringenderes zu tun hat, als im hebr. Urtext nachzuschauen. Aber gerade in Zeiten von fake news und hemmungslosem Bullshitting (Stichwort flat earth) möchte man sich auf das, was ein Pfarrer zur Bibel sagt, schon verlassen können. Auch wenn sich, wie in diesem Fall, an der prinzipiellen Aussage des Textes nichts ändert (wie ein Tier sich nach etwas zu trinken sehnt, sehnt sich der Beter nach Gott).

Was tut man als Laie, der der biblischen Sprachen nicht mächtig ist? Mein bester Rat ist: sie lernen. Mein zweitbester: in ein oder zwei weiteren Bibelübersetzungen nachschauen. Wenn da im Prinzip das gleiche steht, darf man davon ausgehen, dass dies das allgemein akzeptierte Textverständnis ist. Weitere Seiten von mir zu diesem Thema sind u.a.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 28. Mai 2020